Paul Ernst
Prinzessin des Ostens
Paul Ernst

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Die beiden Pilger

Eine Felswand fiel mehrere hundert Fuß steil ab wie eine Mauer. Ungefähr in der Mitte ihrer Höhe führte ein schmaler Pfad, gerade hinreichend für eine einzige Person. Er war fast ganz in den Felsen hineingehauen, und nur selten benutzte er einen schmalen natürlichen Vorsprung.

Das Gestein war nackt und braun. Aber zuweilen hing eine dünne Brombeerranke nieder und streifte den Hut des Wanderers. Diese Felswand zog sich wohl zwei Stunden weit hin. An ihrem Fuß dehnte sich ein Tal aus, das lachte. Da waren weite hellgrüne Wiesenflächen, zwischen denen sich der silberne Strom hinzog, und geradlinige Äcker, die braun oder goldgelb waren; und ganz weithin erhob sich schroff eine zweite Wand gegen den dunkelblau leuchtenden Himmel; auch sie war nackt und braun, und nur oben war ein ganz dünner, dunkler Strich gegen den Himmel. Das war der Wald. In der Mitte des Tals, an dem Strom, lag das Kloster, das aus braunen Steinen gebaut war und in dem Glocken läuteten.

Der Felsweg durfte aber nur abwechselnd den einen und den andern Tag von der einen und der andern Seite begangen werden, damit sich nicht zwei Wanderer mitten auf ihm trafen; denn weil er zu schmal war, so konnte keiner an dem andern vorbei; und es war auch nicht möglich, auf ihm umzukehren.

Nun gingen eines Tages gleichzeitig zwei Pilgersleute von den entgegengesetzten Seiten auf den Weg. Jeder trug einen Muschelhut, einen braunen Mantel und Sandalen; in der Hand hielt jeder einen mit Eisen beschlagenen Pilgerstab. In der Mitte des Weges trafen sie einander. Da hing eine blühende Ranke herab, um welche Bienen summten. Die Pilger blickten einander ins Auge, und es fand sich, daß sie sich gleich sahen wie Zwillinge. Sie versanken in gegenseitige Betrachtung. Die Sonne stand in der Mitte des blauen Himmelsbogens, und es blitzte viel in dem Fluß unten. Während sie einander ins Auge blickten, bemerkte jeder, daß der andere immer dieselbe Bewegung machte wie er selber, als ob der eine immer des anderen Spiegelbild sei. Und plötzlich wußten sie auch, daß jeder vom andern alles wußte und daß das genau dasselbe war, was sie beide in sich hatten, und was ihnen früher geschehen war. Da wurde es jedem klar, daß der andere er selber sei; und sie gingen mit zitternden Knien aufeinander zu, aber in einer Spanne Entfernung blieben sie dann wieder stehen, denn jeder spürte deutlich, daß der andere genau ein wirklicher anderer war.

Zwischen ihnen hing die Brombeerranke; und ihre Blüten und zackigen Blätter zeichneten sich als Schatten auf der Wand ab.

Sie schwiegen lange und sahen einander traumverloren ins Gesicht. Und nach einer langen Weile tönte ganz dünn von unten herauf das Läuten der Klosterglocken; ihre Lippen bewegten sich leise zum Gebet, während sie eng, mit herabhängendem Arm, an die steile Wand gepreßt standen. Ein dünner Rauch, durchsichtig blau, kräuselte sich vom Kloster in die Luft.

Sie dachten auch, wie es wäre, wenn sie durch die Luft hindurchschritten, wie auf einer kristallenen Brücke, über das Tal mit dem Fluß, den Äckern, dem Kloster, zum jenseitigen Gebirge.

Das aber quälte doch jeden am meisten: ob der andere wirklich er selber sei oder wirklich ein anderer; und wenn nun der andere er selber war, was denn dann er sei, der nicht der andere war? Jeder wußte: sie waren gestern abend bei frommen Leuten eingekehrt, und dann waren sie heute früh mit einem Segensspruch weiter gewandert; er und der andere, sie waren viele Monate gepilgert; sie hatten am Heiligen Grabe gekniet. Aber damals war es doch nur einer gewesen, der andere war noch nicht da; und wie war denn das möglich, daß er ihn nicht hätte bemerken sollen?

Da hörten sie jeder hinter sich ein leises, vorsichtiges Tappen, wie von Sandalen, und dann eine freundliche Stimme, die sprach: »Geh weiter, Brüderlein, geh vorwärts, Brüderlein.« Hinter jedem von beiden stand wiederum ein Pilgersmann, der genau so aussah wie sie: in Muschelhut und braunem Mantel und Sandalen, und mit langem, grauen Bart. Als alle vier einander erblickten, glitt das Entsetzen über ihr Gesicht.

Und dann kamen weitere Pilger; und sie hörten wieder die Worte: »Geh weiter, Brüderlein, geh vorwärts, Brüderlein,« – und es durchschauerte sie, während die freundliche Sonne vom Himmel lachte, und unten geradlinige Felder lagen. Immer mehr Pilger kamen von beiden Seiten: »Brüderlein, Brüderlein« wurde, von hellen, freundlichen Stimmen gerufen; und sonst war kein Laut in der klaren Luft. Kein Laut war in der klaren Luft.

Später erhob sich dann ein Murmeln, leise. Und es wurde. überlegt. Dann wurde gegangen auf einer kristallenen Brücke, die, sich in einem hohen Bogen über das Tal mit dem blitzenden Fluß spannte. Viele Pilger gingen auf der kristallenen Brücke, Pilger mit grauen Bärten, Pilger, die vorsichtig ihre Füße setzten, um den Kristall nicht zu beschädigen. Einer dieser Pilger wagte lange nicht, seinen Fuß auf den Kristall zu setzen. Als der letzte des Zuges schon weit hinaus war, faßte er sich endlich Mut, dabei hatte er aber ein trauriges Gefühl über die Bienen, die summten. Und dann kam das Tal so schnell zu ihm in die Höhe, und die Felswand wurde neben ihm hochgerissen, daß er die Augen schloß, denn er meinte, er läge im Traum; und da er einen linden Schmerz im Innern fühlte, so freute er sich auf das fröhliche Erwachen auf einer Lagerstatt von duftendem Heu, wo unten mit Geräten gerasselt wurde.

Aber als er die Augen öffnete, war das Tal zu ihm heraufgekommen, nur die kristallene Brücke mit den übrigen Pilgersleuten schwebte hoch über ihm. Sie blitzte so stark, daß er es mit den Augen nicht aushalten konnte. Er selbst stand mit seinen Sandalen in einer blumigen Au und neben ihm stand ein Ordensbruder in weißem Kleide. Dieser faßte ihn bei der Hand und sagte in freundlichem Tone: »Komm mit, Brüderlein,« und während er hinaufwies zu der kristallenen Brücke mit den vielen Pilgersleuten, sagte er: »Sie kommen an, ja, sie kommen an.« Er führte ihn in das Kloster, wo auf dem Hofe, von dem säulengeschmückten Kreuzgang umschlossen, viele Rosen blühten und Schmetterlinge flogen. Und auch der Pilger dachte: »Sie kommen an, ja, sie kommen an.«

Und als er dann an der Abendtafel saß, neben dem Abt, der einen großen Ring mit einem köstlichen Stein trug, und an der Tafel die weiß gekleideten Brüder saßen, da erzählte er von seiner Pilgerfahrt, und wie es in Jerusalem gewesen sei. Und er war auch auf dem Libanon gewesen und hatte die Zedern Salomos gesehen. Das waren hohe Bäume mit breiten Ästen ganz oben, unter denen es schweigsam war.


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