Paul Ernst
Prinzessin des Ostens
Paul Ernst

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die sonderbare Stadt

Unmittelbar nach dem Kriege mit Japan hatte die Chinese Railroad Company von der chinesischen Regierung die Erlaubnis bekommen, zum Zweck eines vorläufigen Kostenanschlages und schätzungsweiser Rentabilitätsberechnungen oberflächliche Vermessungen für eine Eisenbahnlinie von Canton bis Ya-Tscheu-Fu zu veranstalten. Man wußte zwar, daß die Regierung einem wirklichen Eisenbahnbau doch noch Hindernisse in den Weg legen werde, hoffte die aber durch Bestechungen und dergleichen hinwegräumen zu können, falls sich, was die vorläufigen Erkundigungen erst feststellen sollten, der Bau überhaupt entsprechend lohnen würde. Nach den chinesischen Angaben hätte die Bahn weite Strecken unbewohnten und unbewohnbaren Gebietes zu durchkreuzen gehabt, das nie einen Verkehr liefern würde. Das mußte die Rentabilität natürlich stark herabdrücken.

Die Aufgabe der Expedition beschränkte sich demgemäß nicht auf rein technische Arbeiten, sondern die Gesellschaft wünschte auch eine Art wirtschaftlichen Gutachtens zu erhalten. Es waren daher den Ingenieuren noch eine Anzahl anderer Personen beigegeben, die man in diesen Dingen für kompetent hielt.

Bis zur Grenze des bewohnten Gebietes hatten sich die chinesischen Karten als leidlich zuverlässig erwiesen; auf äußerste Exaktheit kam es zunächst noch nicht an. Nach etwa sechswöchigem Marsch war jedoch die Grenze erreicht, bis zu welcher die mitgebrachten Kartenwerke Angaben enthielten. Schon seit einigen Tagen hatte man am Horizont eine sich weithin dehnende Erhebung gesehen. Sie zog sich in ununterbrochener Linie hin, wie es schien von Osten sanft aufsteigend und im Westen schroff, fast senkrecht abfallend. Beim Näherkommen entdeckte man, daß ein dichter Wald den Fuß des Gebirges von dem umgebenden Lande schied. Die Bewohner der letzten Dörfer vor diesem Walde, die einen seltsam altertümlichen Dialekt sprachen, erklärten, daß ein Weg nicht vorhanden sei; nur ein schmaler Steig von der Breite, daß ein mit Holz beladener Esel passieren konnte, führte in das Dickicht. Nach etwa halbtägigem Vorwärtsdringen verlor sich auch dieser, und es galt nun, durch die mitgebrachten Arbeiter einen Weg nach dem Kompaß schlagen zu lassen.

Etwa fünf Tage lang rückte der Zug langsam durch den dichten Wald vor. Durch das Fernrohr hatte man von einem hohen Baum bereits gesehen, daß das Gebirge gänzlich vegetationslos war. Am Morgen des sechsten Tages kam man aus dem Wald heraus, der wie abgeschnitten vor der schroffen Erhebung aufhörte, welche in einem Winkel von fast 45° vor ihm aufstieg.

Das Gestein war dem Anschein nach eine Art Obsidian. Es wies gewöhnlich mehrere Meter große, spiegelglatte Flächen auf, die meistens dunkelgrau bis dunkelbraun waren, zuweilen von helleren Flammen durchzogen; die Brüche, die offenbar bei der Erstarrung der einst feuerflüssigen Masse entstanden waren, zeigten messerscharfe Kanten, wie sie zerspittertes Glas hat; in diesen Brüchen stand die Masse einen bis zwei Finger breit auseinander. Von irgendeiner Vegetation war, wie schon erwähnt, keine Spur. Die äußersten Bäume des Waldes hatten bis unten hin reichende Zweige, die sich in geschwungenen Bogen niederneigten; zwischen ihren letzten Blättern stieg der blanke Glasberg auf. Es war klar, daß, wenn die Sonne erst den Kamm des Gebirges überschritten hatte und ihre Strahlen auf das Gestein fielen, kein Mensch den Anblick ertragen konnte. Und selbst wenn man die Augen schützte, so schien doch keine Möglichkeit, diese Höhe zu erreichen, da der glatte Stein bei der Steilheit des Anstieges jedes Haften des Fußes unmöglich machte. Man hätte vielleicht mit unendlicher Mühe Stufen bis oben hin schlagen lassen können: aber das Gestein löste sich bei dem Versuche der Bearbeitung in großen, muschelförmigen Halbkreisen los, und durch die entstandenen scharfen Splitter wurde der Weg nur noch gefährlicher.

Einer der herumsuchenden Arbeiter brachte die Scherben einer grünlichen Porzellankanne an, die er am Fuße des Berges frei liegend gefunden hatte. Der Drachenstempel bewies, daß es Porzellan der kaiserlichen Hofhaltung war, und nach der ganzen Arbeit mußten es die Überbleibsel eines uralten Stückes sein, vielleicht aus der Zeit der Tschudynastie, die vor fünftausend Jahren blühte. Trotzdem die Kanne sich aus den Scherben nicht völlig ergänzen ließ – es fehlte ein Stück von etwa Talergröße am oberen Rande – packte man den Fund doch sorgfältig ein, da Porzellane von derartigem Alter immer sehr wertvoll sind.

Der Leiter der Expedition hatte bald die Überzeugung von der Nutzlosigkeit jeder Bemühung an dieser Stelle gewonnen. Kurz entschlossen befahl er, nach rechts weiter einen Pfad durch das dichte Gehölz zu schlagen, parallel dem Bergzug, um einen leichteren Aufstieg zu gewinnen, denn auf dieser Seite hatte man ja das Gebirge von weitem abfallen sehen. Zwei Teilnehmer der Expedition, ein Ingenieur Richardson und ein Herr Garret, welche die Meinung hatten, daß man zur Linken sehr bald einen bequemen Aufstieg finden werde, trennten sich von den übrigen, die ja nicht zu verfehlen waren und schnell wieder eingeholt werden konnten, da sie sich den Weg immer mit Äxten und Messern bahnen mußten. Die beiden hatten nämlich bemerkt, daß trotz des aus der Ferne beobachteten Ansteigens des Gebirges nach links, doch der Erhebungswinkel abfiel, und sie schlossen, daß die Erstarrung des vulkanischen Gesteins wahrscheinlich ungleichmäßig vor sich gegangen sei und daß sich dadurch steile Falten gebildet haben, auf deren eine sie unglücklicherweise gerade gestoßen wären, und zwischen denen dann natürlich flachere Stellen vorhanden sein müßten. Da sie keine Tiere mitführten, so konnten sie sich einfach am Saum des Waldes entlang bewegen, ohne sich einen Weg durch das Dickicht bahnen zu müssen. Sie versahen sich jeder mit einer Flinte und Patronen, sowie mit einem großen und starken, im Griff mit Blei eingelegten Hackmesser, das dazu dient, den Weg im Urwald frei zu machen und noch armdicke Lianen durchschlägt; dann bestimmten sie ein paar Leute, die einige Lebensmittel zu tragen hatten, und darauf machten sie sich auf den Weg.

Nach etwa halbstündigem Klettern zwischen den Zweigen und auf der schiefen Spiegelfläche hatte man in der Tat eine Senkung erreicht, von wo der Aufstieg wenigstens nicht geradezu unmöglich schien. Die beiden Europäer entledigten sich der Stiefel, um besser auf dem glatten Boden haften zu können, und alle stiegen vorsichtig, um die Splitter und Sprünge zu vermeiden, nach oben. – In kaum zwei Stunden hatten sie die Höhe erreicht. Die Sonne, die bis jetzt hinter dem Berge gestanden hatte, erweckte auf der Hochebene ein derartiges Leuchten und Flimmern, daß alle sofort die Augen schließen mußten. Zum Glück trugen beide Europäer Brillen. Sie schwärzten mit Hilfe angesteckter Streichhölzer die Gläser mit Ruß und konnten nun alles betrachten. Die Träger wurden zurückgeschickt; Richardson gab ihnen einen Brief an den Chef mit, der diesem das Gelingen ihres Versuches mitteilte.

Es fiel beiden auf, daß sowohl sie wie die Diener flüsternd sprachen infolge der lautlosen Stille um sie. Bis die übrige Expedition ankam, hatten sie genügend Zeit, sich umzusehen; mindestens fünf Stunden hatten sie vor sich. – Von ihrem Standpunkte aus konnten sie weit in das gänzlich ebene Land hinausblicken. Vor ihnen dehnte sich zunächst das einförmige Grün des Waldes aus, ununterbrochen, wie ein Moosteppich. Dann sahen sie das angebaute Land mit seinen geradlinigen Abteilungen; eine große Menge Dörfer mit grünem Gebüsch; ganz weit hinten am Horizont konnten sie noch einen Strom entdecken, den Pi-li, den sie vor zehn Tagen überschritten hatten; in der Luftlinie betrug die Entfernung höchstens vier Tagereisen. – Der Boden der Hochebene war von derselben glasartigen Masse gebildet wie der Abhang. Jedoch hatte sie hier ein kristallinisches Gefüge. Sie spaltete sich in rechteckige Platten von meistens etwa einem Meter Länge und einem halben Meter Breite, deren Dicke nie über fünf Zentimeter betrug. Den beiden Ingenieuren war es sofort klar, daß man hier ein vortreffliches Material für alle möglichen Bauzwecke besaß. Falls die Bahn zustande kam, konnte man die Platten bis zum Pi-li per Achse befördern und sie bei der billigen Wasserfracht selbst bis Canton mit Nutzen schicken. Auch hier zeigte sich ihnen wieder, welche ungeahnten Reichtümer die modernen Verkehrsmittel in den scheinbar aussichtslosesten Gegenden zu entwickeln vermögen.

Die Ebene dehnte sich offenbar viele Stunden weit aus und war überall mit den Platten bedeckt, die oft übereinander geschoben und zerbrochen waren. Die beiden orientierten sich zunächst sorgfältig nach dem Kompaß und gingen dann, nachdem sie ihre Stiefel wieder angezogen hatten, vorsichtig wegen der Glassplitter, eine Strecke geradeaus. Sie waren beide Leute von starken Nerven, die vor allem immer an technische und geschäftliche Dinge dachten; trotzdem fühlten sie sich beängstigt durch diesen gänzlichen Mangel an Leben und Bewegung und die lautlose Stille auf dem unabsehbaren Trümmerfeld. Sie sprachen nicht und traten leise auf.

Nach etwa halbstündigem Wandern hatten sie plötzlich einen Anblick, der sie überraschte, da sie die Augen immer ängstlich auf den Boden vor sich gerichtet hatten. Eine fast kreisrunde Vertiefung von vielleicht einer halben Meile Durchmesser war dicht vor ihren Füßen. Die Glasfelsen fielen zu allen Seiten glatt ab in eine Tiefe, die doch wohl an hundert Meter betragen mochte. Da die Sonne noch reichlich schräg stand, so lag etwa die Hälfte des Kessels im Schatten, die andere Hälfte im Sonnenglanz. Unten war offenbar das Gestein künstlich geordnet zu Häusern und Straßen. Ein Marktplatz war deutlich zu erkennen mit einem größeren Gebäude. Aber auch hier war alles leblos und unbeweglich.

Garret versuchte zu lachen, allein es kam ein ganz sonderbarer Ton aus seiner Kehle. Richardson kehrte sich um, sah ihn mit durchdringendem Blick an, und ging dann vorauf zu der Mündung eines schmalen Fußsteiges von etwa drei Fuß Breite, der in Windungen in die Tiefe führte. – Sie stiegen schweigend abwärts. Die Häuser waren aus den Platten zusammengesetzt, wie es schien, ohne Verwendung eines anderen Materials. Sie erhoben sich zu etwa doppelter Mannshöhe mit Dächern von einer derartigen Winkelstellung, daß sich die Platten durch ihre eigene Schwere hielten. Für die Fenster waren in unregelmäßigen Zwischenräumen handbreite Ritzen gelassen. Auch die Türen waren aus den Platten hergestellt. Sie hatten oben und unten herausgeschlagene und geschliffene Zapfen, die sich in runden Löchern der oberen und unteren Schwelle bewegten. Es würde die beiden interessiert haben, zu wissen, welches Material verwendet war, diese Zapfen auszuschleifen, denn der Stein war ja härter wie Stahl.

Sie stießen die Tür des ersten Hauses auf. Sie bewegte sich leicht und geräuschlos. Der innere Raum war ziemlich hell und ganz leer, an der Erde lagen einige kleinere Bronzestücke, deren Bedeutung ihnen nicht klar wurde. – Genau so fanden sie es in den zwei oder drei nächsten Häusern, die sie öffneten. Sie gingen dann weiter mit leisen Schritten, fast gleitend auf dem glatten Boden, in den engen, aber schnurgeraden Straßen und traten erst wieder in ein Haus, das größer war als die bisherigen. Auch hier sahen sie wieder nur einen einzigen Raum innen. Am Boden lag ein großer Edelstein, zwei große goldene Ringe, wie sie in den Ohren getragen sein mochten, ein goldenes Halsband, drei Spangen für den linken Arm, ein Gürtelschloß und zwei Beinspangen für jedes Bein; das alles in so deutlicher Ordnung, daß man sah, hier hatte ein mit diesem Schmuck bekleideter Mensch gelegen, der gänzlich aufgelöst war, mit seinem Fleisch, seinen Haaren, seinen Knochen und seinen Gewändern. Nur die unzerstörbaren Metallstücke und Steine waren übrig geblieben. Es fiel den beiden ein, daß die rätselhaften Bronzeteile in den anderen Häusern von allerlei aufgelöstem Gerät herrühren mußten.

Daß dieser Mensch hier gestorben war, das war vermutlich doch mindestens so lange her, wie die Scherben der Porzellankanne auswiesen. Es fiel Garret ein, daß wahrscheinlich Ameisen dem natürlichen Auflösungsprozeß nachgeholfen hatten, und es war ihm, als ob er eine Art Rührung empfand bei dem Gedanken, daß nun auch diese Ameisen seit fünftausend Jahren gestorben waren, und daß seit dieser Zeit keine Ameise, auch keine Eidechse oder Maus hier gewesen sei. – Der Leib mußte in Kreuzesform gelegen haben, lang, die Beine geschlossen, und die Arme von sich gestreckt. Sie nahmen nichts von den wertvollen Schmucksachen an sich, nur auf den Zehenspitzen und vorn übergebeugt, standen sie und sahen, und dann gingen sie leise auf den Zehenspitzen hinaus. – Plötzlich kamen sie auf die Frage, wie hier hatten Menschen leben können. Die Stadt mußte viele tausend Einwohner gezählt haben. Und hier wuchs kein Grashalm, war kein Tropfen Wasser!

Sie kamen auf den Markt. Richardson bückte sich und wies mit dem Finger auf eine große Menge Schmuckstücke hin, allerhand aus Bronze, auch gelegentlich edlem Metall, wie kleine Ringe, Ketten u. dergl., die hier überall zerstreut lagen. Ob hier vielleicht, auf diesen parkettartigen Steinfliesen, eine Menge von Toten gelegen hatte, von denen nur noch diese Metallteile zeugten? sie gingen vorsichtig; es war ihnen, als müßten sie sich fürchten, auf irgendeinen der umherliegenden Gegenstände zu treten. – Zum Schloß hinauf, das in der Mitte des Marktplatzes stand, führte eine breite Freitreppe. Hier lagen noch mehr Metallstücke wie unten. Es war hier nicht zu vermeiden, ab und zu auf einen Ring oder etwas Ähnliches zu treten, das dann auf dem Boden einen quietschenden Ton hervorrief, der bis in die Zähne hinein weh tat. Hier mußten die Leichen hoch übereinandergeschichtet gelegen haben.

Ja, wie war denn das! Die Bronze hatte kein Patina. Sie hatte den Glanz, den sie bei beständigem Gebrauch und häufigem Putzen erlangt. Es war doch unmöglich, daß in der Nähe eines solchen Waldes die Luft so trocken sein konnte! Und dann, die Leichen hatten sich doch langsam zersetzt! Da mußte doch die Bronze grün anlaufen! – Am Eingang war ein Pfeiler, mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt. Richardson, der des Chinesischen mächtig war, las. Dann sagte er zu Garret, der unterdessen von der obersten Stufe die tote Stadt betrachtet hatte, daß in dem Schloß ein Mädchen sitze, das sie sich hüten müßten, zu berühren.

Sie traten ein. In der Mitte war ein Thron mit Stufen. Darauf saß ein Mädchen mit europäischen Gesichtszügen und in einem Brokatgewand, das etwa altportugiesisch sein mochte. Sie hatte dunkle, starre Augen, und in der Mitte der Stirn, zwischen den Augen, eine seine Falte.

Die beiden Ingenieure bestiegen den Thron. Das Mädchen rührte sich nicht, und man mochte glauben, eine angekleidete Wachspuppe mit Glasaugen zu sehen. Garret streckte beide Arme nach ihr aus. Richardson wollte ihn halten, aber der Unglückliche riß sich los und stürzte auf die Figur zu, die er mit der linken Hand bei der Hand faßte. In dem Moment stieß er einen entsetzlichen Schrei aus und schrak zurück. Die Spitzen des Zeige- und Mittelfingers waren kohlschwarz. Richardson riß sofort sein Hackmesser aus dem Gürtel, befahl ihm durch einen Wink, die Hand auf die Stufe zu legen, und hackte das erste Fingerglied ab. Aber während die zuerst weißlichen Schnittflächen sich röteten und dann das Blut herausströmte, bildeten sich an den Fingerstümpfen Kreise, die, erst hell, immer dunkler werdend, sich schnell vergrößerten. Richardson hackte ein zweites Mal zu, während Garret die Zähne zusammenbiß; die Finger waren an der Wurzel abgeschnitten. Garret versuchte zu lächeln. Aber mit einem Male zeigte sich mitten auf dem Handrücken ein ganz kleiner Fleck, groß wie ein Stecknadelkopf, der im Nu Pfefferkorngröße annahm. Richardson schrie laut auf und hackte von neuem; diesmal fiel die ganze Hand vom Handgelenk ab. Das Blut strömte heftig; aber die beiden achteten nicht darauf. Garret hatte den Rock abgeworfen und den Hemdärmel hochgestreift und besah forschend den Arm. Die Ansteckung schien nicht höher gekommen zu sein. Richardson reichte ihm ein Taschentuch und trennte mit dem Messer einen Streifen von dem Leinenrock ab, um zu verbinden. Plötzlich stöhnte Garret entsetzlich auf. Etwa zwei Finger breit oberhalb der Wunde befand sich bereits ein Fleck von Zehnpfenniggröße. Richardson zielte mit dem Messer und hieb den Stumpf im Ellenbogen ab. Jetzt war es das erste Mal, daß Garret sprach. »Sonderbar, es tut gar nicht weh.« Aber dann zeigten sich auch oberhalb der neuen Wunde Flecke. Er ergriff selbst das Messer und schälte das Fleisch die Knochen hinunter ab. Dabei machte er ein grinsendes Gesicht. Richardson fürchtete, er werde vor Entsetzen die Stufen hinunterfallen. Garret fetzte mit wütender Eile in seinem Fleisch. Plötzlich ließ er das Messer fallen, schrie mit einer merkwürdigen Stimme, so daß es Richardson im Herzen weh tat, stürzte in die Knie, zuckte noch einmal zusammen und war tot. Die Figur auf dem Throne hatte sich nicht gerührt, auch nicht mit der Wimper gezuckt. Richardson riß seine Büchse von der Schulter, eine treffliche Winchesterbüchse, die in London achtzehn Pfund gekostet hatte, und legte, an. Er zielte auf die Falte zwischen den Augen. Aber dabei kam ihm ihr Blick ins Auge. Und da huschte sein Leben vor seiner Seele vorbei wie eine Schwalbe. Er nahm das Gewehr ab, schlug die Sicherung vor und ging. Er ging den Weg zurück, den er mit Garret gekommen war, und kam bis zu dem Ort, wo die Träger sie verlassen hatten. Da es ihm unheimlich wurde, allein zu bleiben, so stieg er hinab und traf unten seine Genossen. Nach Garret fragte ihn niemand. Er wunderte sich darüber, aber er selbst sagte auch nichts über das Erlebnis. Abends stieg die gesamte Expedition den Abhang hinauf. Das Plateau erwies sich als nicht so breit, wie es ihm vorher erschienen war; man hatte es bald durchquert und fand auf der anderen Seite wieder bebautes Land.

Nach einiger Zeit brachte Richardson, wie unbeabsichtigt, das Gespräch auf Garret. Er hörte aus den Reden, daß sein Freund in Canton gestorben war, ehe die Expedition sich aufgemacht hatte. Er wunderte sich, daß er das hatte ganz vergessen können.

Aber hatte er denn geträumt seit der Abreise von Canton bis jetzt? Seine Erinnerungen stimmten doch mit denen der übrigen! Da, wo mit Garret etwas geschehen war, wie beim Übergang über den Pi-li, wo man ihm die Rettung eines Esels mit wichtigen Instrumenten verdankte, schienen die übrigen leicht verlegen zu werden. Und dann hatte doch die Braut Garrets beim Abschied so geweint und ihm eine weiße Rose gegeben!

Und er dachte sich, wie Garret auf den Stufen des Thrones liege, wo die Mädchenfigur saß, welche vielleicht lebte, und daß sein Körper in den Jahrtausenden zu Staub zerfallen werde.


 << zurück