Paul Ernst
Prinzessin des Ostens
Paul Ernst

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Der Einsame

Auf einer blühenden Wiese lag ein Jüngling. Er hatte die Augen geschlossen, und auf seinem Gesicht brannte die Sonne. Rot schien es ihm durch die Augenlider, und es klopfte in ihm. Er lag ganz still, die Arme unter dem Kopf gekreuzt, und war sehr fröhlich inwendig.

Als er spürte, daß ein Wölkchen vor der Sonne vorbeizog, öffnete er blinzelnd seine Augen. Die Wölkchen oben zogen. »Ja, sie ziehen über die Welt hin,« dachte er. Und das schien ihm plötzlich so merkwürdig, daß die Wolken über die Welt hin zogen.

Nachher dachte er sich, wie sonderbar das sein müßte, wenn er so auf einer Wolke säße, und die Beine herunterbaumeln ließe, und seine Nase vorstreckte, und auf die Welt unten sah, auf Wiesen, Wälder, Felder und Kühe. Wie dann die Leute zusammenlaufen würden und mit Peitschenstielen nach ihm zeigen, er aber rauchte oben vergnüglich aus seiner Tonpfeife. Auch kleine Kinder würden da stehen und hochsehen und dabei den Finger im Mund halten.

Eine Ameise krabbelte vorn auf seinem Rock, einem schwarzen Kandidatenrock. Der Ameise erschien er mit seinem Anzug sicher nicht anders, wie etwa ein Baumstamm. Aber die Grashalme kamen ihr doch so vor, wie uns die Bäume im Wald. Ja, und die hohe Kälberkropfstaude, die da zu seinen Füßen sich erhob, wie ihr die wohl vorkam mit ihren breiten Dolden – als Kind machte man ja Spritzen aus den Stengeln; auch aus Löwenzahn, aber die gingen nicht – ja, und wenn er nun eine Ameise wäre, dann wäre er doch im Ameisenhaufen, der hatte so viel hohe und gekreuzte Gänge, wo alles wimmelte. Da war auch eine Königin, und der würde er einen Heiratsantrag machen, ob sie ihn aber erhören würde, das war eine andere Sache. Er konnte ja auch nach Holland gehen und dort der kleinen Königin sagen, sie solle seine Frau werden. Die würde ihn schön auslachen. Aber lieb hatte er sie doch! Auf den Briefmarken war sie immer so ein kleines Mädchen. Er würde natürlich mit ihr in Holland wohnen, wo man des Sonnabends die Straßen aufscheuert und dann reinen Sand streut. Auch hat man dort viel schönes Porzellan, und es gibt da Porzellankühe, die ganz wunderbar sind.

Nachdem er dies gedacht hatte, begann er gemächlich mit den Beinen zu strampeln, und es fiel ihm dabei der Vers ein:

Wer des Lebens Unverstand
Mit Wehmut will genießen,
Der stemme sich an eine Wand
Und strample mit den Füßen.

Hiernach stand er auf, setzte den Hut in den Nacken und schlenderte weiter, dem Walde zu, in dem es Rehe gab.

Schaumkraut und Hahnenfuß und Fuchsschwanz wuchsen auf der Wiese, und Veilchen, und ganz versteckt unter gekreuzten Grashalmen sah er ein Marienblümchen. Das Marienblümchen kam ihm so treuherzig vor mit seinem gelben Kreis in der Mitte und den weißen Strahlen herum, und er dachte: ja, da wächst es nun zwischen dem Gras, und steht da, und weiß gar nicht, weshalb, und denkt, das muß so sein, aber du, Mensch, hast immer Angst vor dir. Und wozu lebst du denn eigentlich? Das Marienblümchen sieht, wie am Morgen die Sonne aufgeht, und wie der Tau fällt, und wie die Sonne steigt, und dann wird's heißer, aber es steht immer zwischen seinem Gras und sieht ruhig und mit gutem Gewissen in die Höhe; und dann sinkt die Sonne, und es wird dunkel, aber das Blümchen hofft zuversichtlich, daß morgen die Sonne wieder aufgehen wird. Es ist das Einzige in seiner Art auf viele Schritte im Umkreis und sieht nur Fuchsschwanz und Sauerampfer und Arnika und Gras, aber es ist doch zufrieden und ruhig, und lebt in einer stillfröhlichen Liebeinsamkeit. Aber du, Mensch, bist allein auf dieser Wiese und hast Angst vor dir und sehnst dich, ohne daß du einen Menschen finden kannst, denn die Wiese blüht wohl lustig, und der Wald steht wohl hellgrün und hat goldige Lichtflecke auf dem Boden und an den Stämmen, aber es gibt ja keinen Menschen sonst außer dir, denn dich liebt niemand, und du hast niemand lieb, und was du für Menschen gehalten, das sind nur Traumbilder, die du selber erzeugt hast.

Da fühlte er die Angst von hinten, und er ging eilig weiter, ohne auf etwas zu achten, und er hatte das Bewußtsein, daß er sich nicht umblicken dürfe, weil es hinter ihm »entsetzlich« sei; ja, an das Wort »entsetzlich« dachte er ausdrücklich. Er zwang sich, langsam zu gehen, denn er wußte, wenn er erst anfing zu laufen, so wurde er von der Furcht vollständig übermannt und stürzte zu Boden. Als er an den Rand des Waldes kam, blühten auf einer weiten Strecke Maiglöckchen, und eine metallisch schimmernde. Fliege war da. Er dachte, daß er sich doch jetzt ein Herz fassen müsse und sich umdrehen, bevor er in den leise schauernden Wald mit den hohen Buchenstämmen eintrat; er würde dann hinter sich die bunte Wiese sehen und kleine Schmetterlinge, und den lieben Himmel.

Aber als er sich umdrehte, da sah er hinter sich das Nichts. Das war eine schwarze Nacht, die in gerader Linie sich senkrecht an dem äußersten Ende erhob, wo sein Fuß stand; als er entsetzt seinen Arm ausstreckte, erschien dessen untere Hälfte abgeschnitten; und lautlos war es. Er stieß einen Schrei aus, daß er sich selber vor ihm fürchtete, und dann lief er geradhin in den Wald. Und er wußte, daß hinter ihm die Bäume und die Maiglöckchen und die trocknen Blätter am Boden lautlos in die schwarze Nacht übergehen würden, die dem Laufenden in gleicher Schnelligkeit folgte. Dann dachte er, daß sie ihn überholen werde, und daß er erst mit einem kleinen Teil seines Körpers im Nichts sein werde, dann immer mehr, dann mit der Hälfte, und dann ganz. Da lief er immer schneller. An einem Förster kam er vorbei, der ihn verwundert ansah; der wußte ja nicht, daß hinter einem das Nichts ist. Wenn er mit der Eisenbahn führe, so würde er noch schneller vorwärts kommen, und die Bäume würden in das Nichts hineintanzen. Tanzen würden sie. Er aber lief. Und wenn er nicht mehr konnte, so zog das Nichts über ihn hinweg, ruhig, wie eine Nebelwand weiterfließt.

Dann stürzte er auf den Boden, und blieb dort liegen, das Gesicht in die Arme gedrückt, auf der Erde.

Lange lag er so.

Und als er aufstand, sah ihn ein Eichhörnchen mit glänzenden Augen an und huschte dann um den Baum, um oberhalb derselben Stelle wieder zu erscheinen. Und ganz weit weg hämmerte ein Specht in der Stille.

Es dachte in ihm: »Die Natur ist schön, aber sterben muß man doch.« Er wunderte sich über die sonderbaren Worte. Auch fiel ihm ein: »Mitten im Leben wir vom Tod umfangen sind.«

So ging er nun, mit zitternden Knien.

Er ging durch einen feuchten Hohlweg, wo Farnkraut überhing. Bevor er aus dem Walde heraustrat, lag eingerahmt durch die letzten Bäume vor ihm das Dorf mit Bäumen und der Kirche. Zwischen junger Saat ging er, die schon angefangen hatte, zu schießen. Hinter ihm war das Nichts, aber er wußte jetzt, daß es ihn nicht verschlingen durfte, sondern vor ihm haltmachen mußte; ja, wenn er zurückging, so mußte es auch zurückfließen.

So trat er ins Dorf, wo die Leute die Mützen vor ihm abzogen, Er grübelte. Ja, jetzt schritt er durch das Dorf. Und hinter ihm schluckte das Nichts alles ein. So ging er durch das Dorf und weiter die staubige Landstraße hinab, zu deren beiden Seiten gewundene Obstbäume standen. Diese Obstbäume schluckte das Nichts, Paar für Paar, während er weiter schritt. Lautlos geschah das.

Und über die weite Erde zog er, über der am blauen Himmel die Wolken flogen und die Sonne schien. Vor ihm war das blühende Leben, und Maikäfer surrten, auch hopple von weitem schwerfällig ein Hase, und hinter ihm floß das Schweigsame und Schwarze. Deshalb nannte er sich den Wanderer des Todes.

Er mußte aber doch lachen, als er sich so nannte. Denn es gab ja überhaupt gar kein Leben, und das, was er als »das blühende Leben« bezeichnete, war nur etwas, das in seinem Herzen war, und das er zu seiner größeren Bequemlichkeit vor sich sah, weil er sich doch nicht die Brust aufschneiden wollte wegen einer solchen Kleinigkeit. Es war sein eigener Traum, in den er hineinschritt, und hinter ihm war die Wahrheit. Deshalb war er ja auch einsam, und das Herz tat ihm weh. Einen Hund hätte er wohl gern gehabt, so einen treuen Hund, der sich gefreut hätte, wenn er nach Hause kam, und der seinen Kopf auf sein Bein legte und ihn mit guten Augen ansah.


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