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Jos' Extravaganzen

»Und diese Nachricht ist?« fragte der Detektiv, indem er sein Notizbuch zog, um sich Notizen zu machen.

»Diese Mitteilung betrifft Schiffsreeder Christensens Auftreten gestern nacht. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß die Sache mit äußerster Diskretion behandelt werden muß. Nicht allein mit Rücksicht auf uns, sondern vor allem mit Rücksicht auf Herrn Christensen selbst. Ich schicke voraus, daß uns Herrn Christensens Benehmen von gestern abend, soweit wir den Herrn kennen, gänzlich unfaßbar und unverständlich ist und mit seinem sonstigen Auftreten gar nicht übereinstimmt. Sie werden begreifen, daß dies die Sache noch mysteriöser macht.«

Der Detektiv beugte sich vor und fragte leise:

»Meinen Sie, daß Herr Christensen, ja, wie soll ich mich ausdrücken, daß er, rein herausgesagt, total betrunken war?«

Der Gerichtsadvokat wurde sofort sehr feierlich.

»Eben das können wir uns kaum von Herrn Christensen vorstellen. Wir nehmen an, daß er nicht wohl gewesen ist. Man hört ja nicht selten von Menschen, die überarbeitet sind und in einem Zustand von Unzurechnungsfähigkeit das Gedächtnis verlieren oder von ihrer Umgebung nichts mehr wissen. Nur solch ein plötzlicher Krankheitsfall scheint uns Herrn Christensens Benehmen zu erklären. Gestern nachmittag hat er das Palasthotel um sechs Uhr verlassen, ohne daß man ihm etwas Ungewöhnliches anmerkte. Aber schon um zehn Uhr befand er sich in dem Restaurant von Wivel in einem Zustand, der am besten dadurch bezeichnet werden kann, daß er Champagner mit einem Löffel von einem flachen Teller aß.«

Der Detektiv beugte sich über sein Notizbuch.

»Ich bitte Sie,« bemerkte der Gerichtsadvokat, »notieren Sie keine solchen Nebenumstände. Ich glaube, wie gesagt, daß Herr Christensen in einem Anfall von Unzurechnungsfähigkeit gehandelt hat. Er befand sich in Gesellschaft einer sehr fragwürdigen Person, eines ehemaligen Boxers, ›der starke Oliver‹ genannt. Gott mag wissen, wo er diesen Menschen aufgegabelt hatte.«

»Im Café Alhambra,« antwortete der Detektiv.

»Wie beliebt, woher wissen Sie das?«

»Weil uns bekannt ist, daß ›der starke Oliver‹ sich dort meistens aufhält.«

»Ach so. Ist das eine Verbrecherkneipe?«

»Ja, eine sehr gefürchtete Verbrecherkneipe.«

Der Detektiv gab sich den Anschein, als ob er mit großem Eifer Notizen machte. In Wirklichkeit aber las er nur das, das er bereits am Vormittag aufgezeichnet hatte. Er wußte über Jos' Streifzug viel besser Bescheid als Annebye selbst.

In seinem Buch stand unter anderem:

»Um 6 Uhr verließ Jos das Hotel.«
»Um 6,15–7 mehrere Absinths im Café Dagmar.«
»Um 8,30 zufälliges Zusammentreffen mit einer Dame vor Café Bernina. Auto zur Alhambra.«
»8,45–9,45 eine große Anzahl Whisky-Grogs. Kameradschaftliches Beisammensein mit verschiedenen Personen. Duzbrüderschaft mit dem ›starken Oliver‹. Aufbruch zu Wivel.«
»Um 10 Uhr ausgelassene Stimmung bei Wivel.«

Soweit konnte der Detektiv in seinen Aufzeichnungen Herrn Annebye folgen. Dieser fuhr fort:

»Ferner ist uns bekannt, daß Herr Christensen später an einem Ort gesehen worden ist, der ›Trocadero‹ heißt, wo er zur allgemeinen Verwunderung der Gäste einen seltsamen Kriegstanz aufgeführt haben soll.«

Der Detektiv las in seinem Buch nach:

»Um 11 Uhr wilder Aufzug im Trocadero. Riesenmengen von Champagner. Constance.«

Constance stand da, weiter nichts. Die Mitteilungen des Herrn Gerichtsadvokaten brachten nähere Erklärung.

Er sagte:

»Herr Christensen verließ das Lokal mit einer Dame, die Constance genannt wird. Wir haben unsere Informationen aus ganz sicherer Quelle, von einem Herrn, der sich zufällig dort aufhielt. Als Herr Christensen mit Constance im Auto fortfuhr, soll er in ziemlich schlimmer Verfassung gewesen sein. Wie wird diese Constance genannt, rote oder gelbe oder grüne?«

»Rote Constance.«

Der Gerichtsadvokat lehnte sich wohlgefällig in seinen Stuhl zurück, blickte zur Decke und strich sich seinen Bart. In einem Ton, dessen Gleichgültigkeit gänzliche Unwissenheit über Constance und ihr Treiben verriet, bemerkte er:

»Das ist so ein romantischer Name, wie man ihn in Polizeiberichten anzutreffen pflegt. Ich erinnere mich aus meiner eigenen Praxis – aber das gehört nicht hierher. Ich möchte betonen, daß ich keine beschränkten Vorurteile gegen die Vergnügungssucht der Leute habe, besonders was Fremde anbetrifft, die sich ja hier in Kopenhagen allerhand erlauben. Meinetwegen kann der norwegische Schiffsreeder sich sowohl mit der roten, der blauen und der gelben Constance, ja, mit dem ganzen Regenbogen amüsieren. Für mich ist das Entscheidende, daß unser Freund sich in einem gänzlich unzurechnungsfähigen Zustand befand – sagen wir meinetwegen, daß er betrunken war, obgleich, wer Herrn Christensen kennt, dies nicht für möglich halten sollte. Höchstwahrscheinlich war er bereits um sechs Uhr, als er das Palasthotel verließ, seiner Sinne nicht mehr mächtig. Und jetzt irrt er hilflos umher und bedarf unserer Hilfe. Falls nicht –«

»Falls nicht?«

»Ein Unglück bereits geschehen ist.«

Herr Annebye sah den Detektiv ernst an.

»Herr Christensen hatte viel Geld bei sich, ungewöhnlich viel Geld.«

»Was nennen Sie heutzutage viel Geld?« fragte Hansten-Jensen.

»Tcha, zehntausend sind viel Geld. Wenn der Betrag aber fünfzigtausend übersteigt, so kann man das ungewöhnlich viel Geld nennen.«

»Woher aber wissen Sie, daß Herr Christensen so viel Geld bei sich hatte?« fragte der Detektiv. »Durch die Bank?«

»Darüber will ich mich nicht äußern. Nur so viel, daß ich es weiß. Er verließ Constance um drei Uhr. Ich habe mein Wissen aus derselben zufälligen aber sicheren Quelle.«

»Um drei Uhr,« murmelte Hansten-Jensen erstaunt. »Das wußte ich nicht.«

»Die Polizei ist wohl auch nicht allwissend,« sagte Annebye lächelnd. »Constance bewohnt eine Villa in der Vorstadt. Wie ich gehört habe, soll sie eine kostbare Einrichtung, Kunstwerke von ganz beträchtlichem Wert haben. Sie hat einen großen Bekanntenkreis und ihr Salon soll häufig der Treffpunkt fröhlichen Beisammenseins sein.«

»Sehr gut möglich,« bemerkte der Detektiv, »in private Zusammenkünfte kann die Polizei sich nicht einmischen.«

»Auch heute nacht soll dort eine muntere Gesellschaft versammelt gewesen sein. Herr Christensen war nicht allein. Es wurde getanzt. Aber, wie gesagt, um drei Uhr hat Herr Christensen die Gesellschaft verlassen.«

»Hat jemand ihn fortgehen sehen?«

»Nein, aber zu jener Zeit verschwand er, und als man sich nach seinem Pelz umsah, war auch der fort. Ich bitte Sie, zu beachten, mein Herr, was das sagen will: ein zur Hälfte oder ganz besinnungsloser Mensch befindet sich allein in der Nacht in jener unsicheren Gegend mit einem Vermögen in der Tasche.«

»Kann ich mit dem Betreffenden sprechen, der Ihnen diese Aufschlüsse gegeben hat?« fragte Hansten-Jensen.

»Unmöglich,« antwortete der Gerichtsadvokat. »Aber Sie können selbst zu Constance gehen und sich alle Einzelheiten berichten lassen. Vor allem aber möchte ich noch einmal betonen, daß ich mich einzig und allein an Sie gewandt habe, damit Sie einem Unglücklichen helfen, der sicher in Not ist.«

Herr Gerichtsadvokat Annebye erhob sich und reichte Hansten-Jensen die Hand zum Abschied.

Der Detektiv dachte bei sich:

»Er ist bei Constance gewesen.«


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