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Rechtsanwalt Davidsen

»Was ist dem in die Krone gefahren?«

»Ja, was ist dem wohl in die Krone gefahren?«

Dieser etwas einförmige Dialog wurde am 5. Dezember abends halb sieben Uhr zwischen zwei Hoteljungen des Hotels Continental gewechselt. Sie waren an der Eingangstür des Hotels postiert und hatten achtzugeben, daß der Schnee nicht hineinfegte, wenn die Tür geöffnet wurde. Sie standen auf ihre Besen gestützt. Draußen raste ein heftiger Schneesturm. Die Gäste wurden mit aller Gewalt gegen die Tür geschleudert und taumelten ins Vestibül, wo die beiden Hoteljungen sich sofort ihrer bemächtigten und den Schnee von ihnen abbürsteten, so daß der enge Raum wie mit Nebel erfüllt war. Der Herr, der zuletzt hereingekommen war, aber hatte die Jungen brutal beiseitegeschoben und war die Treppe hinaufgestürmt, von Schnee triefend. Es war Rechtsanwalt Davidsen. Ihm hatte die verwunderte Frage der Knaben gegolten. Während Davidsen durch das Lokal eilte, wurden noch von verschiedenen Seiten ähnliche Fragen geäußert. Denn sein Benehmen war höchst sonderbar.

Als er in die Garderobe des Eßsaales im zweiten Stock kam, trat ihm der galonierte Paulsen, das unübertreffliche Faktotum aller Gäste, mit allen Zeichen des Entsetzens entgegen, weil man ihm unten im Vestibül den Schnee nicht abgebürstet hatte. Aber sogar Paulsen wurde von der gewaltigen behandschuhten und schneenassen Hand des Rechtsanwalts beiseitegefegt. Darauf riß Davidsen mit einem Ruck die Tür zum Eßsaal auf und eilte hinein. Seine Riesengestalt strömte feuchte Kälte aus, er starrte geradeaus, halb geblendet von dem Nebel, der seine goldeingefaßten Brillengläser überzogen hatte. Die Persianermütze erhob sich wie ein schneebedeckter Berggipfel auf seinem Kopf, der Pelz stand offen und seine flatternden Enden streiften drohend die gedeckten Tische, so daß die Gäste ängstlich nach ihren schwankenden Flaschen griffen.

»Zum Donnerwetter, was stellt das vor?« hörte man Paulsen in der Tür zur Garderobe sagen.

»Was ist denn los?« flüsterte man erschreckt an den Tischen.

Rechtsanwalt Davidsen aber schritt unberührt weiter. Es war, als ob der König des Unwetters in eigener Person von draußen hereingekommen sei, weiß von Schnee, während Kälte seinem Pelz entströmte.

Die Kellner eilten hinter ihm her.

»Hören Sie mal, Sie da, in Ihrem Pelz! So können Sie hier nicht hereinkommen. Das geht wirklich nicht.«

Den ungehobelten Protest der Kellner noch in den Ohren, hatte Rechtsanwalt Davidsen den Eßsaal passiert, riß die Tür zum Korridor auf, wo die Einzelzimmer lagen, und stürzte, ohne anzuklopfen, in Nummer 4 hinein. Kellner, die ihm gefolgt waren, machten vor einer drohenden Bewegung seines Riesenarmes halt und zogen sich knurrend in die Dunkelheit des Korridors zurück.

Rechtsanwalt Davidsen schlug die Tür so heftig hinter sich zu, daß die Fensterscheiben klirrten. Erst jetzt zog er seinen Pelz aus und ließ ihn in seinem weißen Schaum auf die Erde gleiten. Darauf warf er die Persianermütze auf einen Tisch, wo Kaffeetassen standen. Sank darauf fassungslos in einen Sessel und sagte, indem er seinen Kopf in den Händen barg:

»Ich glaube, ich werde verrückt!«

Am Tische saßen Doktor Ovesen und Asbjörn Krag.

Der kleine nervöse Doktor Ovesen hätte nicht erschreckter dreinblicken können, wenn ein Bär ins Zimmer gekommen wäre. Er sah mit Abscheu auf den See, den der schmelzende Schnee des Pelzes auf dem Teppich bildete, und sagte mit einer Stimme, die mit seinen Manschettenknöpfen um die Wette bebte:

»Wahrhaftig, du mußt total verrückt sein.«

Krag aber legte seine Hand beruhigend auf die Schulter des nervösen Arztes.

»Nur ruhig Blut,« sagte er, »Rechtsanwalt Davidsen scheint uns eine wichtige Nachricht zu bringen. Mischen wir ihm einen Whisky.«

*

Wie unsere Leser bereits gemerkt haben, ist Rechtsanwalt Davidsen eine neue Figur in dieser einfachen Erzählung von rätselhaften Ereignissen, die sich Anfang Dezember in Christiania zutrugen. Zu seiner Charakterisierung braucht kaum mehr gesagt zu werden, als sein explosivartiges Auftreten im Hotel Continental bereits andeutet. Rechtsanwalt Davidsen hatte mehr Erfolg in der Sportswelt als in juristischen Kreisen. Seit seinen Studententagen war er eine leitende Kraft bei sportlichen Unternehmungen der Stadt gewesen und hatte dort mehr Lorbeeren geerntet als vor den Schranken des Gerichts.

Wenn er im Gericht plädierte, führte er seine Kraft in die Schranken. Die Fenster klirrten bei der Gewalt seiner Stimme und der Tisch bog sich unter der Wucht seiner Faust. Bei spitzfindigen, rein juristischen Duellen konnte er sich keine rechte Geltung verschaffen, galt es aber ein volkstümliches und einfach denkendes Schöffengericht zu überzeugen, dann konnte seine leichtfaßliche, robuste Logik oft entscheidend wirken. Was ihm an Eleganz und Scharfsinn fehlte, ersetzte er durch Glaubwürdigkeit und ehrliche Ueberzeugung. Seine kluge und freundliche Denkweise hatte ihm viele Freunde verschafft, und sein ererbtes, solides Vermögen hatte ihm Vertrauen und eine einbringende Praxis gebracht. Er war auf du und du mit seinem ganzen Umgangskreis, sogar mit dem sonst so zurückhaltenden und abgemessenen Doktor Ovesen.

Durch einen reinen Zufall war er in die aufsehenerregende Affäre mit den hellblauen Briefen verwickelt worden, und zwar hatte Direktor Reismann endlich ein Lebenszeichen von sich gegeben, und keinem anderen als seinem alten Freund, Rechtsanwalt Davidsen.

Es war der 5. Dezember, als Rechtsanwalt Davidsen um halb sieben Uhr, auf die soeben geschilderte, aufsehenerregende Weise, im Hotel Continental erschien. Seit Direktor Reismanns Verschwinden war eine ganze Woche vergangen, und anderthalb Tage, seit Asbjörn Krag in von Brakels Zimmer im Hotel Savoy den beiden Freunden, Doktor Ovesen und Kapitän Färden, die sensationelle Mitteilung gemacht hatte, daß Oedegaard von demselben Schicksal betroffen worden sei.

Weder an jenem Morgen noch später hatte Krag seine Meinung über diese seltsame Affäre geäußert. Er hatte an dem Morgen nur gesagt: »Gehen Sie nach Hause, meine Herren, und schlafen Sie sich aus. Ich bin ausgeruht und kann arbeiten.«

Tags darauf, am 4. Dezember, hatten sie sich, wie verabredet, um zwei Uhr getroffen. Krag sprach hauptsächlich von gleichgültigen Dingen, aus seiner Unterhaltung aber war doch hervorgegangen, daß er sich besonders für von Brakels Wäscherechnung interessierte. Er hatte die Fetzen sorgfältig vom Fußboden aufgesammelt und zu einem Ganzen zusammengesetzt.

Im übrigen standen dieser Tag und der folgende unter dem Zeichen des kolossalen Aufsehens, den die Sache beim Publikum machte. Handelte es sich doch um einige der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt, und die geheimnisvollen Umstände beim Verschwinden dieser drei Herren setzten die Phantasie der Leute in Bewegung. Die Zeitungen schwelgten in Einzelheiten, um aber die Angehörigen der Verschwundenen nicht unnötig zu beunruhigen, vermieden sie es, Vergleiche mit ähnlichen Fällen im Ausland anzustellen, bei denen friedliche Menschen auf rätselhafte Weise verschwunden waren und wo die Sache schließlich als unheimliche Tragödie geendet hatte. Heutzutage konnte man ja leider überall in Europa auf das Schlimmste gefaßt sein.

Am Morgen des 4. Dezember hatte Oedegaards Notiz in der Zeitung gestanden, trotz der großen Belohnung aber hatte sich kein Chauffeur gemeldet. Am Morgen des 5. Dezember, als die Sache bereits allgemeines Tagesgespräch war, annoncierte ein Freund der Verschwundenen, der Schiffsreeder Johannes P. Christensen – populär »Jos« genannt –, daß er zweitausend Kronen Belohnung für denjenigen aussetzte, der Auskunft über den Chauffeur geben könne. Und trotz alledem meldete sich niemand.

Am Nachmittag desselben Tages aber, um zwei Uhr, erhielt Rechtsanwalt Davidsen, der Reismann besonders nahestand, einen Eilbrief in seinem Bureau. Der Brief enthielt eine Mitteilung von dem verschwundenen Direktor. Davidsen wußte, daß Asbjörn Krag im Verein mit Doktor Ovesen die Nachforschungen nach den Verschwundenen leitete. Darum setzte er sich unverzüglich mit diesen beiden Herren in Verbindung. Es zeigte sich, daß dieser Brief von Reismann, außer für Davidsen, auch wichtige Mitteilungen für Joh. P. Christensen enthielt.

Infolgedessen hatte Davidsen eine Konferenz mit »Jos« in dessen Kontor, und es wurde verabredet, daß beide Herren sich mit Krag und Doktor Ovesen in einem Einzelzimmer des Hotel Continental treffen sollten, um über weitere Maßnahmen zu beraten.

Man hatte sich auf halb sieben Uhr verabredet.

Und Punkt halb sieben Uhr hatte Davidsen sein merkwürdiges Auftreten im Hotel Continental.

*

Nachdem er ein Glas Whisky bekommen und sich mit zwei tüchtigen Schlucken gestärkt hatte, fragte Doktor Ovesen ungeduldig:

»Wo ist Jos?«

»Jos,« sagte Davidsen. »Jos ist auch verschwunden.«

Da war es, daß Doktor Ovesen sich erhob und mit vor Zorn bebender Stimme ausrief:

»Meine Herren, jetzt ziehe auch ich es vor, zu verschwinden.«

Um dem Leser aber diese neue und überraschende Wendung begreiflich zu machen, ist es erforderlich, Näheres über den Brief von Reismann zu berichten.


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