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XVIII.

Ein paar Tage waren vergangen. Es dämmerte. Guntram Krafft war soeben von dem beinahe vollendeten Rettungsschuppen heimgekehrt, hatte die Kleider gewechselt und trat hastig in das große Wohngemach der Gräfin, um ihr voll lebhafter Begeisterung von dem vorzüglichen Boot eigener Konstruktion, das man soeben geprobt hatte, zu berichten.

Gundula trat ihm entgegen, lebhafter, elastischer schreitend als sonst. Sie hielt einen Brief in der Hand und fing bereits von weitem an zu sprechen: »Endlich kommst du heim, Guntram Krafft; ich wartete mit Sehnsucht auf dich, um mit dir eine Angelegenheit zu bereden, für die du bisher noch niemals recht Zeit hattest. Nun ist sie vollendete Tatsache und die höchste Zeit, daß du davon erfährst.«

Der Graf blickte die Sprecherin erstaunt an, schob ihr voll ritterlicher Höflichkeit einen Sessel hin und lehnte sich erwartungsvoll ihr gegenüber an den Tisch.

Die Gräfin setzte sich nieder und schien gewaltsam gegen eine gewisse Befangenheit anzukämpfen. »Ich bin seit langen Jahren so allein, entbehre jeden Verkehr mit Damen und werde nun auch so alt und abständig, daß ich kaum noch allein dem großen Hauswesen vorstehen kann.«

Guntram Krafft lachte beinahe übermütig auf, schwieg aber und blickte die Sprecherin aufmerksam an.

»Ich habe mir daher eine Gesellschafterin engagiert und hoffe, daß du aus Rücksicht für mich mit diesem Zuwachs einverstanden bist.«

»Ah! Das nenne ich vernünftig!« rief der Bär von Hohen-Esp sehr erfreut und durchaus harmlos aus. »Diese Idee ist einen Dukaten wert und hätte dir bereits zehn Jahre früher kommen sollen. Hast du schon jemand gefunden?«

Die Gräfin öffnete mit geheimnisvollem Lächeln den Brief, entnahm ihm eine Fotografie und reichte sie dem Sohn.

»Wie gefällt dir meine künftige kleine Genossin, die, so Gott will, frisches Leben und recht viel Sonnenschein mit in das Haus bringt?«

Guntram Krafft nahm lächelnd das Bild und trat damit in die Fensternische, um besser sehen zu können.

»Wenn sie nur deinen Beifall findet, Mama, dann bin ich gern mit einer jeden zufrieden.«

Er neigte sich vor und blickte auf das Bild. Einen Augenblick starrte er es an, seine Hand zuckte, und sein Antlitz überzog eine tiefe Blässe.

Regungslos stand er und schaute in das süße, ernste, sinnende Gesicht. Ein Zittern flog durch seinen Körper, wie feurige Nebel wogte und wallte es plötzlich um ihn her, und sein Herz lag regungslos, um plötzlich in desto wilderen Schlägen atemraubend loszustürmen.

Er stand abgewandt von der Gräfin, und diese sah die auffallende Veränderung nicht, die mit ihm vor sich ging.

»Nun«, sagte sie endlich, »äußere dich doch! Ist das Gesicht nicht entzückend? Wenn die Augen das alles halten, was sie hier versprechen, so muß die Kleine ein sehr liebenswertes Mädchen sein.«

»Wie heißt sie?« stieß Guntram Krafft kurz und beinahe rauh hervor.

»Ach so! Ich vergaß, dir Fräulein Gabriele von Sprendlingen im Bild vorzustellen ...«

»Gabriele von Sprendlingen!« Das klang wie ein leises, kaum verständliches Aufstöhnen. Die Gräfin beachtete es nicht.

»Der Vater war General; er starb vor ungefähr einem Jahr ganz plötzlich, und da er durch den Bankrott einer bedeutenden Firma sein ganzes Vermögen verlor, hinterließ er Frau und Tochter in den drückendsten Verhältnissen. So entschloß sich Frau von Sprendlingen nun, die Tochter fortzugeben.«

»Bot sie dir dieselbe an?« Guntram Krafft stieß die Worte kurz hervor.

»Auf meine Anzeige in der Zeitung hin.«

»Inseriertest du unter deinem vollen Namen?«

»Hier ist der Zeitungsausschnitt, ich erbat die Antworten unter Chiffre G.H. 1000.«

»Wo lebt Frau von Sprendlingen?«

Die Gräfin blickte auf den Brief nieder und nannte eine kleine Stadt des Herzogtums; der Bär von Hohen-Esp aber blickte starr zum Fenster hinaus und schwieg.

»Du meinst doch auch, daß ich den Versuch mit Gabriele wage?« fuhr die Gräfin ein wenig ungeduldig fort.

Er strich langsam mit der Hand über die Stirn, sein fahles Antlitz sah so gequält aus wie bei einem Menschen, der die Folter erduldet. »Darüber hast du allein zu bestimmen.«

»Ich bin völlig einig mit mir und habe der Baronin bereits geschrieben.«

Wieder zuckte der Graf zusammen. »Nun, so ist es ja entschieden«, sagte er tonlos. »Wann ... wann trifft die junge Dame hier ein?«

»Anfang nächsten Monats. Es gibt zuvor wohl noch verschiedene Angelegenheiten zu erledigen.«

»Sagtest du nicht, daß sie verlobt sei?«

Die Gräfin hob erstaunt ihr Haupt. »Durchaus nicht. Die Damen stehen ganz allein und ohne Schutz in der Welt. Wie kommst du darauf?«

Guntram Krafft neigte finster das Haupt. »Ich irrte mich wohl. Mir geht heute so viel im Kopf herum. Heute nachmittag haben wir eine kleine Probefahrt mit dem neuen Boot gemacht, darüber wollte ich berichten.«

Die Gräfin schob das Bildchen in den Brief zurück, erhob sich hastig und legte den Arm in den des Sohnes.

»Ja, erzähl mir! Du hast soeben meinen Angelegenheiten Interesse geschenkt, nun wollen wir von dem plaudern, was dir am Herzen liegt.« Sie trat in das hellere Fensterlicht und sah betroffen in das Antlitz des jungen Bären. »Hast du Ärger und Verdruß gehabt, Guntram Krafft?« fragte sie besorgt. »Du siehst ganz verstört aus ... Oder fühlst du dich etwa krank?«

Er zwang sich gewaltsam zu einem heitern Ton. »Seinen gesunden Hofjungenärger hat man ja öfter, Mutter. Im großen und ganzen bin ich sehr zufrieden mit den Schuppen und voll Glück und Dank gegen Gott und dich. Daß in Walsleben das neue Arbeitshaus schon im Rohbau aufgeführt ist, weißt du.«

»Selbstverständlich.«

»Wer beaufsichtigt die Sache eigentlich?«

»Der Inspektor. Du warst doch damit einverstanden.«

Der Graf wandte sich ab und schob den schweren Damastvorhang noch mehr von den Butzenscheiben des Erkerfensters zurück.

»Ich möchte das Haus einmal in Augenschein nehmen; man kann doch so manches noch ändern und verbessern.«

»Selbstverständlich! Ich würde sehr glücklich sein, wenn du einmal hinführst. Möchtest du gleich morgen ...«

»Morgen? Nein.« Der Graf unterbrach die Sprecherin mit einer gewissen Hast. »Momentan kann ich hier nicht gut abkommen.«

»Nun, wann denkst du zu fahren?«

Guntram Krafft wandte sich noch mehr zur Seite.

»So bald wie möglich. Vielleicht Anfang nächsten Monats«, sagte er leichthin, wandte sich plötzlich und bot der Mutter den Arm. »Und nun begleite mich noch einmal in den Garten, Mamachen! Es ist ein wundervoller Abend, und ich möchte sehen, wieweit der Gärtner mit den neuen Anpflanzungen gekommen ist.«

Gabriele von Sprendlingen war im Reisekleid und legte noch die letzten Gegenstände in den kleinen Reisekoffer, um pünktlich bereit zu sein, wenn der alte Kutscher vorfuhr, sie zur Bahnstation abzuholen. Sie sah so still und ernst und ruhig aus, als ob all der Wechsel und Wandel, der sich nun mit ihr begeben sollte, nicht die mindeste Erregung wert sei. Sie sollte die Gesellschafterin einer alten einsamen Frau werden, einer Frau, die man in der Welt als verbittert, hart und menschenfeindlich schilderte.

Als ihre Mutter mit aufgeregt heißen Wangen zuerst die Nachricht brachte, daß es die Gräfin Hohen-Esp sei, die die Gesellschafterin suche, und daß sie Gabriele vor allen anderen Bewerberinnen den Vorzug gegeben und sie engagiert habe, blickte das junge Mädchen so gleichgültig auf den Brief Gundulas nieder, als gehe sie derselbe kaum etwas an.

Und als Frau von Sprendlingen in ihrer Erregung eine Andeutung machte, daß nun das Glück vielleicht doch noch einmal bei ihnen anklopfe, wenn Guntram Krafft seiner ehemals so schnell entflammten Neigung treu geblieben sei, da wuchs die schlanke Mädchengestalt hoch und stolz empor, und die klaren Augen blitzten so abweisend wie ehemals, als sie die Bewerbung des Grafen voll ehrlicher Gleichgültigkeit zurückwies.

»Wenn du dich solch trügerischem Hoffnungen hingibst, Mama, ist es besser, ich nehme die Stelle überhaupt nicht an. Glaubst du, die Armut und Verlassenheit hätten mich derart entnervt und erbärmlich gemacht, daß ich einen ungeliebten Mann heirate? Ich bitte dich von Herzen, Mama, nähre keine falschen Hoffnungen, die Enttäuschung würde zu bitter sein.«

Seufzend neigte die Baronin das Haupt und schwieg auch jetzt, als sie von der Tochter Abschied nahm und die schlanke, graziöse Mädchengestalt in die Arme schloß. Sie sagte nur leise: »Gott beschütze dich, mein Kind!«

Es war ein regnerischer Frühlingstag. Der Himmel verschwamm in grauen Dunstmassen, müdes Dämmerlicht lag über den knospenden Wäldern, durch die Gabriele der Burg Hohen-Esp entgegenfuhr.

Von der See sah man nichts, der Nebel hatte sie verschlungen; und als Hohen-Esp mit seinen dunklen, uralten, efeuumsponnenen Gemäuern aus den Wipfeln auftauchte, machte es einen noch melancholischeren und öderen Eindruck als sonst.

Sehr günstig war der erste Eindruck nicht, den Gabriele vom Stammsitz der Hohen-Esp erhielt; aber das junge Mädchen war so weit entfernt von aller kindischen Furcht und Voreingenommenheit, daß es, interessiert und gefesselt, von der Eigenartigkeit dieses Schlosses um sich blickte, als der Wagen langsam in den engen Burghof einfuhr. Da standen wie zwei gewaltige, unheimliche Wächter, gleich rechts und links vor dem Tor, die steinernen Bären, die mit der einen Pranke das Wappenschild, mit der anderen eine Fackel emporhielten, in der abends eine rotleuchtende Laterne brannte.

Die alten Gesellen sind von grünlicher Moosschicht überzogen, ebenso verwittert und alt wie die anderen Bären, die auf den Sockeln der Freitreppe stehen. Im ersten Augenblick erscheint ihr auch die hohe Frauengestalt, die ihr in der Pforte entgegentritt, mehr bärenhaft als menschlich.

Das dunkle Trauergewand, der breite schwarze Pelzkragen um die Schultern, den Gundula des kalten Wetters wegen umgelegt hat, lassen die Gräfin von Hohen-Esp noch imponierender erscheinen als sonst.

Sie tritt der Ankommenden entgegen und bietet ihr mit herzlichem Willkommen die schlanke, weiße Hand zum Gruß; unter dem silbernen Scheitel und der klaren, hohen Stirn leuchtet Gabriele ein Paar so schöner, edel blickender Augen entgegen, daß sie das Empfinden hat, als ströme es unter diesem Blick ganz seltsam warm zu ihrem Herzen.

Sie küßt die Hand der Gräfin, sie dankt für das gütige Wohlwollen, das sie hierherkommen hieß; Gundula schaut einen Augenblick tief und ernst in das Antlitz des jungen Mädchens, nickt freundlich und drückt die kleine Hand kräftig in der ihren.

»Gebe Gott, daß wir einander liebgewinnen und daß Sie gern bei uns weilen«, sagt sie schlicht, wendet sich an den alten Diener und gibt Befehl, das Gepäck in das Zimmer des gnädigen Fräuleins zu schaffen.

Sie schreitet nach der eng gewundenen dunkelgebräunten Holztreppe und legt die Hand auf einen der Bärenköpfe, die die Schnitzerei zeigt. »Fürchten Sie sich nicht vor diesen zottigen Burschen, die Ihnen hier auf Schritt und Tritt begegnen! Sie sind unsere lieben Freunde, sie gehören zu uns und in dieses Haus wie gute Schutzgeister, die man nicht vertreiben darf. Fürchten Sie sich vor Bären?«

Gabriele lächelte.

»Nicht im mindesten, Frau Gräfin. Ich bin überzeugt, daß sie auch mich bald als Freundin dieses Hauses erkennen und mich beschützen werden.«

»Hier ist Ihr Zimmer, ein Turmstübchen, so klein und niedrig, wie es unsere Altvordern gemütlich fanden. Der Blick ist schön; Sie sehen aus dem Fenster Wald und See, und wenn Ihr Herz nicht allzusehr an der bunten Welt und ihrem Leben und Treiben hängt, wird Ihnen diese stille Poesie sicher gefallen.«

»Ich wußte, daß sie mich erwartet, Frau Gräfin, und bin gern gekommen.«

Wieder blickt Gundula in das ernste, sinnende Antlitz der Sprecherin. »Packen Sie allein aus oder wünschen Sie Hilfe? Hanne steht zu Ihrer Verfügung.«

»Ich danke, Frau Gräfin; ich bin gewohnt, mich allein zu bedienen.«

Gundula nickt sehr befriedigt. »Das ist mir recht. Mir gefällt es gut, wenn ein Mädchen selbständig ist. In erster Zeit werden Sie allerdings noch manches erfragen müssen, bis Sie auf Hohen-Esp Bescheid wissen; am liebsten ist es mir, Gabriele, Sie wenden sich an mich, ich habe stets Zeit für Sie.«

»Ich danke von Herzen, Frau Gräfin.«

»Und jetzt lasse ich Sie allein. Sie werden eine kurze Zeit der Ruhe bedürfen. In zwei Stunden erwarte ich Sie zum Essen. Wir sind vorläufig allein im Haus, mein Sohn mußte für kurze Zeit nach Walsleben fahren. Also auf Wiedersehen, liebe Gabriele! Gott der Herr segne Ihren Eingang in dies Haus.«

Die Gräfin zieht das junge Mädchen an sich und berührt mit ernstem Kuß seine Stirne; dann geht sie.

Wie im Traum schaut Gabriele der hohen Frauengestalt nach. Sie sieht aus wie ein schönes, ehrwürdiges Bild, das aus dem Rahmen gestiegen ist, um durch diese dämmrig stillen Räume zu schreiten. Wie paßt sie in dieses Haus! Fürwahr, eine Bärin von Hohen-Esp. So hatte sich Gabriele sie nicht vorgestellt. Sie glaubte, eine finstere, strenge, kalte Matrone vorzufinden, eine Herrin, die mit weltfeindlichem Sinn hier gebietet, nicht aber diese friedliche, milde, schlichte und einfache Frau, die bei all ihrer vornehmen Würde so viel herzgewinnende Güte hat. Schon auf den ersten Blick gefiel ihr »Frau Herzeleide«, und Gabriele empfindet es wie eine glückselige Vorahnung, daß sie diese Frau liebgewinnen wird wie eine Mutter.

Der Sohn ist verreist! Unwillkürlich atmet sie auf. So warm es ihr bei dem Anblick der Gräfin ums Herz geworden ist, so unbehaglich wird es ihr zumute, wenn sie an den Sohn denkt.

Gabriele tritt ans Fenster und blickt hinaus.

Der Regen rieselt an den kleinen, bleigefaßten Scheiben herab und trommelt einförmig auf den Sims.

Man sieht nicht viel; nur den Eindruck hat man, daß man tief hinabblickt auf flaches Land und endlos gedehnte Waldungen. Fern im Hintergrund liegt wohl die See, die eintönige und einförmige See, die sich so träge dehnt, sei es in blendender Hitze oder grau in grau, wie ein Nebelbild an regnerischem Frühlingstag.

Gleichgültig wendet sich Gabriele von ihrem Anblick ab und kniet vor dem Koffer nieder, um das Auspacken zu beginnen.


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