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Der Maler Karl-Erich von Brakel

Wir kommen jetzt zu dem Nächsten, der von demselben Schicksal betroffen wurde: der schwedische Maler Karl-Erich von Brakel, dessen Ausstellung im mondänen Ausstellungslokal der Stadt teils heftigen Widerstand, teils tiefe Bewunderung erweckt hatte. Das umstrittenste Bild der Ausstellung war eine Riesenleinwand, die – ja, was stellte sie eigentlich vor? Man behauptete, daß das Bild den japanischen Admiral Togo vorstellte, der in blauem Pyjama zwischen zweitausend Ratten tanzte. Der Künstler hatte den Ratten eine ganz besonders sorgfältige Ausführung zuteil werden lassen und sich nur widerstrebend dazu überreden lassen, das Kunstwerk auszustellen, weil drei der Ratten noch nicht ganz fertig waren. Er war eigentlich mehr Franzose als Skandinavier, dunkel wie ein Provenzale. Ein langjähriger Aufenthalt im fernen Osten hatte seinem Wesen ein einnehmendes Phlegma und einen gewissen asiatischen Zynismus verliehen, während er gleichzeitig ein echter Vertreter des alten schwedischen Adels war, der durch Verfeinerung und Dekadenz die brutale Kraft der Vorfahren zu ersetzen versuchte. In dem einen Augenblick konnte er über ein unanständiges Wort erröten, während er im nächsten selbst eine Erzählung zum besten gab, bei der ein ganzes Coupé von Handelsreisenden in den Boden versank. Es war klar, daß er als Künstler ein Prophet für das Allerneueste in der Kunst werden mußte. Er versuchte, durch die Malerei ähnliche mystische Visionen wiederzugeben, wie ein Poe ihnen in seiner Dichtung Ausdruck gegeben hatte. Er trank viel und häufig, sein vornehmes Aeußere aber blieb von den plebejischen Wirkungen der Trunksucht unberührt. Bei dem obenerwähnten Mittagessen im Grand Hotel, in der Nacht zum 2. Dezember, war er Ehrengast.

Ein Uneingeweihter würde den Kreis von Herren, die um den reichbesetzten Tisch versammelt waren, sicher als eine sehr gemischte Gesellschaft bezeichnet haben. Sie umfaßte auch eine Menge Kontraste, vom Dichter Oxford bis hinunter zum Grogkönig Stenesen. Die Bekanntschaft des letzteren haben wir bereits gemacht. Was den Dichter Oxford betrifft, so war er fast nicht zu beschreiben – ein junger Geck, nordisch blond, so hell und luftig, daß er in der Landschaft fast unsichtbar wurde. Am besten konnte man ihn durch die Gegenstände charakterisieren, die er besaß oder die mit ihm in Verbindung standen. Wenn er in seinem lackglänzenden Auto lautlos dahinglitt, war er ein Pelzkragen und ein goldenes Armband, ein Band Swinburne in der Westentasche, ein Absinth, ein Browningrevolver, ein liebenswürdiges Lächeln, eine Fahrkarte erster Klasse nach Bombay und ein Korb Champagner. Außer ihm und dem schwerfälligen Grogkönig umfaßte die Gesellschaft eine ganze Reihe älterer und jüngerer Herren, Künstler und Kaufleute. Alle waren verschieden, jeder hatte seine Eigenheiten und Lebensanschauungen, und die verschiedenen Seelenstimmungen brachen sich wie die Farben in einem Spektrum. Und dennoch war die Gesellschaft homogen, denn alle Anwesenden gehörten zu der Sorte Menschen, die in einer Welt von Enge und Trübseligkeit dem Leben sorglose Seiten abzugewinnen versuchten.

Das Mittagessen war zu Ende. Der breite, geräumige, festlich geschmückte Tisch war dicht besetzt mit halbgeleerten Champagnerflaschen, braunen Zigarrenkisten, Zigaretten in silbernen Bechern und vielfarbigen Likörflaschen. Die Kellner gossen die letzten Tropfen aus den Kaffeekannen ein, und von Stenesens Platz erklang bereits das hitzige Zischen des ersten Whisky-Grogs. Das ist der vornehmste Augenblick bei einem Liebesmahl. Der Tisch scheint in einem Zwischenakt noch einmal vom Festbrausen widerzuhallen, während bereits neue Gläser und Flaschen eine kräftigere Melodie anstimmen. Die Unterhaltung bekommt durch den Auftakt gesteigerter Festfreude neuen Glanz, während alle unbewußt unter dem Einfluß des sorglosen Dahinlebens froher Stunden stehen. Niemals und nirgends empfindet man Freiheit so intensiv und bezaubernd, als wenn man sich vor der Fortsetzung eines frohen Festes ein wenig gehen läßt, bei der Aussicht auf eine ungestörte, behagliche Nacht, die die langsame Steigerung des Rausches mit sich bringen wird, und Genüsse, deren Eintreffen niemand bezweifelt und die die Menschen liebevoll gegeneinander stimmen.

Als von Brakel seine Berufung erhielt, war dies Ereignis durch nichts vorbereitet. Es herrschte allgemein ungetrübte Heiterkeit, an der von Brakel eifriger Teilnehmer war. Der Wirt, Herr Oxford, schwirrte in gehobener Champagnerstimmung herum. Ueber dieses Fest hatte er seit Tagen nachgedacht. Besonders hatte ein in Likör gebratener Fasan ihm Kopfzerbrechen gemacht. Als er aber sah, daß sich alles gut abgewickelt hatte, fühlte er sich erleichtert wie nach einer schwierigen Arbeit. Wenn er auf einem der glatten Lederstühle Platz nahm, glitt er immer so merkwürdig wieder herunter. Wenn er sich aber auf den Tisch setzte und gegen eine Jardiniere lehnte, die auf dem Tischtuch stand, fiel es kaum auf, denn er war so klein und zierlich, daß man ihn für einen Teil der Tischdekoration hielt.

An dem Tischende, wo der Grogkönig den stummen und unerschütterlichen Mittelpunkt bildete, wurde von dem Ereignis im »Freisinnigen Klub« vor zwei Tagen gesprochen. Die Partie, der hohe Einsatz, die versiegelten Karten bildeten den Brennpunkt des allgemeinen Interesses. Und das war bezeichnend dafür, wie wenig Aufsehen die Hauptsache, das Verschwinden von Direktor Reismann, eigentlich gemacht hatte. Man hatte ihn nicht wiedergesehen und kaum jemand hatte nach ihm gefragt. Man war an seine Extravaganzen gewöhnt. Er hätte eigentlich an dem Liebesmahl teilnehmen sollen, und mancher von den Gästen meinte, er würde wohl noch kommen.

Der Schriftsteller Eivind Oedegaard, der gern diskutierte und logische Vergleiche anstellte, sagte:

» Wenn die Sache einem anderen passiert wäre – meine Herren, wir alle kennen ja Reismann – wenn die Sache aber einem anderen passiert wäre, einem weniger extravaganten Menschen, dann könnte man sich folgendes vorstellen –«

Trotz der Vorbehaltenheit, die Oedegaard plötzlich an den Tag legte, wollte man seine Meinung gern hören, denn das kleinste Detail dieser geheimnisvollen Pokerpartie interessierte jeden einzelnen der Gesellschaft.

»Also,« fuhr Oedegaard schließlich fort und gestikulierte mit seinen langen Händen, »Reismann versucht zu bluffen, denn eigentlich hat er gar keine guten Karten. Er steigert den Einsatz auf fünftausend Kronen, in der Hoffnung, daß Stenesen seine Karten hinlegt oder Teilung vorschlägt. Stenesen aber verdoppelt das Spiel bis zu zehntausend. Sie müssen zugeben, meine Herren, daß das sogar heutzutage ein hoher Einsatz ist. Da, in dem spannendsten Augenblick kommt der Brief. Reismann legt seine Karten hin und verläßt das Spiel. Vielleicht hat er bei sich gedacht: Es ist eine günstige Gelegenheit, mich zu drücken und meine Zehntausend zu sparen; nachher behaupte ich, daß das Spiel nicht reell zu Ende geführt worden ist.«

Diese Worte riefen allgemeinen Protest heraus.

»Es ist ja nichts weiter als ein Gedankenexperiment von mir,« wandte Oedegaard ein. » Wenn –«

»Das ist Unsinn!« rief man ihm entgegen. »Es war ein ganz korrektes Spiel, das volle Gültigkeit hat. Die Karten sind versiegelt und werden im Klub verwahrt. Außerdem, wer sagt, daß Reismann nicht das Spiel in der Hand hatte?«

»Zugegeben. Vielleicht hat Stenesen geblufft. Welche Karten hattest du, Stenesen?«

Stenesen grunzte, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Grogglas und lächelte.

»Das werde ich dir nur für dreißigtausend Kronen verraten,« sagte er.

Da geschah es, daß der Portier des Hotels ins Zimmer trat, sich über von Brakel beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

»Ein Chauffeur,« murmelte er erstaunt. »Bringen Sie ihn her.«

»Er will Sie allein sprechen, Herr von Brakel,« sagte der Portier.

Von Brakel erhob sich, aufs äußerste verwundert, und verließ die Gesellschaft.

»Ihr sollt sehen, es ist Reismann,« bemerkte einer.

»Reismann? Weshalb sollte er nicht selbst hereinkommen?« wurde ihm erwidert.

Und damit wurde die lärmende Unterhaltung wieder aufgenommen.

Erst als von Brakel nach wenigen Minuten zur Gesellschaft zurückkehrte, zog er die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

Er stand plötzlich in der Tür, im Ulster, den Hut in der Hand.

Er war blaß und verwirrt.

»Meine Herren,« sagte er, »ich muß die Gesellschaft verlassen.«

Was war das? Es wurde ganz still um den Tisch herum. Das verstörte Aussehen des Malers machte einen starken Eindruck auf seine Freunde.

»Bist du krank?« fragte einer.

»Nein,« antwortete von Brakel stammelnd, »nein, ich –«

Er tastete mit der einen Hand nach seiner Rocktasche, als ob er seinen Freunden etwas zeigen wollte. Bedachte sich dann aber eines Besseren. Ganz geistesabwesend, als ob er schon weit fort sei, nickte er seinen Freunden zu und ging schnell seines Weges.

Sein Benehmen war so seltsam gewesen, daß die Freunde eine ganze Weile ratlos sitzenblieben.

Dann aber sprang einer auf und rief:

»Teufel noch eins, das müssen wir näher untersuchen.«

Er eilte hinaus. Von Brakel war schon fort.

Als er in die Halle kam, hörte er das Schnaufen eines Autos, das in Gang gesetzt wurde und davonfuhr.

»Die hatten's eilig,« sagte der Portier. »Sehen Sie, die Tür schwingt noch, eben ist er erst durchgegangen.«

»Was war denn eigentlich los?« fragte der Freund.

»Tja, was war los?« wiederholte der Portier. »Wissen Sie, was er sagte, als er durch die Tür eilte: ›Ich bin ein unglücklicher Mensch,‹ sagte er. Er sah ganz verstört aus. Ich möchte wissen, was in dem Brief gestanden hat.«

»Hat er einen Brief bekommen?« fragte der Freund.

»Ja,« antwortete der Portier, »er bekam einen Brief. Dort auf dem Teppich liegt noch das Kuvert.«

Es war ein hellblaues Kuvert.


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