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XXII.

»Nun, es wird mit dem schönen, stillen Wetter vorbei sein«, sagte die Gräfin am Nachmittag des anderen Tages, »der Wind hat aufgefrischt, und die See setzt kleine Kämme auf. Ich denke mir, mein Sohn wird dies Wetter benutzen, um mit dem neuen Segelboot hinauszufahren. Er wartete auf eine frische Brise, um es ausprobieren zu können.«

»Gehen Sie heute an den Strand, gnädigste Gräfin?«

»Das glaube ich nicht. Der Inspektor hat sich mit den Abrechnungen angemeldet. Ich werde wohl den ganzen Abend mit ihm zu tun haben. Wenn Sie aber einen Spaziergang machen wollen, liebe Gabriele, so können Sie getrost auch allein gehen. Hier in unserer Einsamkeit droht keinerlei Gefahr. Der Weg zum Fischerdorf ist kurz und nicht zu verfehlen, und wenn mein Sohn noch nicht gegangen ist, wird er Sie gern bis an den Schuppen begleiten.«

»Ich danke, Frau Gräfin, und ich werde mir wohl einmal das Meer mit seiner krausen Stirn ansehen. Ich kenne es noch gar nicht, wenn es bewegt ist. Der Graf ging bereits nach dem Kaffee zum Strand und wird wohl längst auf hoher See schaukeln; ich fürchte mich aber durchaus nicht, allein zu gehen.«

»Das ist recht! Suchen Sie unsere herrliche See zu verstehen und liebzugewinnen.«

Gabriele schritt nachdenklich die moosigen Waldpfade hinab nach dem Strand. Als sie das schützende Laubholz verlassen hatte, brauste ihr der Wind entgegen. Er riß an ihrem Mantel, er jagte ihr den Hut vom Kopf, und in lustiger Jagd eilte sie dem Flüchtling nach, ihn wieder einzufangen. Welch ein Sturm war das! Das ganze Haar zerzauste er ihr, und das Riedgras und die Seemannstreu bog er tief herab zum gelben Sand. Aber es war schön, wunderschön! Solch ein freies, ungestümes Wettlaufen mit dem Wind, das kannte sie in den engen, eleganten Straßen der Residenz freilich nicht. Und jetzt, als sie über die schützenden Dünen emporsteigt, da liegt es vor ihr, das weite Meer, dunkelblau gefärbt, im vollen Strahlenglanz der sinkenden Sonne. Es dehnt sich nicht mehr so träge und glatt wie ein Präsentierteller, sondern wogt und wallt und wirft hier und dort weiße Schaumköpfe auf.

Ja, das ist wahrlich ein schöneres Bild als sonst! Namentlich die Brandung gefällt ihr, die sich wie duftige, schmale Tüllrüschen an dem Strand entlangschlängelt, spitz auslaufend wie ein zierliches Valenciennemuster oder breit emporspülend um die Haufen von Seetang und angeschwemmtem Gehölz. Ein zarter, silberduftiger Schaum, hier und da von der Sonne mit rosa Dufthauch gefärbt.

Wie lustig dort ein Boot auf den Wellen schaukelt! Am liebsten möchte sich Gabriele hineinsetzen und auf- und niedergleiten durch die blauen Wogen. Käme doch eine Menschenseele, die sie darum bitten könnte! Gabriele wendet sich zurück, blickt nach dem Rettungsschuppen und stößt einen leisen Laut der Überraschung aus. Dort auf der Düne steht Graf Guntrum Krafft, ebenso gekleidet wie heute nacht. Er spricht mit zwei Fischern und scheint ihnen irgendwelche Anweisungen zu geben. Jetzt sieht er sie, und Gabriele hebt freudig die Hand und winkt ihm zu. Er scheint einen Augenblick zu zögern, dann verabschiedet er die Männer und schreitet ihr langsam entgegen.

Ein neuer Windstoß läßt den kleinen Filzhut Gabrieles abermals flüchtig werden, aber sie fängt ihn noch rechtzeitig auf und behält ihn in der Hand.

Immer langsamer schreitet Guntram Krafft. Sein Herz schlägt wieder heiß und ungestüm bei ihrem Anblick, der ihm reizender dünkt als je.

»Wie gut, daß Sie kommen, Graf!« ruft sie ihm heiter entgegen. »Ich hatte Sehnsucht nach Ihnen, große Sehnsucht! Und wissen Sie auch, warum?«

Er begrüßt sie von weitem, ohne ihr die Hand zu reichen.

»Warum?« wiederholt er beinahe mechanisch und drückt den Südwester auf den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht, mein gnädiges Fräulein.«

»Oh, Sie kennen meinen Egoismus noch nicht«, fährt sie harmlos fort, »ich möchte gern einmal in einem Boot hinausfahren in die See, heute, da solch hohe Wellen sind und wir solch argen Sturm haben ...«

Sein lautes Auflachen unterbricht sie.

»Sturm? Sie kennen noch keinen Sturm, heute weht es nur ein wenig, kaum daß man es eine frische Brise nennen kann!«

Er sieht heiter aus, während er spricht, und Gabriele blickt überrascht empor.

»Wenn es Ihr Ernst ist, fahre ich Sie gern. Wir sind eben von einer kleinen Probefahrt zurückgekommen, das Boot liegt noch dort an der Buhne.«

Er spricht so ruhig wie sonst, und Gabriele sieht nicht, wie seine Lippen beben.

Sie dankt ihm mit der freudigen Hast eines Kindes.

Ihr Wesen kommt ihm überhaupt verändert vor, sie ist so fröhlich und gesprächig wie noch nie zuvor, und ihre Augen leuchten zu ihm auf. Täuscht er sich? Oder ist es wahrlich so? Aber so warm und innig blickte sie ihn noch niemals an.

»Wissen Sie auch, daß ich das Meer heute wirklich schön finde? Und den Wind auch? Nun lebt erst die Welt ringsum! Nun atmet sie Abwechslung, nun wird sie mir verständlicher! Ehrlich gestanden, ich habe mir das Meer im Sturm noch gewaltiger gedacht, aber wie Sie sagen, ist es heute noch kein richtiger Sturm.«

»Was nicht ist, kann noch werden. Die Wetterberichte lauten ungünstig, wir erwarten stündlich eine Sturmwarnung. Vielleicht lernen Sie die träge See noch von recht ungemütlicher Seite kennen!«

Sie waren hastig ausgeschritten und standen jetzt vor dem Boot, das zwei Fischer an den Strand schieben wollten. Zur Zeit saß ein alter Mann auf einem Holzstamm und war damit beschäftigt, Reservedollen und Ruderklampen zu schnitzen.

Guntram Krafft rief die Männer in plattdeutscher Sprache an, sie unterbrachen sich, wateten heran und schienen kurz mit dem Grafen zu beraten. Ein prüfender Blick nach dem Horizont, eine ruhig zustimmende Handbewegung.

»Wenn dat nich länger wiehrt, a's 'ne half Stunn', dann geiht dat wull noch an'!« Und sie warfen die Riemen zurecht und bereiteten schweigend das Boot zur Fahrt vor.

Der alte Mann stand auf, nahm die kurze Pfeife aus dem Mund und fragte.: »Sall ik Se beglieten, Herr Graf?«

»Nee, Klaaden, da sull keener mit mi gahn, dat düert hüt nich lang.«

Und dann flüsterte er noch ein paar Worte mit den Schiffern und wandte sich abermals zu Gabriele.

»Es hält sehr lange auf, das Boot ans Land zu ziehen, gnädiges Fräulein; Sie gestatten wohl, daß einer der Leute Sie in das Fahrzeug trägt.«

»Ja, so gehört sich das«, lachte Gabriele ein klein wenig verlegen. Der Fischer aber trat ruhig herzu, nahm Gabriele auf den Arm und watete mit ihr ins Wasser.

»Hollen Se' sick fast!« sagte er und nach einem Augenblick mehr zu sich selber im Kommandoton: »Laß sack'!« Gleichzeitig hob er die junge Dame und ließ sie in das schwankende Boot nieder.

Guntram Krafft kam nun mit schnellen Schritten durch das seichte Wasser, sprang in das Fahrzeug und griff nach den Riemen.

»Ich möchte heute nicht segeln, sondern mich in nächster Nähe des Ufers halten, um erst einmal zu sehen, ob Sie seefest sind, mein gnädiges Fräulein«, sagte er mit schnellem Lächeln. »Für meine Begriffe ist die See sehr ruhig, für die Ihren vielleicht nicht.«

Die starken Fäuste der Fischer machten das Boot frei, der Graf half mit den Riemen und stieß kräftig ab. Hochauf bäumte das leichte Fahrzeug und glitt über die erste Brandung hinaus.

»Und das nennen Sie ruhige See?« fragte Gabriele leise und blickte mit großen Augen in den Gischt, der um das Heck spritzte. »Sehen Sie doch, wie das schäumt und wogt!«

»Ich hoffe, Sie lernen es vom sicheren Land aus noch besser kennen! Heute scherzt und spielt das Wasser nur. Wenn es aber ernstlich böse wird, fahre ich Sie nicht hinaus.«

»Dann ist es gefährlich?«

»Sehr gefährlich! Nicht für mich, sondern für Sie!«

Wieder zuckte ihr Blick zu ihm hinüber.

»Als Sie die Leute der ›Sophie Johanne‹ retteten, war es da solch ein Wetter wie heute?«

Guntram Krafft wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Boot zu. »Die größte Macht des Sturmes war wohl vorüber«, sagte er lächelnd, »und das war ein Glück für die Mannschaft, sonst wäre es unmöglich gewesen, bei derart schwerer See an dem Wrack anzulegen. Es hängt da so viel von der Geschicklichkeit, dem gesunden Urteil und der Geistesgegenwart des Lotsen ab, daß ein günstiger Erfolg nie mit Sicherheit vorausgesehen werden kann.«

Das Boot hatte die Brandung passiert und glitt nun in großen, ruhigen Bewegungen über die Wogen. Der Graf, der erst mit voller Kraft und Aufmerksamkeit gerudert hatte, hielt die Riemen ruhiger und schaute mit sinnendem Blick nach dem Horizont, dem der feurigrote Sonnenball langsam entgegensank und einen breiten, funkelnden Goldstreifen auf das Wasser malte, in den das Boot hineintrieb.

Gabrieles reizende Gestalt war von hellem Purpurlicht übergossen, und ganz verstohlen streifte sie der Blick des Grafen. Sein Atem ging schwer, seine Hände umkrampften die Riemen.

War's ein Traum? Wie oft hatte er es sich voll leidenschaftlicher Sehnsucht gewünscht, so allein, so weltfern und einsam mit der Heißgeliebten auf der wogenden Unendlichkeit des Meeres zu treiben, und nun war es geschehen, nun saß sie ihm nah, ganz nah gegenüber, die zauberischen Nixenaugen so oft mit langem Blick auf ihn gerichtet, das lockige Haar vom Wind verweht, das reizende Antlitz ihm so träumerisch und ernst zugekehrt.

Er atmet schwer auf, streicht langsam über die Stirn und lauscht ihrer Stimme wie im Traum.

»Ihre Frau Mutter sagte mir, ein Sonnenuntergang sei ein verkörpertes, oder besser gesagt, ein gemaltes Gedicht. Ist das auch Ihre Ansicht? Meine Sinne sind wohl noch nicht aus dem tiefen Schlaf erwacht, in dem sie inmitten alles Großstadtstaubes gelegen hatten. Sie haben jüngst am Strand das schlafende Dornröschen schon einmal geweckt, Graf, tun Sie es auch heute! Lehren Sie mich mit Ihren Augen sehen! Was bedeutet für Sie solch ein Sonnenuntergang?«

Er schiebt den Hut weiter aus der Stirn, seine großen Blauaugen bekommen einen weichen, träumerischen Glanz, sein Blick schweift weit hinaus.

»Er bedeutet für mich einen Traum. Ich habe eine Vision. Vor mir wachsen die geheimnisvollen, glutroten Korallen aus der Tiefe des Wassers, sie breiten ihr mystisches Geäst aus über den Himmel, sie flechten ein Netz durch Luft und Wolken, ein Netz von blutfarbenen Zweigen, an dem weiße Perlen schimmern. Über sie hin weht es wie lichte Schemen ... duftig ... wesenlos ... grau verhauchend, sie breiten violette Schwingen aus ... die reichen von einem Ende des Himmels bis zu dem andern ... sehen Sie dort? Da tauchten sie hinab in die grelle Feuersbrunst, die wabernde Lohe, die hinter den Wolkenbergen lodert und ihre Blitzfunken weit empor gegen das Firmament wirft. Sehen Sie, wie die Farben kommen und gehen? Dort schießen mächtige Lilien empor ... wie Phantome ... ein Glorienschein umgibt sie ... riesenhafte Schmetterlinge umgaukeln sie ... und darüber wölbt sich eine Kirchenkuppel, an der grelle Rubine wie zornige Augen sprühen. Sie stürzt zusammen, und nun schlägt eine ungeheure Flamme empor ... Sie wähnen, daß es die Sonne ist? Nein! Es ist das Stück eines Weltenbrandes, der entscheidende Augenblick im wilden Kampf der Titanen. Das Goldgeglitzer aut dem Wasser sind keine Wellen, es sind die goldenen Schuppenringe der Midgardschlange, die sich schillernd windet und auf- und niederrollt. Sehen Sie, wie die Gewaltige den Glutenball verschlingt? Mehr und mehr verschwindet er, und die roten Korallen erbleichen und sinken zusammen ... die weißen Lilien brechen wie stumme Klagen nieder ... die Schmetterlinge zerstieben und treiben wie müde, kleine Wolkenflocken in der Unendlichkeit. Aus dem Meer aber steigt ein wunderholdes Weib mit kristallenen Nixenaugen und windzerzaustem Kraushaar, es hebt mit müdem, strengem Lächeln einen grauen Schleier und breitet ihn über Himmel und Erde, über die Augen des fiebernden Mannes, der solch wunderliche Träume hat, und sie sagt: ›Wach auf! Es ist Zeit, heimzukehren, die Sonne geht unter!‹«

Guntram Krafft schwieg, er sah Gabriele an und lachte plötzlich leise auf. »Und solch närrisches Zeug denkt ein großer, vernünftiger Mensch bei dem Anblick eines Abendhimmels.«

Sie saß ihm gegenüber, die Blicke groß und sinnend auf ihn gerichtet. Unverwandt, wie in staunender Frage.

»Sie sind ein Dichter, Graf Hohen-Esp!«

»Wohl möglich, ich weiß es nur nicht.«

Der Wind erhob sich stärker, das Boot stieg hoch auf und schoß tief hinab im grünglasigen Wassergebirge.

»Sie sehen so blaß aus, Fräulein Gabriele, frieren Sie?«

Sie nickt. »Der Wind ist kalt, lassen Sie uns umkehren.«

Er griff hinter sich nach einem Lodenmantel, der auf der Bank lag, und reichte ihn zu ihr hinüber.

»Ich bitte, legen Sie ihn um. In wenigen Minuten sind wir am Strand.«

Guntram Krafft wandte den Bug des Bootes nach der See hin und strich dem Land zu, jeder heranlaufenden See einige Schläge entgegenrudernd, daß sie das Boot schneller passiere. Wie ruhig er sich bewegte, wie energisch und sicher seine starken Arme das Fahrzeug regierten!

Und wie schön er aussah! Nie hatte Gabriele die glänzendste Galauniform eines Mannes besser gefallen als dieser schlichte, so wunderbar kleidsame Fischeranzug.

Gabriele war noch nie auf bewegter See gefahren. Ihr kam das Auf- und Niedergehen des Bootes gefahrvoll und beängstigend vor, sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug, wie ihre Hände leise erbebten, wenn ein Schaumkamm hoch aufstieg und über das Schifflein hinwegzubranden drohte.

Mit keinem andern Fährmann hätte sie in diesem gebrechlichen Fahrzeug sitzen mögen als mit dem Bären von Hohen-Esp, der ihr so ruhig und unbesorgt gegenübersaß, als habe er nur seine herzliche Freude an dem scherzenden Spiel der Meerfrauen. Immer stärker sauste der Wind, immer schneller schoß das Boot der Küste zu. Guntram Krafft wandte sich um und blickte nach dem Strand.

Eine jähe Betroffenheit malte sich auf seinen Zügen.

»Die Fischer scheinen uns noch nicht zu erwarten«, sagte er, griff mit der einen Hand hastig in die Tasche und führte eine Torpedopfeife an die Lippen. Niemand zeigte sich in den Dünen.

»Wir müssen landen, es wird immer kühler, und der Wind kommt auf.«

»Sind wir noch nicht zur Stelle?«

Das Boot schoß auf den Sand und saß mit hartem Ruck fest, eine kräftige Welle schoß über und übergoß es mit ihrem Spritzer.

Guntram Krafft stand aufrecht und blickte noch immer hilfesuchend nach dem Strand. Dann warf er die Riemen hin und sagte zu Gabriele, indem er sich aus dem Boot schwang: »Wir haben leider keinen Landungssteg hier. Die Brandung duldet ihn nicht. Das Boot liegt aber noch halb im Wasser. Sie müssen gestatten, gnädiges Fräulein, daß ich Sie diese paar Schritte an Land trage.«

Gabriele fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß, aber sie erhob sich und trat sehr ruhig an den Rand des Kahns.

»Das wäre sehr freundlich, Graf, meine Schuhe sind nicht auf Waten eingerichtet.«

Er stand halb abgewandt, legte den Arm um sie, ohne sie anzusehen, und hob sie an seine Brust.

Mit sehr hastigen Schritten erreichte er den trockenen Strand und ließ die junge Dame sanft hinabgleiten. Droben in den Dünen erschienen im Laufschritt die Fischer.

»Wollen Sie die Güte haben, vorauszugehen, wir müssen das Boot erst bergen.« Seine Stimme klang rauh, atemlos.

»Ich habe Ihnen so viele Mühe gemacht, Graf, ich danke Ihnen von Herzen!« Sie reichte ihm die Hand, und er umschloß sie mit kurzem, krampfhaftem Druck. Er murmelte ein paar Worte, sie verstand sie nicht; der Wind brauste, und Gabriele eilte geneigten Hauptes zur Burg.


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