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XVII.

General von Sprendlingen war begraben, und in der Residenz wurde nur ein einziges Thema besprochen: die finanzielle Lage seiner Gattin und Tochter.

Wie ein Lauffeuer war es durch die Stadt gegangen, daß der alte Herr infolge einer ungeheuren Aufregung den Schlaganfall erlitten hatte.

Viele behaupteten, es sei längst kein Geheimnis mehr gewesen, daß der pensionierte Offizier spekuliert hatte, um den Ausfall des hohen Gehaltes durch reichere Zinsen auszugleichen.

In der Villa Monrepos vollzog sich voll grausamer Hast und Nüchternheit die traurige Wandlung, die derartigen Ereignissen zu folgen pflegt. Die notwendige Auktion hatte stattgefunden, und die Damen bereiteten sich zur Abreise vor, denn da sie über keine weiteren Mittel als die karge Witwenpension verfügten, schien es fraglich, ob sie ein eigenes Heim in der Residenz gründen konnten. Vorläufig folgten sie der Einladung einer kinderlosen Verwandten, die Frau von Sprendlingen und Gabriele für die Dauer des Trauerjahres zu sich gebeten hatte.

Zum letztenmal saßen Mutter und Tochter in den liebgewordenen Räumen, in denen sie so viele glückliche Jahre verlebt hatten, beisammen.

Tränen tiefster Hoffnungslosigkeit glänzten in den Augen der verwitweten Frau, und als Gabriele an ihre Seite trat, zärtlich den Arm um die Weinende zu legen, da schluchzte sie laut auf und flüsterte: »Ach, meine arme, arme Gabriele! Was soll nun aus dir werden?«

Das junge Mädchen sah in all dem Leid so verklärt und ruhig aus, als sei ihr nie ein Zweifel an dem Glück der Zukunft gekommen. »Er liebt mich, Mama.«

»Wer?«

»Hans Heidler! Oh, Mütterchen, du ahnst es ja nicht, wieviel liebe Worte er mir noch auf dem letzten Hofball sagte, wie er mir die Hand drückte, wie unaussprechlich viel mir sein Auge gestand!«

»Sein Auge, aber nicht seine Zunge«, murmelte Frau von Sprendlingen bitter. »Gabriele, glaubst du wahrlich, daß Heidler je an eine Heirat gedacht hat und daß er sogar jetzt noch daran denkt?«

»Ja, ich glaube es, ich weiß es bestimmt. Ein Mann, der so ritterlich, so heldenhaft, so edel ist wie Hans, der betrügt kein Mädchenherz.«

Das scharfe Klingeln der Hausglocke drang zu ihnen herauf; Gabriele zuckte mit leuchtenden Augen empor, und auch die Baronin blickte wie in jäher Hoffnung nach der Tür. Nach wenigen Minuten stand der Portier auf der Schwelle, er hielt einen köstlichen Strauß von Orchideen und Tuberosen sowie eine Visitenkarte in der Hand.

»Eine schöne Empfehlung von dem Herrn Leutnant von Heidler. Er ließe den Damen herzlichst Lebewohl sagen und eine glückliche Reise wünschen. Der Herr Leutnant wäre gern selber noch gekommen, er ist aber zu seinem großen Bedauern verhindert.«

Da die beiden Damen bleich und schweigend vor ihm standen und sich keine Hand hob, den Strauß in Empfang zu nehmen, legte ihn der Sprecher seitlich auf den Tisch.

»Es ist nämlich die Schlittenpartie heute, die der Herr Oberleutnant arrangierte«, fuhr er fort, mehr aus Verlegenheit als aus Geschwätzigkeit, »der Enkelin des Herrn Ministers zu Ehren. Der Herr Oberleutnant ist jetzt beinah alle Tage da im Haus. Die Fräulein Enkelin soll ja wohl steinreich sein, darum gibt's so ein Fest ums andere. Ja, und was ich noch sagen wollte, Frau Baronin, die Koffer werden morgen früh schon um sechs Uhr abgeholt.«

»Ich danke Ihnen, Hartlich. Die Koffer stehen auf dem Flur bereit. Guten Abend.«

Der Portier verbeugte sich und ging.

Als sich die Tür geschlossen hatte, breitete Frau von Sprendlingen schweigend die Arme nach ihrer Tochter aus, und Gabrieles Köpfchen sank wie eine sturmgebrochene Blüte an die Brust der Mutter.

Und dann hob sie plötzlich das Haupt und blickte mit herzzerreißendem Lächeln empor.

»Ich kann es nicht glauben, daß er nicht mehr kommen wollte, Mama. Es ist ja ganz unmöglich, daß diese meine herrlichste Idealgestalt so kläglich in Dunst und Nebel zerrinnt!«

Frau von Sprendlingen küßte die Stirn ihrer Tochter und wiederholte nur leise: »O du armes, armes Kind!« Dann wandte sie sich zur Tür, in der das Stubenmädchen erschien und mit betrübtem Gesicht die gnädige Frau um ihr Abgangszeugnis bat. Gabriele blieb allein.

Sie stand am Fenster und starrte mit erloschenem Blick auf die stille winterliche Straße hinab. Schlittengeklingel ertönte von fern und näherte sich in flottem Tempo.

Gabriele schrak empor, neigte sich vor und starrte mit weitoffenen Augen hinab. Die Schlittenpartie!

Da flogen sie heran, die Rosse mit den bunten, lustig flatternden Schneedecken, da klingelten und rasselten die Schellen durch die schmetternden Musikklänge, und die ersten Schlitten mit den Trompeten jagten vorüber. Dann als erster an der Spitze der Jugend Hans von Heidler neben Fräulein Henny von Larsen. Sie verschwindet beinahe in dem mächtigen Pelz, ihr spitzes Gesicht ist dem Dragoner zugekehrt, und dieser neigt sich ihr so vertraut und keck zu, wie es seine siegesbewußte Art ist, und lächelt der Kleinen »tief in die Seele«.

Oh, Gabriele kennt dieses Lächeln. Ihr Herzschlag stockt, sie neigt sich noch weiter vor und starrt hinab. Er hat weder Blick noch Gedanken mehr für die öde, verlassene Villa, in die über Nacht die Armut eingezogen ist. Der Schlitten fliegt vorüber, ohne daß Herr von Heidler Zeit gefunden hat, einen einzigen Blick nach dem Fenster emporzuwerfen, hinter dem das bleiche, liebliche Mädchen steht, dem noch vor wenigen Wochen seine leidenschaftlichen Huldigungen galten.

*

Ein Jahr war vergangen. Frau von Sprendlingen lebte mit ihrer Tochter fernab der Residenz im einsamen Landhaus der Tante, die viel zu schrullenhaft, unliebenswürdig und schroff war, um den beiden verlassenen Frauen auf die Dauer ein behagliches Heim bieten zu können. Mutter und Tochter hatten schweren Herzens beschlossen, sich zu trennen. Frau von Sprendlingen konnte zur Not von ihrer Witwenpension leben, wenn Gabriele ein anderes Unterkommen fand.

Dieses aber fand sich trotz eifrigster Bemühungen nicht. Die Stelle einer Hofdame, die die Herzogin für sie an befreundetem Hof erhofft hatte, war gegen alles Erwarten anderweitig besetzt, andere Aussichten zerschlugen sich ebenfalls.

Da las Frau von Sprendlingen eines Tages in einer Frauenzeitung eine sehr annehmbar erscheinende Offerte. Eine ältere Dame auf dem Land suchte ein junges, liebenswürdiges und heiteres Mädchen aus vornehmer Familie zur Gesellschafterin. Die Einsendung einer Fotografie war zur Bedingung gemacht.

Die Baronin las Gabriele die Anzeige vor, und beide blickten sich in stummem, wehmütigem Einverständnis in die Augen. Zur selben Stunde noch schickte Frau von Sprendlingen Gabrieles Bild an die angegebene Chiffre ab.

Ernst und still blickte Gabriele in den leuchtenden Frühlingsmorgen hinaus. Wird eine Antwort kommen? Wird sie die Stelle erhalten? Ach, ihr Schicksal, ihre Zukunft sind ihr so gleichgültig geworden. Seit sie, kaum drei Wochen nach ihrem Scheiden aus der Residenz, Herrn von Heidlers Verlobung mit Henny, der reichen Erbin, las und sehr bald danach durch den Brief einer Freundin aus der Heimat erfuhr, daß die Hochzeit des schneidigen Dragoners trotz der großen Jugend der Braut schon in den ersten Tagen des Mai stattfinden solle, war die Welt leer und tot für sie geworden.

Als Guntram Krafft so unvermutet schnell nach Hohen-Esp zurückgekehrt war, ruhten die Augen der Gräfin voll bangen Forschens auf dem ernsten Antlitz des Sohnes, als könne sie die Gedanken hinter seiner Stirn lesen und auch die Gründe erforschen, die ihn so plötzlich heimgetrieben hatten.

»Warum kommst du schon jetzt zurück, Guntram Krafft? Ist dir etwas Unangenehmes begegnet?«

Er blickte ihr, ganz gegen seine Gewohnheit, nicht in die Augen.

»Wenn du alle gescheiterten Hoffnungen betreffs einer eigenen Rettungsstation unangenehm nennst, dann freilich ist mir viel Unangenehmes begegnet.«

»Und nur darum bist du Hals über Kopf abgereist?«

Er antwortete nicht direkt auf diese Frage, sondern er strich sich langsam die blonden Haare aus der Stirn.

»Ich bekam Heimweh, Mutter«, sagte er leise mit einem beinahe schwermütigen Klang in der Stimme. »Ich kam mir so überflüssig, so vereinsamt dort vor. Ihre Interessen sind nicht die meinen, ihre Sitten und Ansichten sind neu, die meinen alt. Ich verstehe das Tanzen und Plaudern gar nicht oder doch sehr schlecht im Vergleich zu den anderen Herren. Die Leute waren nicht unfreundlich zu mir, aber auch nicht so, daß ich mich tatsächlich unter ihnen wohlgefühlt hätte. Dazu wehte der Sturm so vorwurfsvoll daher und mahnte mich, daß es gerade jetzt viel ernste Arbeit daheim gäbe. Da hielt es mich nicht länger. Ich sehnte mich heim zu dir, Mutter; hier ist mein Platz! Du hast mich lieb ... gleichviel, wie ich bin.«

Die letzten Worte klangen noch leiser und wehmütiger als zuvor, und Gundula trat neben seinen Sessel und drückte voll weicher Innigkeit das Haupt des Sohnes an die Brust.

Die anfänglich so schwermütige Stimmung des jungen Grafen schwand von Tag zu Tag. Der Sturm heulte und schien nur auf die Rückkehr Guntram Kraffts gewartet zu haben, um seine gewaltige Kraft mit der des Bären zu messen.

Da gab es keine müßige Zeit mehr, da war es vorbei mit dem wehmütigen Sinnen und Grübeln. Täglich fast gab es schwere Arbeit.

Schiff in Not! Und der Bär von Hohen-Esp reckte voll kühnen Muts die Pranken, scharte seine Getreuen um sich und warf sich in tollem Wagemut gegen die brandende Flut, der Tiefe ihre Opfer zu entreißen.

Die Kälte wurde von Tag zu Tag grimmiger, im Hamelwaat knirschte das Eis. Das war die böseste Zeit. Zwei Tage lang lag der Nebel dick und fest wie ein Brett vor der See; als ihn ein neu einsetzender Sturm auseinanderriß, stürzte ein Schiffer zur Burg und meldete, daß aus dem Watt das Wrack eines gesunkenen Schoners rage. In den Masten sei noch Mannschaft zu erkennen. Das war ein fürchterlicher Tag und eine grauenvolle Fahrt!

Das erste Boot zerschellte in der Brandung, und Guntram Krafft und seine freiwilligen Lotsen konnten selber kaum geborgen werden; doch kaum, daß sich die Erschöpften erholt hatten, bemannte der Graf ein zweites Boot, das er in aller Eile zweckmäßig eingerichtet hatte.

Er ließ den fehlenden Luftkasten durch leere Fässer, die möglichst gut verspundet und unter die Duchten gelascht wurden, ersetzen, ließ Ballast einlegen und einen Lenzsack nachbugsieren, um das Boot möglichst vor See zu halten und ein Beidrehen zu verhindern.

Dann ging es mit frischem Mut abermals hinaus, und nach zweistündiger schwerer Arbeit brauste das jubelnde Hurra der Heimkehrenden durch das Heulen der Flut. Sie hatten sechs Mann eingeholt. Kaum daß man die Schiffbrüchigen noch zu den Lebenden zählen konnte. Zwei Tage und Nächte lang waren sie ohne Nahrung gewesen, ihre Lage in der Takelage bei Sturm und bitterer Kälte bedeutete eine geradezu unbeschreibliche Qual.

Gräfin Gundula ließ die Geretteten nach Hohen-Esp schaffen und nahm ihre erfrorenen Glieder in Pflege, bis ein Arzt zur Stelle war.

Diese heldenmütige Rettung wurde bekannt. Guntram Krafft und seine Lotsen erhielten die Rettungsmedaille und ein ansehnliches Geldgeschenk, und mit leuchtenden Augen stürmte der Graf in das Zimmer seiner Mutter. »Nun können sie heiraten! Ich habe meinen Anteil an Jöschen abgetreten, dann reicht's zur Ausstattung, und die kleine Kate am Seehaus habe ich ihm ja schon lange versprochen, die kann er sich in Gottes Namen zur Wohnung einrichten!«

»Jöschen will heiraten?« fragte die Gräfin überrascht; »davon ahne ich nichts; wen hat er sich zum Schatz genommen?«

»Nun, die Mike! Die beiden sind doch schon von Kindesbeinen an Brautleute«, lachte der Bär von Hohen-Esp.

Nachdenklich senkt die Gräfin das Haupt, ihr Sohn aber setzt sich nahe an ihre Seite und nimmt zärtlich ihre Hand zwischen die seinen.

Er sieht sie an, so kindlich bittend wie stets, wenn er etwas auf dem Herzen hat.

»Mutter! Warst du zufrieden mit unserer Arbeit?«

»Sehr zufrieden, Gott lohne sie euch!«

»Sie hat aber einen schweren Verlust für uns bedeutet! Unser einziges Rettungsboot, das wir mit so vieler Mühe als ein Peake-Boot zurechtgemacht hatten, ist von der See zerschlagen!«

»Oh! Es wird sich Ersatz finden!«

»Mutter! Du botest mir jüngst an, ich solle auf Reisen gehen, fremde Länder und Völker sehen ...«

»Ganz recht! Hast du dich entschlossen?«

»Nein, Mutter. Ich möchte dich aber recht inständig bitten, mir das Geld, das solch eine Reise kostet, zu geben.«

»Wozu das?«

Guntram Krafft hob mit leidenschaftlicher Bewegung das Haupt.

»Es ist seit Jahren mein sehnlichster Wunsch, hier eine regelrechte Rettungsstation zu errichten. Mit der nötigen Ausrüstung und Unterstützung brauche ich meine braven Jungen nicht annähernd so der Gefahr auszusetzen wie jetzt. Von fremder Seite haben wir keine Unterstützung zu erwarten. Da heißt es also: Hilf dir selber! Ich habe keine andere Passion, keine anderen Interessen mehr auf der Welt als das Rettungswesen, ich kenne keinen höheren Wunsch, als hier aus eigenen Mitteln einen Schuppen mit Ausrüstung, Boot und Apparaten aufzustellen.«

Gundula sah dem Sprecher tief in die Augen.

»Wenn es dir ernstlich darum zu tun ist, so steht der Ausführung deines Plans gewiß nichts im Weg.«

»Mutter!« Der Graf war dunkelrot geworden. »Und das Geld dazu?«

»Du bist majorenn und kannst über dein Vermögen verfügen.«

Er umkrampfte die schlanke Hand der Gräfin. »Mein Vermögen? Alles, was wir besitzen, hast du verdient, es ist dein Eigentum, Mutter. Und zehntausend Mark ist wohl das mindeste, was ich benötige.«

Gundula lächelte, zum erstenmal sah ihr ernstes Antlitz beinahe heiter aus in dem Gefühl, dem Sohn, den sie über alles liebte, einen Wunsch erfüllen zu können.

»Du weißt, daß ich für dich arbeitete, und du hast mir seit Jahren redlich dabei geholfen. Die zehntausend Mark hast du dir selber reichlich verdient. Wie du sie anwenden willst, ist deine Sache; sie liegen bereit.«

Das Antlitz des Grafen spiegelte die unaussprechliche Freude wider, die er empfand. Er legte die Arme um die Sprecherin und dankte ihr so strahlend glücklich, als sei das Geld ihm zu Genuß und Vergnügen, nicht aber für fremde Not gespendet.

Seit langer Zeit hatte man Guntram Krafft nicht so heiter und lebhaft mehr gesehen als jetzt, da er voll ungeduldigen Eifers sogleich den Bau des Rettungsschuppens in Angriff nehmen und seine notwendige Ausrüstung herstellen ließ. Alles leitete und ordnete er selbst, und bei der regen Beschäftigung blieb ihm keine Zeit, trüben Gedanken nachzuhängen.

Die Gräfin atmete auf, wie von Zentnerlasten befreit. Sie glaubte nun überzeugt zu sein, daß keine unglückliche Liebe das Herz des Sohnes erkranken ließ und seine zeitweise unerklärliche Schwermut in der Tat nur dem Kummer entsprang, den ihm seine vergebliche Mission in der Residenz verursacht hatte.

Gundula grübelte und sann, wie sie ihren Liebling zu einem glücklichen Mann und Gatten machen könne.

So verging Monat um Monat. Da kam ihr ein guter Gedanke. Sie suchte in einer vielgelesenen Frauenzeitung eine junge Gesellschafterin aus bester Familie und wählte aus den eingesandten Fotografien die heraus, die ihrem scharfen Auge am passendsten für ihren Plan erschien.

In dicken Stößen kamen die Briefe an. Die Gräfin saß in ihrem stillen Turmzimmer, in das die Frühlingssonne ihre goldhellen Strahlen warf, und öffnete voll lebhaften Interesses ein Schreiben nach dem andern.

Wie viel verschiedene Schriften, Schicksale, Bilder! Gundula sah ein jedes derselben lange scharf und prüfend an, doch da war keines, welches ihr so recht von Herzen sympathisch war.

Die nächsten Tage brachten neue Massen von Zuschriften, und die Bärin von Hohen-Esp las und überlegte und prüfte, bis sie plötzlich betroffen auf ein reizendes Mädchenantlitz schaute, das mit wundersam ernsten, großen, klaren Augen aus dem Brief zu ihr emporschaute. Dem Anzug nach schien sie in tiefer Trauer zu sein, schlicht, einfach und anspruchslos.

Die Gräfin überflog den Brief, der nur sehr kurz im Verhältnis zu den meisten anderen war. Sie sah nach der Unterschrift, die lautete: Maria Antoinette, Freifrau von Sprendlingen, geborene von Dryfurth.

Ein guter Name. Und sie schrieb, daß sie für ihre Tochter Gabriele, 23 Jahre alt, musikalisch, perfekt im Englischen und Französischen, geschickt in Handarbeiten, aber noch unerfahren im Haushalt, eine Stelle als Gesellschafterin suche. Ihre Verhältnisse, die seit dem Tod ihres Mannes sehr traurige seien, zwängen sie leider, sich von ihrem Kind zu trennen.

Gundula nickte nachdenklich. Eine Witwe, die ein Unterkommen für die Tochter sucht.

Wieder und wieder nahm sie Gabrieles Bild zur Hand. Wie eine geheime, unerklärliche Gewalt zog es sie zu dem entzückenden Antlitz mit den rätselhaften Augen. Ein Bild täuscht ja sehr. Vielleicht war die Kleine in Wirklichkeit nicht annähernd so sympathisch, aber gleichviel, darauf mußte man es eben ankommen lassen. Kurz entschlossen griff die Gräfin zu Feder und Papier und schrieb an Frau von Sprendlingen, daß sie gewillt sei, ihre Tochter voll herzlicher Freundlichkeit in ihrem Haus aufzunehmen.


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