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IX.

Während Guntram Krafft mit sehnsüchtigem Blick nach dem Logenplatz, den Gabriele am Arm des Kammerherrn verlassen hatte, hinüberschaute, war Fräulein von Sprendlingen in das Teezimmer, das hinter der großen Hofloge lag, eingetreten.

Prinzeß Amalie blickte ihr bereits erwartungsvoll entgegen.

Die hohe Dame, die schon seit Jahren eines Knieleidens wegen nur mit großer Anstrengung zu gehen vermochte und meist in ihrem kleinen, leicht beweglichen Rollstuhl gefahren wurde, nickte dem jungen Mädchen in ihrer herzgewinnenden Weise zu und fesselte sie sogleich an ihre Seite.

Gabriele erzählte ihr in ihrer frischen, anmutigen Art von den Anverwandten der hohen Frau, die sie während des Besuches bei der Hofmarschallin am Hof zu X. noch vor wenigen Tagen gesehen und gesprochen hatte. Da gab es viel zu berichten.

Die kurze Pause hatte kaum ausgereicht, all die vielen Erinnerungen neu aufleben zu lassen. Gabriele bleibt auf Wunsch der Prinzessin in der großen Loge.

Als sich die Herrschaften während der nächsten Pause abermals zurückziehen; wendet sich der Herzog an Fräulein von Sprendlingen und verwickelt sie in eine Unterhaltung.

Als er sich gerade voll liebenswürdigen Interesses nach dem Unfall erkundigt, den sie mit dem Schlitten gehabt hat, klingt das leise, übermütige Lachen des Prinzen Carl Emil an ihr Ohr, der mit einer der Hofdamen plaudert.

»Ich glaube, Gräfin, wir alle sind gespannt, den ›weisen Toren‹ kennenzulernen«, sagt er gerade mit vernehmlicher Stimme.

Der Herzog wendet den Kopf. »Von welchem ›weisen Toren‹ sprichst du?«

»Von dem modernen Parsifal«, lacht der Prinz, »der heute abend dem fliegenden Holländer eine gewaltige Konkurrenz macht und das Publikum mehr interessiert als der bleiche Kapitän auf der Bühne drunten.«

»So, so! Der Graf von Hohen-Esp! Der dürfte freilich die Attraktion der diesjährigen Saison sein.« Zu Fräulein von Sprendlingen gewandt, fuhr er fort: »Der Graf Hohen-Esp ist sogar hier in nächster Nähe zu schauen! Bemerkten Sie noch nicht in der Loge, Ihnen gegenüber, einen blonden Mann, der nicht im mindesten nach einem Hinterwäldler aussieht?«

Gabriele blickte den Sprecher mit weit offenen Augen an.

»Jener Fremde ... jener ist es, königliche Hoheit?«

»Gewiß! Sie erwarteten auch eine ganz andere Erscheinung in dem Einsiedler aus der Bärenhöhle?«

»Findest du wirklich, Vater, daß er so völlig von Europas Kultur beleckt ist?« lachte Prinz Carl Emil mit zwinkerndem Blick. »Der tadellos zugeschnittene Rock und die Krawatte machen es nicht allein! Die Art und Weise, wie ein Mensch seine Kleider trägt, ist maßgebend für seine Persönlichkeit!«

»Ganz recht; wie aber trägt Graf Guntram Krafft seinen Rock?«

»Wie ein Mann, der sich höchst fremd und höchst unbehaglich in der neuen Fasson vorkommt.«

»So? Das ist mir noch nicht aufgefallen.«

»Beobachte ihn! Jede seiner Bewegungen ist geniert, ungeschickt, in Wahrheit ›bärenhaft‹.«

»Mich überrascht am meisten der Ausdruck seines Gesichtes«, schaltete sich die Herzogin ein. »Seine Augen haben einen kindlichen Blick. Was er denkt und fühlt, spiegelt sich auf seinem Antlitz wider; das beobachtete ich während der Vorstellung.«

»Dies alles scheint mir kein Fehler zu sein.«

In den Korridoren ertönte das Klingelzeichen, die hohen Herrschaften traten nach sehr huldvoller Verabschiedung in die Loge zurück, und Gabriele eilte, die Begleitung des Kammerherrn dankend ablehnend, zu Frau von Sprendlingen zurück.

Ihr Atem ging schnell und unruhig, ihr Herz schlug aufgeregt. Sie setzte sich schweigend auf ihren Platz nieder, und ein finsterer, beinah verächtlicher Blick streifte den Grafen von Hohen-Esp, der sich mit aufleuchtenden Augen vorneigte und durchaus kein Hehl von seinem Entzücken machte, sie wiederzusehen. Also das Muttersöhnchen aus der Bärenhöhle war der mutige Retter. Der Graf von Hohen-Esp, jener Held, der wegen einer kaum beachtenswerten Verletzung am Fuß nicht Soldat wurde, der sich feige und schlapp hinter der Mutter Schürze verkroch, anstatt voll kühnen Wagemuts hinaus in die Welt zu stürmen, um Gut und Blut für sein Vaterland einzusetzen.

Was will er hier? Sich gar ein Weib suchen, das sein Schlaraffenland mit ihm teilt? Ein verächtliches Zucken geht um Gabrieles Lippen. Auch eine solche wird sich wohl für ihn finden; es gibt Mädchen, die wenig, sehr wenig von einem Mann verlangen, lediglich einen Trauring.

Aber Gabriele von Sprendlingen verlangt mehr!

Als die letzten Musikklänge verrauscht sind und sich der tosende Beifall gelegt hat, erhebt sich das junge Mädchen und schreitet hastig dem Ausgang zu. Für den Grafen von Hohen-Esp, der noch immer zögernd in der Loge steht und zu ihr hinüberschaut, hat sie keinen Blick mehr.

In der Halle drunten stehen die jungen Offiziere und plaudern mit den Damen, die hier das Vorfahren der Wagen erwarten. Auch Leutnant von Heidler ist Gabriele sporenklirrend entgegengetreten, küßt Frau von Sprendlingen die Hand und erkundigt sich nach dem Befinden der Damen.

Er hat Gabriele bereits auf dem Bahnhof begrüßt; daß seine Anwesenheit dort ein Zufall gewesen sei, hat er weder behauptet noch hat es die junge Dame angenommen; auch jetzt blickt er ihr mit den kühnen, siegesgewissen Augen wie in selbstverständlicher Vertraulichkeit in das reizende Antlitz und versichert ihr, daß die Residenz schauderhaft öde ohne sie gewesen sei und daß es eine ganze Menge zu erzählen gäbe.

Sie plaudern und bemerken die hohe Männergestalt nicht, die dicht neben ihnen an einer Säule steht und keinen Blick von Gabriele wendet. Nur Frau von Sprendlingen sieht den Erben von Hohen-Esp und zeigt ihm ein ganz besonders freundliches Gesicht.

Der Wagen wird gemeldet, Herr von Heidler bietet der Baronin den Arm, und Gabriele folgt.

Er steht und sieht, wie sie der Dragoneroffizier in den Wagen hebt und dann selber einsteigt; die Pferde ziehen an, und neue Wagen und Rosse drängen vor das Portal.

Wie im Traum schreitet der junge Graf in die kalte Winternacht hinaus. In seinem Kopf wirbelt es von neuen, wundersamen Eindrücken. Sein Herz schlägt heiß und ungestüm, wie eine leidenschaftliche Glückseligkeit, eine jauchzende Lebensfreude kommt es über ihn.

Noch nie hat sich der weltfremde Mann so frohen Herzens zum Schlaf niedergelegt wie an diesem Abend; vor seinen Ohren rauschen die Wogen des Meeres, klingen die Zauberweisen des »fliegenden Holländers« – Sentas Antlitz trägt Gabrieles Züge, und sie breitet die Arme nach ihm aus.

*

Die Villa Monrepos, die der pensionierte General von Sprendlingen bewohnte, lag in einer stillen Vorstadtstraße.

Über den verschneiten Gartenweg eilte eine junge Dame, zog eilig die Glocke und ging mit kaum merklichem Gruß an dem Portier vorüber, um die teppichbelegte Treppe emporzuhasten.

Sie schien kein seltener Gast bei Fräulein von Sprendlingen zu sein, denn der Diener öffnete sogleich und sagte mit kurzer Verbeugung: »Darf ich bitten, in das Musikzimmer, Komtesse.«

»So«, sagte Gräfin Thea von Sevarille, den Gruß ebenso unhöflich erwidernd wie zuvor den des Portiers, staubte die letzten Schneesternchen von dem Muff und schritt durch eine Flucht eleganter Salons nach dem kleinen, turmähnlichen Anbau, in dem der Flügel aufgestellt war.

Gabriele klappte die Noten zu und erhob sich.

»Endlich, Thea! Es war mir schon ganz unheimlich, daß du noch nicht hier warst. Während meiner Abwesenheit hat sich doch gewiß mancherlei hier ereignet, was wichtig genug ist, um berichtet zu werden. Komm mit hinüber, ich finde es heute kalt hier.«

Sie traten in das lauschige Zimmer Gabrieles. Komtesse Sevarille warf die Pelzjacke ab und ließ sich wohlig vor dem Kamin in eins der hellseidenen Sesselchen sinken.

»Neuigkeiten!« lachte sie; »wenn du gehst, Liebste, steht die Zeit bei uns still; und wenn du wieder auf der Bildfläche erscheinst, häufen sich die Ereignisse. Nummer eins: Du bist mit dem Schlitten umgekippt?«

»Es war nicht der Rede wert!«

»Es genügte, um dich einem höchst gefährlichen Retter in die Arme zu führen.«

Thea dachte an den alten Dienstmann, von dem man im Theater gesprochen hatte, und belachte ihren harmlosen Witz sehr vergnüglich, um so mehr überraschte sie der plötzlich ganz veränderte Ausdruck in dem schönen Antlitz ihres Gegenübers.

»Ein gefährlicher Retter?« spottete Gabriele. »Wenn mir alle Menschen so ungefährlich wären wie der Bär von Hohen-Esp, so wäre es gut um mich bestellt!«

Schier atemlos starrte Thea sie an. »Der Hohen-Esper rettete dich?«

Gabriele zuckte beinah ungeduldig die Schultern.

»Mein Gott, du fragst mich ja nach meinem Retter, und da muß ich dir doch begreiflich machen, daß nichts an der ganzen Sache gefährlich war, weder er noch der umgekippte Schlitten noch die durchgehenden Pferde. Nichts von alledem hat eine Spur hinterlassen.«

Einen Augenblick später starrte Gräfin Sevarille, noch aufs höchste betroffen, in das lodernde Kaminfeuer, dann faßte sie sich schnell und nickte lebhaft. »Du mußt mir die ganze Begegnung mit dem sagenhaften Menschen einmal getreu beschreiben! Ihr lerntet euch also bereits kennen?«

»Ebenso wie man einen Eckensteher kennenlernt, der zuspringt, wenn einem der Schirm hinfällt.«

Thea lachte gedämpft. »Stellte er sich nicht vor?«

»Nein! Wenn du gehofft hast, der Schlittenunfall sei das erste Kapitel zu einem Roman gewesen, so irrst du gewaltig.«

»Spotte nur, Gabriele! Ich kenn ja deinen Widerwillen gegen Männer, die sich nicht aus Patriotismus spießen und hängen lassen. Mag Graf Guntram Krafft in deinen Augen keine einzige von all jenen hohen Tugenden besitzen, die du so gebieterisch forderst; eins mußt du ihm dennoch zugestehen, daß er sehr hübsch ist.«

Thea hatte mit beinah schwärmerischer Ekstase gesprochen. Gabriele aber lachte ein wenig erstaunt und schüttelte den Kopf.

»Du scheinst ihn gestern abend genauer angesehen zu haben als ich. Er gefällt dir, und das ist viel Glück für den Bärenhäuter ...«

»Nenn ihn nicht so, Gabriele! Du tust ihm Unrecht, und ich mag es nicht hören!«

»Ei, ei! So gewaltig hast du schon Feuer gefangen?«

Komtesse Sevarille legte leidenschaftlich den Arm um die Sprecherin und drückte ihr Gesichtchen mit den nervös bebenden Lippen an die Schulter der Freundin.

»Ach, Gabriele, du hast gut spotten«, sagte sie leise, »du Glückliche hast dein Teil erwählt, du wirst geliebt und liebst wieder! Wenn du es auch noch ableugnest, wir wissen es doch, daß du mit Heidler einig bist. Du hast stets gesagt, daß du meine treue, aufrichtige Freundin bist, bestätige es! Hilf mir, daß ich auch so glücklich werde wie du!« Ein seltsamer Ausdruck lag auf dem reizenden Antlitz mit den hellen Nixenaugen.

Gabriele sprach ihr Empfinden nicht aus und antwortete so freundlich, wie es ihr möglich war: »Wenn ich jemals etwas dazu tun kann, dir das Herz des Grafen zuzuwenden, so soll es gewiß geschehen. Was aber Heidler anbelangt«, die Sprecherin erglühte bis auf den weißen Hals hinab, »so bist du gewaltig im Irrtum, wenn du glaubst, daß ein einziges Wort zwischen uns gefallen ist, was mehr besagt als freundschaftliches Interesse. Wir sind gute Kameraden, weiter nichts.«

»Je nun, was noch nicht ist, wird desto sicherer werden! Apropos ... der Hohen-Esper fährt heute Besuche. War er schon hier, und habt ihr ihn angenommen?«

Wieder brach ein lauernder Blick unter den dunklen Augen hervor und forschte in dem Antlitz des Fräulein von Sprendlingen, Gabriele aber griff gelassen nach ein paar Karten, die zwischen den Büchern des Nebentisches lagen, und reichte sie ihr.

»Vor einer halben Stunde schickte mir die Mama die Karten herüber; soviel ich weiß, hat sie den hohen Besuch empfangen, ich selber ließ mich entschuldigen.«

Die Komtesse war plötzlich sehr guter Laune, strahlend heiter und vergnügt. »Guntram Krafft, Graf Bär von Hohen-Esp«, las sie mit viel Pathos. »Nun adio, ich muß heim!« Thea schob die Visitenkarte in ihren Muff und griff hastig nach der Jacke.

»Bleib doch noch! Es gibt gewiß noch mancherlei zu berichten.«

Aber Komtesse Sevarille hatte es plötzlich sehr eilig.

»War der Graf denn schon bei euch?« fragte Gabriele zum Abschied.

Sie nickte flüchtig. »Die Tournee fängt ja meistens in unserer Straße an. Empfiehl mich bitte deiner lieben Mutter ... und nochmals – adio!«

Wie ein Schatten, schnell und lautlos, flog sie die Treppe hinab.


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