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Gespräch zwischen zwei Herren

Als der Freund zur Gesellschaft zurückkehrte, wurde er von einem Sturzbad von Fragen überschüttet: Was fehlte ihm? Kommt er nicht zurück? War es eine Frauenzimmergeschichte? War er krank?

Der Freund, dessen Name Doktor Ovesen war, einer der bekanntesten Aerzte der Stadt, wehrte alle Fragen mit einer kurzen Handbewegung ab.

»Von Brakel wird sicher im Laufe der Nacht zurückkehren,« sagte er.

»Daß der Ehrengast sich auf solche Weise absentiert?« bemerkte einer.

»Es schien eine sehr wichtige Angelegenheit zu sein,« meinte der Schriftsteller Oedegaard, »der Mensch sah ganz verstört aus. Er war blaß.«

»Ich glaube, er sagte etwas von einem wichtigen Telegramm aus Stockholm,« berichtete Doktor Ovesen. »Aber er drückte sich nicht klar aus, er hatte es so eilig.«

»Hast du ihn noch gesprochen?« fragte Oedegaard quer über den Tisch.

»Nur ganz kurz,« antwortete Doktor Ovesen. »Ich sollte ihn bei sämtlichen anwesenden Herren entschuldigen, er wollte so bald wie möglich zurückkommen.«

»Hat er sonst noch etwas gesagt?«

»Nein.«

»Der Ehrengast ist ein Rindvieh!« sagte Oedegaard mit Ueberzeugung.

Oedegaard scheint betrunken zu sein, dachte Doktor Ovesen und fixierte ihn scharf.

Indessen ließ man den Ehrengast Ehrengast sein und setzte die Unterhaltung fort. Die Mißstimmung war bald vorüber, nach einer halben Stunde fragte keiner mehr nach von Brakel.

Das hatte Doktor Ovesen vorausgesehen. Bereits in der Halle hatte er den Entschluß gefaßt, eine Erklärung über von Brakels Verschwinden zu geben, die niemand aus der Gesellschaft beunruhigen sollte. Vor allem wollte er den seltsamen Umstand mit dem hellblauen Kuvert geheimhalten, der ja direkt auf Reismanns Verschwinden vor zwei Tagen hinwies. Doktor Ovesen legte auch dem Portier unbedingtes Schweigen auf.

Doktor Ovesen war indessen das ganze Fest verdorben. Er konnte seine Gedanken nicht von Karl-Erich von Brakel losreißen. Er hatte das hellblaue Kuvert zu sich gesteckt und benutzte die erste Gelegenheit, um es näher zu betrachten. Es war ein viereckiges, hellblaues Kuvert von gewöhnlicher Größe. Die Aufschrift lautete: Herr von Brakel. Weiter nichts. Keine Adresse. Doktor Ovesen meinte, daß die Tinte mindestens zwei Stunden alt sein müsse. Die Schriftzüge waren steil und hart, ungewöhnlich hart, fand Doktor Ovesen. Die Buchstaben standen so steil und gezwungen, daß sie den Eindruck einer verstellten Handschrift machten.

Als die Uhr gegen drei geworden war, bemerkte Doktor Ovesen, daß einer der Gäste Miene machte, sich in aller Stille zurückzuziehen. Es war ein Herr in den Dreißigern, von energischem Aussehen, mit einem wettergebräunten und sympathischen Gesicht, ein Kapitän z. S. mit Namen Färden. Ovesen folgte ihm.

»Wollen Sie schon gehen, Herr Kapitän?«

Kapitän Färden hatte seinen Pelz über die eine Schulter gelegt. Er nickte. »Ich wohne hier im Hotel,« sagte er. »Ich brauche nur eine Treppe zu steigen. Es ist mir übrigens aufgefallen, daß Sie während der letzten Stunden so still gewesen sind. Ich bin auch etwas müde. Ein Schlummerpunsch oben auf meinem Zimmer würde uns vielleicht gut tun.«

»Ausgezeichnet!« sagte Doktor Ovesen. »Ich wollte Ihnen gerade etwas Aehnliches vorschlagen. Denn ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu bereden.«

Kapitän Färden sah ihn erstaunt an.

»Mit mir?«

»Mißverstehen Sie mich nicht. Es betrifft nicht Sie persönlich, sondern einen unserer gemeinsamen Freunde. Es ist nur ein Zufall, daß ich mich vertrauensvoll an Sie und nicht an einen anderen wende. Ich kann es nicht verantworten, länger über die Sache zu schweigen. Ich glaube bestimmt, daß etwas sehr Ernstes geschehen ist.«

So leicht ließ Kapitän Färden sich nicht schrecken. Er öffnete eine neue Zigarrenkiste und bot Doktor Ovesen eine leichte delikate Holländer an, die er von seiner letzten Reise mitgebracht hatte. Während er die Whisky-Grogs mischte, sagte er:

»Sie rechnen Herrn von Brakel zu meinen Freunden?«

»Ja, und auch Reismann. Um diese beiden handelt es sich. Beide sind auf vollkommen rätselhafte Weise verschwunden, und es ist die Pflicht ihrer Freunde, ihnen zu Hilfe zu kommen, wenn sie in Gefahr sind.«

»Ich begreife, daß es etwas sehr Ernstes sein muß,« antwortete Kapitän Färden, indem er Doktor Ovesen gegenüber am Tisch Platz nahm, »denn Sie achten nicht einmal auf die Güte der Zigarre, was doch sonst Ihre Spezialität ist. Was war es übrigens mit von Brakel? Ein Telegramm aus Stockholm, nicht wahr?«

»Nein, ich habe ihn gar nicht mehr gesprochen. Es war eine Notlüge, die ich mir ausgedacht hatte, weil ich die Gesellschaft nicht stören wollte. Von Brakel ist fortgegangen, ohne einen Bescheid zu hinterlassen. Der Portier aber hat ihn sagen hören, daß er ein unglücklicher Mensch sei – oder etwas Aehnliches. Er hatte einen Brief bekommen.«

Bei diesen Worten zog Doktor Ovesen das hellblaue Kuvert aus der Tasche. Beim Anblick desselben sprang der Kapitän auf.

»Er auch?« rief er. »Die Herren hier in Christiania scheinen mir etwas exzentrisch zu sein! Das Kuvert ist leer. Was hat in dem Brief gestanden?«

»Ja, wer wüßte, was in diesen verfluchten Briefen steht. Ich habe nur das leere Kuvert gefunden, das von Brakel auf der Treppe verloren hat.«

»Hatte Direktor Reismann einen ebensolchen Brief bekommen?«

»Genau ebensolchen. Ich war im Freisinnigen Klub zugegen, als er ihn bekam. Und ich will Ihnen gestehen, mein lieber Kapitän, daß ich bereits seit gestern vormittag wegen Reismann in großer Sorge bin.«

»Haben Sie besondere Ursache dazu?«

Doktor Ovesen lehnte sich in den Stuhl zurück und legte umständlich seine Handflächen gegeneinander, wie es seine Gewohnheit war, wenn er ein medizinisches Gutachten abgab.

»Ich bin nicht nur Direktor Reismanns Arzt,« begann er, »ich bin auch, wie Sie wissen, sein langjähriger Freund, und außerdem stehe ich in Geschäftsverbindung mit ihm. So bin ich z.B. in der Direktion des Etablissements »Die blaue Eule«. Reismann ist ja in mancher Beziehung eine Künstlernatur. Er hat Boheme-Blut in sich und extravagiert hin und wieder gern etwas. Nichtsdestoweniger aber wurzelt er doch im Bürgerlichen, besonders in geschäftlichen Dingen pflegt er auf dem Posten zu sein. Es ist schon früher vorgekommen, daß er einen sogenannten ›Streifzug‹ unternommen hat, aber nicht ohne Sorge zu tragen, daß er mit seinem Bureau in Verbindung blieb. Diesmal aber hat er nichts Derartiges vorgesehen, und ich muß sagen, daß seine Geschäfte unter seiner Abwesenheit gelitten haben. Ich habe getan, was ich konnte, aber meine Zeit ist knapp, und natürlich konnte ich ihn nicht ersetzen. Was mich besonders beunruhigt, ist, daß die große Wohltätigkeitsvorstellung, bei der er der Hauptmacher ist, ins Wasser zu fallen droht. Sie haben wohl in den Zeitungen gelesen, daß »Die blaue Eule« in einigen Tagen eine Weihnachtsvorstellung geben wird. Reismann hat sich außerordentlich dafür interessiert, und ich weiß, daß er seine Ehre darein setzt, sie so erfolgreich wie möglich zu gestalten. Jetzt droht seine plötzliche Abwesenheit das Ganze über den Haufen zu werfen. Jeder Tag, ja, jede Stunde ist kostbar. Ich bin überzeugt, daß Reismann alles daran setzt, um zu seiner Tätigkeit zurückzukehren. Wenn er nicht kommt, bedeutet es nicht mehr und nicht weniger, als daß jemand ihn daran hindert. Jemand, der stärker ist als er.«

»Frauenzimmergeschichten?« fiel Kapitän Färden ein, indem er sich der Bemerkung des Freundes von neulich abend erinnerte.

»Unsinn!« rief Doktor Ovesen. »Reismann ist kein Jüngling mehr. Nein, ich glaube, daß er sich in einer schwierigen Lage befindet, daß er außerstande ist, sich mit seinen Freunden in Verbindung zu setzen. Keiner von ihnen hat eine Mitteilung von ihm bekommen, ebensowenig sein Geschäft und seine Privatwohnung. Vielleicht ruft er in diesem Augenblick um Hilfe. Wir können uns nicht länger passiv verhalten.«

Der Kapitän überlegte. Augenscheinlich war jetzt auch er von dem Ernst dieses besorgniserregenden Ereignisses überzeugt.

»Warum aber hat er die Gesellschaft verlassen?« fragte er. »Das begreife ich nicht. Warum?«

Doktor Ovesen schlug mit der Faust auf das blaue Kuvert.

»Wenn man wüßte, was in dem Brief gestanden hat,« sagte er.

Der Kapitän schüttelte ratlos den Kopf.

»Mein Verstand steht still,« sagte er. »Wir befinden uns doch glücklicherweise nicht zwischen Verschwörern und heimlichen Verbindungen. Wir sind nicht in dem unterirdischen Rußland oder zwischen irländischen Revolutionären. Sind sonst noch hier in der Stadt ähnliche lichtscheue und geheimnisvolle Dinge vorgekommen?«

»Nicht, daß ich wüßte. Außerdem gehören ja beide Herren einer bürgerlichen, wenn auch ein wenig bohemegefärbten Klasse an, deren Interessen und Leben für einen jeden offen daliegen. Beachten Sie den Fall von Brakel. Den ganzen Abend ist er die Sorglosigkeit in Person. Plötzlich bekommt er diesen Brief und ist im selben Augenblick wie verwandelt, stürzt Hals über Kopf davon, ohne seinen besten Freunden eine Erklärung zu geben.«

Der Doktor sah auf seine Uhr.

»Die Uhr ist vier,« sagte er, »mit jeder Stunde, die vergeht, werde ich besorgter. Von Brakel wohnt im Hotel Savoy, Zimmer Nr. 17. Vielleicht können wir dort eine Spur finden. Kommen Sie mit?«

»Ich komme mit,« sagte der Kapitän.


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