Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIV.

Da der Wind ganz plötzlich wieder bedeutend aufgefrischt hatte und merklich kühl durch die blühende Frühlingspracht brauste, hatte Gabriele ein wollenes Kleid zu ihrem Anzug gewählt, das nun in zarten weißen Crêpefalten an ihrer schlanken Gestalt niederfloß.

Es war noch eins ihrer Fünfuhr-Tee-Kleider, die sie ehemals in der Residenz getragen, schick und elegant gearbeitet und doch einfach und anspruchslos wirkend. Die weiße Perlenschnur, die sie damals auf dem Hofball getragen hatte, glänzte auch jetzt auf ihrem graziösen Nacken, und im Gürtel duftete ein kleiner Strauß weißer Narzissen.

Hastig schritt sie über den Hof nach der Kapelle, die Mamsell trat ihr entgegen, faltete behaglich die Hände über dem Magen und betrachtete das junge Mädchen mit unverhohlenem Entzücken.

»Das laß ich mir gefallen, Baronesse«, nickte sie wohlgefällig. »Wenn jetzt ein Fremder hier hereinschaute, der gehört hätte, daß es auf der Burg eine Trauung gebe, dann würde er Stein und Bein darauf schwören, daß das gnädige Fräulein selber die Braut sei, auf die die Gespielinnen mit Kranz und Schleier warten!«

Noch ein neckendes Nicken und Grüßen, und die Mamsell faßte Besen und Staubtuch und schritt über den Hof zurück. Gabriele aber trat in die Kapelle, die leer und still im Schimmer der bunten, kleinen Glasfenster vor ihr lag.

Voll andächtigen Entzückens schaute Gabriele um sich. Rechts und links befanden sich die wenigen Reihen der dunkelbraunen, hochgeschnitzten Kirchenstühle, geradeaus der erhöhte Altar in seinem verblichenen lila Samtschmuck, auf dem die Silberstickerei längst schwarz geworden war. Hocharmige Silberleuchter, ein elfenbeingeschnitztes Kruzifix, an dem noch die Rosenkränze der gräflichen Beter aus der katholischen Zeit hingen. Rechts und links vom Altar die Familienbilder frommer Hohen-Esp, hohe, steiflinige Gestalten in schwarzen Nonnengewändern und weißen Kopftüchern, mit betend zusammengelegten wachsgelben Händen und starren, hohläugigen Gesichtern. Direkt hinter dem Altar sah sie ein kaum noch erkenntliches Gemälde, die Auferstehung des Herrn darstellend.

Seitlich von dem Altarbild sind Gedenktafeln, zwei halb vermoderte Kirchenfahnen, Fischernetze und ein zerbrochenes Ruder aufgestellt. Ein welker, fast zerfallener Totenkranz mit Trauerflor ist um das Ruder gewunden. Gabriele schaudert zusammen. Dieses Ruder war wohl das einzige, das vom Boot eines ertrunkenen Hohen-Esp ans Land zurückgespült wurde.

Ihr Blick irrt weiter von den mächtigen Bärenwappen über die steinernen Grabplatten, die die Familiengruft schließen und steife, liegende Rittergestalten zeigen, hinauf zu der niederen gewölbten Decke, von der an rostigen Ketten eine ganze Anzahl von kleinen Schiffen herabhängen. Es sind fromme Stiftungen der Fischer aus dem Dorf drunten. Grob und plump geschnitzte Segelschiffe, in Form und Bau ihr hohes Alter zeigend, kleine Boote und schwerfällige Kuffs, allerliebst und kunstvoll getakelte kleine Dreimaster, an denen fleißige Hände wohl ein Menschenalter gearbeitet haben, sind zu sehen.

Leiser Schritt erklingt auf den Steinfliesen, und Gabriele schrickt aus tiefen Gedanken empor und blickt sich um.

Ein schmächtiges altes Männchen steht hinter ihr und dreht respektvoll den schäbigen Filzhut in der Hand.

»Ach, Verzeihung«, flüstert er, die lichte Gestalt der jungen Dame wie eine Vision anstarrend, »ich bin der Küster aus Karstein und soll bei der Trauung das Harmonium spielen. Die Frau Gräfin schickt mich, daß ich die Lieder erst einmal durchspiele.«

»Oh, das ist ja schön, Herr Küster«, nickte ihm Gabriele mit herzgewinnendem Lächeln zu, »da habe ich den Genuß schöner Musik während meiner Beschäftigung.« Der kleine Mann dienert sehr geschmeichelt und klettert die schmale Holzwendeltreppe zu der Empore hinauf, Gabriele aber tritt an den Altar, nimmt sinnend die weißen Blütenzweige und schmückt die teuren Heiligtümer.

Wie wundersam leuchten die frischen Blumenkelche auf dem uralten, verschossenen Samt, wie grell ist der Kontrast zwischen Tod und Leben, zwischen dem sonnigen, bräutlichen Jetzt und dem grabesstillen, grauen Ehemals!

Ein Sonnenstrahl bricht durch das bunte Fenster und malt goldige Lichter um die schlanke Mädchengestalt, die mit geschickten Händen die Blüten um das Kruzifix schlingt und die zarten Zweige durch die Arme der Leuchter flicht, dann niederkniet vor der Altardecke und auch an ihr empor den holden Schmuck ranken läßt, sinnig und schön, so festlich, wie wohl dieser Tisch des Herrn seit langen Jahren nicht mehr ausgeschaut hat.

Und während sie ihres lieblichen Amtes waltet, ertönen über ihr die jubelnden Klänge »Lobe den Herrn meine Seele und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat«.

Immer voller und duftiger gestaltet sich der Altarschmuck unter Gabrieles Händen, sie streut auch noch die weißen Blüten über die Grabsteine, sie nestelt die duftigen Narzissen in die grünen Tannenzweige, die das Geländer um den Altar verhüllen, und dann steht sie plötzlich wieder schweratmend still und starrt auf das zerbrochene Ruder unter dem verstaubten Trauerschleier.

Jetzt fällt ihr Blick auch auf ein kleines Pastellbildchen, das an dem Pfeiler, kaum sichtbar von der Kirche aus, aufgehängt ist. Es ist eine schlechte Kopie jenes Gemäldes aus dem Ahnensaal droben. Wulffhardt von Hohen-Esp; ertrunken um 1503.

Gabriele weiß nicht, warum sie es tut, aber sie schlingt die schneeigen Blütenzweige zum Kranz und schmückt das Bild des Wulffhardt von Hohen-Esp. Und seine Augen schauen so lebendig drein, sein Blick senkt sich in den ihren, und seine Lippen lächeln unter dem bräutlichen Schmuck. Wie gleicht er Guntram Krafft! Wird auch sein Bild einst hier hängen, wird auch unter ihm das grausige Wort »ertrunken« stehen ... wird ...

Gabriele macht eine jähe Bewegung und preßt schweratmend die Hand gegen das Herz, und als sie sich hastig zurückwendet, ringt sich ein leiser Schreckenslaut von ihren Lippen. Dort an einem Kirchenstuhl steht Guntram Krafft, mit gekreuzten Armen, still und regungslos und starrt sie aus weit offenen Augen an. Blick ruht in Blick.

Der Graf schreitet langsam näher, tritt neben sie und schaut auf das geschmückte Bild Wulffhardts nieder.

»Warum taten Sie das?« fragt er mit leiser, fremder Stimme.

Gabriele sieht nicht auf zu ihm; sie wendet sich ab und ordnet mit bebenden Händen die Blüten auf dem Altar, die bereits wohlgeordnet liegen.

»Das Herz tut mir weh, wenn ich daran denke, wie früh er sterben mußte.«

»Ja, er starb früh, an der Schwelle des Lebens. Er kannte weder Glück noch Liebe, und doch wäre er wohl auch so gern glücklich gewesen!«

Auch glücklich gewesen! Klang das nicht wie ein geheimer, leidenschaftlicher Seufzer der Sehnsucht?

Gabriele antwortet nicht, sie neigt das Haupt nur tiefer.

»Ich danke Ihnen im Namen jenes Armen, Einsamen«, fährt der Graf sehr ruhig fort, »dessen Sie so barmherzig gedachten. Mir ist's, als müßte er jetzt ruhiger in der Gruft drunten schlafen, als müßte er nun versöhnter mit seinem inhaltlosen Leben sein.«

»Ein inhaltloses Leben, wenn ein Mann dieses Leben hingab für die Brüder?«

»Er tat seine Pflicht!«

»Er tat mehr als sie!«

Ein beinah düsterer Blick brach aus Guntram Kraffts Augen.

»Wohl doch nicht in Ihrem Sinn, Fräulein Gabriele; er zog weder in den Krieg noch konnte er große Taten für sein Vaterland tun. Sein Name ist in keinem Heldenbuch verzeichnet, sein Andenken wird weder durch Wort noch durch Lied geehrt. Jene Stelle, wo die tosende Flut einen Jüngling verschlang, der einem gefährdeten Schiff Rettung bringen wollte, ist durch keine Spur gekennzeichnet, die Wogen rollen darüber hin, und der Wind verweht die Kunde. Das Schicksal der Hohen-Esp! Mit weißen Totenblumen schmückt eine mitleidige Mädchenhand nach Jahrhunderten wohl noch unser Bild und Grab, mit Lorbeerzweigen aber nicht.« Er brach kurz ab und trat zurück. »Der Hochzeitszug scheint zu nahen. Sie gestatten, daß ich meinen jungen Freund im Burghof begrüße!«

Gabriele stand regungslos und schaute starren Blicks auf das Bild. War es nur Einbildung, oder sahen die lachenden Augen Wulffhardts plötzlich ernst, beinahe wehmütig unter dem weißen Blütenschmuck auf sie nieder?

Nicht mit Lorbeerzweigen, nicht mit dem Ehrenkranz, der dem Helden geziemt! Es lag etwas seltsam Herbes in der Stimme des Grafen, als er das gesagt, etwas Vorwurfsvolles, was sie nicht verstand. Hatte sie vielleicht damals auf dem Hofball nur den Mann einen Helden genannt, der auf dem Schlachtfeld sein Leben für das Vaterland läßt? Wohl möglich; so war es ja ehedem auch ihre Ansicht. Und jetzt? Nachdenklich streicht sie die krausen Löckchen aus der Stirn. Jetzt ist es ihr wie eine Ahnung gekommen, daß ein Mann, der sich kühn in Sturm und hohe Flut hinauswagt, auch ein Held sein könne.

Gabriele senkt das Köpfchen tief, tief auf die Brust und schreitet langsam die Stufen des Altars hinab, der Gräfin entgegen, die die Kapelle betreten hat, den Brautzug in ihrem hohen Kirchenstuhl seitlich des Traualtars zu erwarten.

Gundula nimmt die kalte, bebende Hand des jungen Mädchens in die ihre, streift mit einem warmen Blick inniger Bewunderung die liebreizende Erscheinung ihres jungen Gastes und geht mit ihr zum erhöhten Sitz. Die Orgelklänge ertönen, und mit dem golden durch die Tür hereinflutenden Sonnenlicht erscheint das Brautpaar in der Kapelle.

Guntram Krafft führt es zum Altar. Mike schreitet zwischen ihm und dem Geliebten, eine blühende, kraftvoll schöne Braut. Sie trägt das goldblonde Haar schlicht gescheitelt und in Zöpfen herabhängend, ein dicker grüner Myrtenkranz legt sich um den ganzen Kopf und endet in einer Schleife, die lang über den Rücken herabflattert. Sie ist die Verkörperung eines echten, rechten Glückes.

Jöschen an ihrer Seite sieht nicht minder strahlend aus, wenngleich sein frisches Gesicht mit den hellblauen, lustigen Augen und dem weißblonden Flaum auf der Oberlippe recht verlegen ob all der Ehre, die ihm geschieht, dreinschaut.

Dem Brautpaar folgt die Schar der Gäste, Fischer und Fischersfrauen, wohl die gesamten Einwohner des kleinen Dörfchens.

Kinder mit Blütenzweigen oder bunten Sträußen in der Hand drängen sich scheu an die Mütter; alte, wetterharte Seeleute mit dem Priem zwischen Zähnen und Backe und der Tonpfeife in der Rocktasche folgen langsam im Zug, und dann schließt sich das Gesinde von Hohen-Esp an, alle so strahlend heiter und festfreudig gestimmt, als gehe Mikes und Jöschens Glück sie alle an, als sei diese Hochzeit ihr aller Ehrentag, von dem ein warmer Sonnenstrahl in jedermanns Herz fällt.

Zuerst wurde gesungen, sehr lange und viel gesungen, wie es die Sitte verlangte, und Guntram Kraffts Stämme klang fest und laut hervor, ebenso wie Gundulas weicher Alt und die helle, schmetternde Stimme der noch sehr stattlichen Brautmutter.

Der Pastor trat vor den Altar, sprach in schlichter, sinniger Weise viel schöne und herzbewegende Worte und wandte sich ganz besonders an Mike, sie auf die schweren Pflichten der Seemannsfrau aufmerksam machend. Wie treu, wie selbstlos, wie aufopfernd muß das brave Weib eines Fischers sein, wie wenig an sich selbst und das eigene Glück denken, wie tapfer und mutig den Herzliebsten in Sturm und Gefahr hinausschicken, wenn es gilt, fremder Not und gefährdeten Menschenleben zu Hilfe zu kommen. Gerade in solchen Stunden höchster Angst und Gefahr müßte sich die wahre Liebe eines treuen Weibes bewähren.

Mike blickte dem Pastor mit ihren großen, treuherzigen Augen aufmerksam in das gütige Antlitz, und sie nickte ihm zustimmend und so recht von Herzen überzeugt zu. Jöschen machte auch hie und da eine unwillkürliche Bewegung, als wolle er versichern: »Jawoll, Herr Pastur, dat woll'n wi allens so maken!«

Dann knieten sie nieder und wurden gesegnet. Der Prediger nahm die Ringe und steckte sie ihnen an.

*

In der kleinen Dorfschenke, die über einen einzigen Raum verfügte, in dem ein bescheidenes Fest abgehalten werden konnte, hatte der Graf von Hohen-Esp den Hochzeitsschmaus für seinen Jugendgespielen herrichten lassen.

Hier in dem niedrigen, verräucherten Saal, an dessen Deckbalken das Haupt des hochgewachsenen Bären beinah anstieß, feierten die Fischer ihre Feste; hier saßen sie sonntags und rauchten ihre Pfeifen beim Glas Bier, hier versammelten sie sich, wenn es Außergewöhnliches zu besprechen gab oder wenn ein Sohn, Vetter, Bruder oder Onkel nach langer Seefahrt heimkehrte und von viel schweren oder glücklichen Fahrten zu erzählen hatte.

Auf den wurmstichigen uralten Schränken liegen große Korallen und fremdartige Muscheln, steht eine chinesische Vase, der der eine Henkel fehlt, und ein paar grellbunte, furchtbar fratzenhafte Götzenbilder, vor denen sich die Kleinen im Dorf über die Maßen »grugeln«.

Heute ist eine lange, lange Tafel inmitten des Saales aufgestellt, mit groben weißen Tüchern belegt und durch Tannengrün und Blumensträuße ganz besonders feierlich geschmückt.

Teller von jeder Art und Sorte sind aufgestellt, Napfkuchen duften schon jetzt sehr lecker, und festlich von des Tisches Mitte und seitwärts lagert ein großes Faß Bier, auf das mit Kreide »Vivat« geschrieben ist und von den eben ankommenden Fischern mit schmunzelndem Entzücken zuerst besichtigt wird.

Das junge Ehepaar und die Hochzeitsgäste nahen, vorerst noch schweigsam und ernst, wie es in der Art dieser wortkargen Menschen liegt, die es mehr gewohnt sind, den schweren, sorgenvollen Kampf um das Dasein zu führen, als heitere Feste zu feiern.

Der Wind, der mehr und mehr auffrischt und manch altem, wettererfahrenen Schiffer ein bedenkliches Kopfschütteln und »Hm-Hm!« abgenötigt hat, spielt in den rosa Kranzbändern der jungen Frau und färbt ihre Wangen noch röter; und wenn auch Mike mit festem Händedruck ringsum die schwieligen Hände faßt und Jöschen manch lieben Freund innig auf den Rücken klopft, so herrscht dennoch vorerst noch die feierliche, erwartungsvolle Stille, die dem Nahen des Pastors und der gräflichen Herrschaft vorauszugehen pflegt.


 << zurück weiter >>