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»Jos«

Der Brief von Reismann lautete:

»Lieber Freund!
Ueber meinen Aufenthaltsort kann ich nichts verraten. Aber es geht mir gut. Es ist von äußerster Wichtigkeit, daß umgehend zwanzigtausend Kronen nach Kopenhagen gesandt werden, poste restante, unter Chiffre ›Radix‹. Kaufe eine Bankanweisung. Hast du selbst nicht genügend Geld flüssig, dann gehe zu Jos. Es muß unverzüglich geschehen. Mehr kann ich nicht sagen. Sucht nicht nach mir.
Dein Reismann.«

Dieser Brief hatte Rechtsanwalt Davidsen teils beruhigt, teils in Aufregung versetzt. Er hatte ihn beruhigt, weil er Beweis dafür war, daß Reismann noch lebte. Denn zu den unheimlichen Gerüchten, die in Umlauf waren, gehörte auch eines von einem internationalen Mordkomplott. Der Brief war von Reismann, denn seine charakteristische Handschrift war nicht zu verkennen. Außerdem war er auf einer von den lithographierten Korrespondenzkarten geschrieben, die Reismann immer bei sich trug.

Der Inhalt des Briefes aber beunruhigte Rechtsanwalt Davidsen. Nämlich die zwanzigtausend Kronen, die nach Kopenhagen gesandt werden sollten. Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, um eine Gelderpressung dahinter zu vermuten. Außerdem war Reismanns Brief so merkwürdig kühl. Darum beschloß Davidsen, nichts zu unternehmen, bevor er mit Reismanns Freunden gesprochen hatte.

Als Doktor Ovesen den Brief gelesen hatte, war auch er keinen Augenblick im Zweifel, daß es sich um einen – wie er sich ausdrückte – plumpen Gelderpressungsversuch handelte. »Wir müssen darauf gefaßt sein, daß alle unsere verschwundenen Freunde uns nacheinander ähnliche Briefe schreiben werden,« meinte er.

Asbjörn Krag aber war anderer Meinung. Zwei entscheidende Punkte sprachen gegen die Auffassung, daß man es hier mit einem gewöhnlichen Erpresserbrief zu tun hatte.

Erstens stand in dem Brief kein Wort davon, daß der Absender in Gefahr sei und daß die Gefahr sich vergrößern würde, wenn das Geld nicht sofort abgesandt würde.

Zweitens war da der Umstand, daß das Geld postlagernd Kopenhagen, »Radix«, abgesandt werden sollte. Wenn eine Gelderpressung vorlag, konnte der Verbrecher sich sagen, daß nichts leichter sein würde, als die Kopenhagener Polizei zu benachrichtigen, so daß derjenige, der das Geld abholte, geradenwegs dem Hüter des Gesetzes in die Arme lief.

»Sie sind wohl gar der Meinung, daß wir das Geld ohne weiteres schicken sollen?« fragte Doktor Ovesen spöttisch.

»Wenn ich das Geld zur Verfügung hätte,« antwortete Krag, »und wenn ich wie Sie, meine Herren, mit Direktor Reismann in intimer Geschäftsverbindung stünde, würde ich es unbedingt schicken. Vielleicht handelt es sich um ein wichtiges Geschäft.«

»Wichtige Geschäfte werden nicht auf so unrationelle Weise abgeschlossen.«

»Ich würde«, fuhr Krag unangefochten fort, »meine Order geben, nur mit dem Vorbehalt, daß mein Vertreter in Kopenhagen mit äußerster Vorsicht auftreten soll.«

Man beschloß indessen, die Entscheidung Jos zu überlassen, und nachdem Rechtsanwalt Davidsen mit Jos telephoniert hatte, wurde vereinbart, daß alle vier Herren sich im Einzelzimmer Nummer 4 des Hotel Continental treffen sollten. Davidsen wollte Jos in seinem Kontor abholen.

Doktor Ovesen und Krag speisten zusammen, und während des Essens entwickelte Ovesen seine Ansicht über die Sache. Doktor Ovesen war wie hypnotisiert von der Affäre. Er pflegte sonst ein regelmäßiges und bürgerliches Leben zu führen und kannte keine anderen Zerstreuungen, als hin und wieder eine Pokerpartie oder ein gutes Mittagessen. Er hatte den Ruf eines kaltblütigen und überlegenen Mannes. Und bisher hatte auch nichts ihn in dem ruhigen, anspruchslosen Dasein gestört, das er bis an sein Ende so fortzuführen gedachte. Wie ein stiller Wanderer auf einem friedlichen Spaziergang plötzlich von einem Unwetter überfallen werden kann, so war er in diese rätselhafte Affäre hineingewirbelt worden, und die Ereignisse, die Schlag auf Schlag gefolgt waren, hatten seine Nerven wie Peitschenhiebe getroffen. Seine Vernunft bäumte sich dagegen auf, daß diese Tatsachen wahr sein sollten, und weil er das Geschehene nicht fassen konnte, benahm er sich wie ein Mensch, der über anscheinend übernatürliche Taschenspielerkunststücke gereizt wird. Trotzdem aber war er unrettbar in das Netz verstrickt, das Geheimnisvolle hatte ihn wie ein Fieber ergriffen. Am liebsten hätte er sich wieder in sein gewohntes, ruhiges Leben zurückgezogen, aber es war ihm nicht mehr möglich. Unterdrückte Erbitterung über das Unfaßbare prägten seinen Gemütszustand. Besonders Krags Gelassenheit reizte ihn. Seine eigene Ungeduld konnte das heitere Gleichgewicht des Detektivs kaum ertragen. Es ärgerte ihn, daß der Detektiv sich am meisten mit den anscheinend unwesentlichen Dingen beschäftigte. So zum Beispiel mit von Brakels Wäscherechnung, von der Krag mindestens einmal am Tage sprach.

Während des Mittagessens im Hotel Continental bekam seine Gereiztheit neue Nahrung.

»Ich kann Ihr Interesse für solche Nebensächlichkeiten nicht verstehen,« sagte er. »Ich habe gehört, daß Sie im Bureau des Tanzlokals waren. Was wollten Sie da? Die Portokasse und das Bestellbuch über Zeitungsanzeigen durchsehen! Nehmen Sie es mir nicht übel, aber so etwas ist mir denn doch noch nicht vorgekommen.«

Asbjörn Krag lächelte nur und sagte, daß man mit Unwesentlichem rechnen müsse, wenn man auf das Wesentliche nicht stoßen könne.

In diesem Augenblick hatte Rechtsanwalt Davidsen sein sonderbares Auftreten, mit dem er das ganze Hotel in Schrecken versetzte.

Vor Anstrengung stöhnend, ganz erstarrt über das soeben Erlebte, legte er einen Bericht ab, der im wesentlichen folgenden Wortlaut hatte:

Jos war nicht abgeneigt gewesen, das Geld zu schicken. Er wußte, daß Direktor Reismann an vielen Spekulationsgeschäften beteiligt war, und es schien ihm nicht unwahrscheinlich, daß es sich hier um ein solches handelte. Erst aber wollte er mit Asbjörn Krag über die Sicherheitsmaßnahmen beraten, die unter allen Umständen getroffen werden sollten.

Während Jos und Davidsen noch darüber sprachen, bekam Jos den Brief.

Die jüngste weibliche Angestellte des Bureaus brachte ihn, zusammen mit einigen anderen Briefen und Telegrammen. Beim elektrischen Licht mochte ihr die Farbe des Briefes nicht aufgefallen sein, denn sie lieferte ihn ab, ohne ihr Erstaunen darüber zu äußern.

Der Schiffsreeder las zuerst die Telegramme und gab durch das Haustelephon darüber Bescheid. Dann nahm er das Papiermesser, um die Briefe zu öffnen.

Als Davidsen den Brief sah, der zu oberst lag, sagte er leichthin – er ahnte ja nicht, daß er den Nagel damit auf den Kopf traf:

»Sieh, sieh, da ist ja auch ein hellblauer Brief. Vielleicht ein ebensolcher, wie unsere Freunde sie bekommen haben.«

Jos lachte nur und antwortete:

»Hellblaues Briefpapier scheint modern geworden zu sein.«

Als er aber den Brief geöffnet hatte – erzählte Davidsen dramatisch –, spiegelten seine Gesichtszüge den Ausdruck höchster Verwunderung. Nachdem er das Schreiben fast eine Minute angestarrt hatte, ballte er seine Faust und ließ sie mit solcher Wucht auf den Schreibtisch fallen, daß das Tintenfaß in die Höhe sprang. Er fluchte fürchterlich und rief:

»So etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen!«

Darauf legte er die Hand auf den Telephonhörer, als ob er jemanden herbeirufen wollte, besann sich aber und verließ mit dem Brief in der Hand schnell das Zimmer.


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