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Ein dritter Herr

Als die Herren in die Halle kamen, hörten sie, wie im ersten Stockwerk, wo das Fest stattfand, gelärmt wurde. Es war offenbar noch immer im vollen Gange. Um keine unnötigen Erklärungen abgeben zu müssen, beschlossen die Herren, daß sie sich unbemerkt aus dem Hotel schleichen wollten. Unten beim Portier aber stießen sie auf den Schriftsteller Oedegaard, der gerade im Begriff war, fortzugehen.

Sie kamen überein, daß sie ihn zu Rate ziehen wollten. Der Schriftsteller Oedegaard war ein praktischer und gerissener Mensch, der gerade in solchen Dingen von großem Nutzen sein konnte. Außerdem war er Romantiker genug, um das Seltsame und Mystische dieser Sache richtig aufzufassen.

Während die Herren sich für einige Augenblicke auf den weichen Sesseln des Lesezimmers niederließen, wurde Oedegaard in die Affäre eingeweiht. Oedegaard nahm die Sache noch ernster, als Doktor Ovesen erwartet hatte.

»Was Direktor Reismann betrifft,« sagte er, »so wäre es denkbar, daß er Feinde hat, die ihm schaden wollen. Reismann ist ja geschäftlich ein Draufgänger und nicht immer sehr rücksichtsvoll in der Wahl seiner Mittel. Wer aber dem liebenswürdigen und vornehmen Künstler von Brakel Uebles will, das begreife ich nicht. Ich bin fast täglich mit ihm zusammen gewesen, seit er seiner Ausstellung wegen hier ist, und soweit ich weiß, hat er sich nur Freunde erworben. Ich bin überzeugt, daß es keinen Menschen in ganz Christiania gibt, der ihm etwas Böses antun will. Im übrigen ist er die ganze Zeit die Sorglosigkeit in Person gewesen und hat nur an sein Vergnügen gedacht. Wie das mit seiner Bemerkung: Ich bin ein unglücklicher Mensch! zusammenhängt, das begreife ich wahrlich nicht. Das muß ganz plötzlich gekommen sein.«

»Sehr richtig,« bemerkte Doktor Ovesen. »Es muß in dem Augenblick gekommen sein, als er sich vom Tisch erhob, oder noch näher bezeichnet, in dem Augenblick, als er den Brief las. Dasselbe Schreiben, das Reismanns Verschwinden veranlaßte, hat auch von Brakel die Furcht vor einem Unglück eingegeben.«

Oedegaard schlug mit der Faust auf die gepolsterte Armlehne.

»Zum Donnerwetter!« rief er. »Was hat in diesen verfluchten Briefen gestanden? Tja, Sie lächeln ganz ratlos, Doktor Ovesen, Sie müssen aber doch zugeben, daß wir hier in unserer kleinen friedlichen Hauptstadt nicht auf derartige sensationelle und mystische Ereignisse eingestellt sind. Besonders auffallend ist, daß weder Reismann, noch von Brakel ihren Freunden den Inhalt der Briefe mitgeteilt haben. Was auch in den blauen Billetten gestanden haben mag, so haben die Adressaten sich jedenfalls gezwungen gesehen, dem Ruf unverzüglich Folge zu leisten. Mit anderen Worten, wenn die Mitteilung unerwartet gekommen ist, so war sie jedenfalls nicht unbegreiflich. Das kann man jetzt schon feststellen. Beide Briefempfänger sind sich sofort darüber klar gewesen, daß es sich um etwas ungewöhnlich Ernstes handelte. Darum haben auch wir, meine Herren, allen Grund, die Sache aufs ernsteste zu betrachten, und wenn wir der Ansicht sind, daß unsere Freunde der Hilfe bedürfen, können wir keinen Augenblick länger zögern.«

Derselben Ansicht waren auch Doktor Ovesen und Kapitän Färden – und Doktor Ovesen erhob sich bereits ungeduldig.

»Lassen Sie uns sogleich aufbrechen,« sagte er.

»Wohin?« fragte Oedegaard.

»Wir wollen uns zu von Brakels Hotel begeben, Savoy, bei der Tordenskjoldsgade. Vielleicht können wir dort etwas erfahren.«

»Er hat Zimmer Nr. 17,« sagte Oedegaard, »mit Telephon. Wollen wir nicht erst anrufen? Es wäre doch immerhin möglich, daß er schon zurückgekehrt ist.«

Oedegaard trat an einen großen Mahagonitisch, wo die Apparate standen, und nahm den Hörer. Als er Verbindung mit dem Nachtportier des Savoy-Hotels bekommen hatte, hörten die beiden Herren ihn sagen:

»Ist von Brakel zu Hause? ... Nicht ... Wann? ... Vor zwei Stunden ... Also ungefähr um zwei Uhr ... Er kam in einem Auto und fuhr mit demselben Auto weiter? ... Hat er nichts hinterlassen? ... Nichts ... Er hatte es sehr eilig? ... Wir kommen gleich ins Hotel, in einer sehr wichtigen Angelegenheit.«

»Er ist im Hotel gewesen,« erklärte Oedegaard. »Er war zwei oder drei Minuten oben auf seinem Zimmer und eilte dann wieder fort. Ich bin im Hotel bekannt, und Sie ja übrigens auch, Doktor Ovesen. Der Nachtportier wird uns ohne Schwierigkeiten einlassen. Vielleicht finden wir etwas, das uns Aufklärung bringt ... Uebrigens, hallo, Jonassen!« rief er. »Jonassen!«

Der Portier kam aus seiner Loge.

»Sie sprachen ja den Chauffeur, der den Brief für Herrn von Brakel brachte?«

»Ja, ich holte Herrn von Brakel heraus.«

»Kannten Sie den Chauffeur?«

»Nein, ich hatte ihn noch nie gesehen. Erinnere mich seiner jedenfalls nicht.«

»War es ein Privatchauffeur oder ein Taxameterchauffeur?«

»Offenbar ein Taxameterchauffeur.«

»Haben Sie auf die Nummer des Autos geachtet?«

»Nein, ich war gar nicht auf der Straße. Herr von Brakel hatte solch große Eile. Ist etwas geschehen?«

»Nichts Besonderes,« sagte Oedegaard und fügte hinzu, indem er zu den Festräumen hinaufzeigte, »wenn einer von den Gästen dort oben fragen sollte, dann haben Sie nichts gesehen und gehört, verstehen Sie, Jonassen?«

»Ich verstehe.«

Der Weg vom Grand-Hotel zum Savoy-Hotel war nicht weiter, als daß die Herren ihn bequem in wenigen Minuten zurücklegen konnten. Im Hotel stießen sie auf keine Schwierigkeiten, sondern wurden ohne weiteres auf von Brakels Zimmer geführt.

Als sie ins Zimmer traten, bot sich ihnen ein Anblick, bei dem sie wie versteinert stehenblieben. Der Nachtportier, der sie hinaufbegleitet hatte, rief erstaunt:

»Mein Gott, hier sieht es ja aus, als ob eingebrochen worden wäre!«

»Das müßten Sie doch wissen,« sagte Oedegaard, »sind in von Brakels Abwesenheit Fremde hier gewesen?«

Der alte Nachtportier schüttelte bestimmt seinen grauen Kopf.

»Nein,« sagte er, »das ist unmöglich. Niemand kann an meiner Loge vorbeigehen, ohne daß ich ihn sehe, und ich bin die ganze Zeit wach gewesen. Da das Zimmer im dritten Stock liegt, kann auch niemand durchs Fenster gekommen sein. Nein, dies muß Herr von Brakel selbst angestellt haben.«

»Er selbst?«

»Ich will Ihnen nämlich sagen, meine Herren, ich stelle ihm jeden Abend eine Flasche Apollinaris aufs Zimmer, bevor er nach Hause kommt. Da ich nun wußte, daß er heute spät nach Hause kommen würde, ging ich erst gegen halb zwei mit der Flasche hinauf, und da war das Zimmer in schönster Ordnung. Später aber ist Herr von Brakel hier gewesen, und sehen Sie nur, wie es jetzt hier aussieht! Das ist ja entsetzlich!«

Der ordnungsliebende Nachtportier wolle gleich Ordnung in die Verwirrung bringen, Oedegaard aber hielt ihn zurück.

»Rühren Sie noch nichts an.«

Das Zimmer sah zum Erschrecken aus.

Von Brakels Koffer standen offen und ihr Inhalt: Anzüge, Toilettesachen, Kragen, Schlipse, Bücher, lagen auf Tisch, Teppich, Sofa wild durcheinander. Ein Stuhl war umgeworfen. Die Wasserkaraffe lag zerbrochen auf dem Fußboden. Das Tintenfaß auf dem Schreibtisch war umgeworfen und die übrigen Schreibsachen lagen auf der Erde. Schubfächer standen offen, Papierfetzen lagen umher, und in der offenstehenden Ofentür sah man halbverkohlte Briefreste.

Der Zustand des Zimmers schien besonders auf Doktor Ovesen einen beunruhigenden Eindruck zu machen. »Hier muß ein Kampf stattgefunden haben,« sagte er ernst.

»Oder,« fügte Oedegaard hinzu, »jemand scheint eine Hausuntersuchung gefürchtet zu haben und hat in fliegender Eile kompromittierende Dokumente in Sicherheit bringen wollen. Wenn von Brakel diesen Zustand selbst verschuldet hat, muß er etwas gefürchtet und große Eile gehabt haben. Ohne Zweifel, es war von Brakel selbst. Was in aller Welt aber kann er gefürchtet haben?«

Oedegaard sah nach seiner Uhr.

»Noch ist es Zeit,« sagte er. »Mein lieber Nachtportier, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Erst aber telephonieren Sie nach einem Auto, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Oedegaard setzte sich an den Schreibtisch und warf hastig einige Zeilen auf ein Stück Papier.


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