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Unter blauem Himmel

Krag fühlte plötzlich ein unbezwingliches Interesse für die Personen, die in der Burleske: »Aktiengesellschaft der 7. Dezember« mitgespielt hatten. Eine Reihe von Menschen und Situationen waren bisher an ihm vorübergewirbelt, heiter bestrahlt von dem großen Narrenspiel, das Reismann und seine Freunde arrangiert hatten. Nachts um drei Uhr, nachdem er von dem Telegraphenamt geradeswegs nach Hause gefahren war, saß er und überdachte die Ereignisse der letzten Tage. Diese Ereignisse hatten die Festlichkeit und Farben eines munteren Lustspiels. Zuerst die dramatische Sortie des Malers aus dem Grand Hotel – wie gut war das einstudiert gewesen, mit fast kokettem Raffinement. Die Szene, als er hinausging mit den Worten: »Ich bin ein unglücklicher Mensch!« gehörte ja unbedingt auf die Bühne. Dann Oedegaards Verschwinden aus Krags eigenem Fahrstuhl! Wie geschickt war auch das arrangiert gewesen, mit der erfahrenen Technik und dem sicheren Griff des mondänen Sensationsschriftstellers. Dann kam die komische Figur des Stückes – Doktor Ovesen, der vorsichtige, bequeme Spießbürger, der verwundert und widerwillig in der unerwarteten Sensation mitspielt. Ferner Rechtsanwalt Davidsen, robust, gigantisch, lärmend. Dann er selbst, der Detektiv, der von den Regisseuren rücksichtslos mit in die Posse hineingezogen wird, damit es ihr nicht an einem rein äußerlichen Effekt fehle. Ferner die melodramatische Sitzung in dem alten düsteren Wirtshaus, das im Schneewetter recht den Rahmen zu diesem Karnevalsaufzug bildet.

Jetzt aber kommt zum erstenmal ein Mißklang in die heitere Stimmung. Etwas Unvorhergesehenes hat sich in die Pläne des Regisseurs eingeschlichen: die unverständliche Episode mit Jos. Die smarten Unternehmer haben indes so viele Dinge im Kopf, daß der Fall »Jos«, wenn er auch im Moment überraschend wirkt, sie auf die Dauer nicht beschäftigen kann. Doch ist es gerade dieser Punkt, der in Asbjörn Krag ein Gefühl erweckt, als ob das Leben selbst, das launenhafte und tragische Leben, in das muntere Spiel eingegriffen und sich unter die Masken des Maskenballes gemischt habe. Noch zeigt es sich nicht deutlich, es hält sich hinter der dunklen Unwirklichkeit des Lustspiels verborgen. Dennoch hat sich bereits unheilverkündender Ernst in den Scherz gemengt; beim nächtlichen Spiel im Klub bekommt Reismann zum erstenmal eine Ahnung von diesem rauhen Ernst, als er auf unbegreifliche Weise ein ganzes Vermögen verliert. Fast scheint es, als ob der Scherz seine Rolle zu Ende gespielt hat und sich zurückziehen will, der Ernst aber sagt: »Nein, hiergeblieben, das Stück ist noch nicht zu Ende. Jetzt will ich mitspielen. Ich bin eine Macht, dazu bestimmt, die Fäden des Scherzes zu Ende zu spinnen. Wer mich lenkt, das sage ich vorläufig noch nicht. Haben Sie meine Anwesenheit denn noch immer nicht bemerkt, meine Herren? Habe ich mich Ihnen nicht deutlich genug durch den Brief um drei Uhr zu erkennen gegeben? Nun, ich gedenke fortzufahren, ich bin unerbittlich. Sehen Sie – da liegt Reismann bereits auf der Nase. Achtundsechzigtausend Kronen ärmer.«

So saß Asbjörn Krag in der Nacht und phantasierte über diese neue Wendung der Dinge oder, richtiger gesagt, über die schonungslose Fortsetzung. »Der Ernst hat recht,« dachte er bei sich, »hier in meiner Hand halte ich die Beweise, daß der Ernst bereits einen tragischen Ton bekommen hat, so gewiß, wie jedes Verbrechen immer tragisch ist.«

Auf dem Schreibtisch vor ihm lag das Material, das er von dem Spielinspektor des Klubs bekommen hatte. Krag hatte es einer genauen Untersuchung unterworfen. Deren Ergebnis hatte ihn nicht überrascht. Er wußte nun, was er vordem nur vermutet hatte: die Siegel waren erbrochen und wieder aufgesetzt.

»Es stimmt also,« dachte Krag, »der Verbrecher hat sich den Scherz auf geschickte Weise zunutze gemacht und seine Arbeit zu Ende geführt. Und es stimmt auch, daß der Ernst noch nicht verraten hat, durch welche Macht er gesteuert wird.«

Krag hatte mit dem Spielinspektor vereinbart, daß man den Verdacht geheimhalten wollte. Solange es keinen Schatten von Beweis gab, konnte eine frühzeitige Aufdeckung der Sache nur schaden. Vor allem kam es darauf an, den Verbrecher in Unwissenheit darüber zu lassen, daß man den Betrug entdeckt hatte.

Am nächsten Tag, den 7. Dezember, hatte Christiania einen jener schönen Sonnenscheintage, die die Stadt als Winterstadt so berühmt gemacht haben. So schnell kann das Wetter umschlagen. Gestern noch lag die Stadt in wirbelndem Schneesturm begraben und heute strahlte ein klarer Himmel herab, mit weißen Sommerwölkchen, die still und unbeweglich in dem blauen, sonnigen Raum standen. Es war ein Grad Kälte, gerade ausreichend, daß der Schnee nicht schmolz. Die frischgebackenen Reichen der Stadt hatten Gelegenheit, einen neuen Luxus zu zeigen. Vierspännige Schlitten eilten über die weiche Schneedecke des Fahrweges, während weiße, geflochtene Schlittennetze die Vollblutpferde umflatterten. Durch alle Straßen klang melodisches Schellengeläute. Und als die Lichter in der zeitigen Dämmerung angezündet waren, glich das Zentrum der Stadt mit den erleuchteten Theatern und Restaurants einer Weihnachtsausstellung in einem Konfitürengeschäft. Die ganze Stadt war unterwegs, um diese schönen Stunden zu genießen.

Reismann hätte für die Enthüllung seines Geheimnisses keinen besseren Tag wählen können. Wenn auch mancher von den guten Bürgersleuten eine Ahnung davon hatte, daß sich hinter dem Unternehmen ein philanthropischer Schwindel verbarg, und daß einige junge, verwegene Menschen die ganze Stadt an der Nase herumgeführt hatten, so machten der schöne Tag und die allgemeine fröhliche Stimmung doch alle nachsichtig, so daß niemand Spielverderber sein wollte. Im übrigen wußte man auch nicht, was Schwindel und was Ernst sei. Die drei Teilnehmer an dem Abenteuer hielten sich standhaft zu Hause, und als die Mittagszeitungen die Mitteilung brachten, daß der Schriftsteller Oedegaard in einer Plauderei über die seltsamen Ereignisse berichten würde, und da man seinen Witz genugsam kannte, konnte »Die blaue Eule« bereits über Mittag einen Anschlag machen, daß die wenigen noch verfügbaren Billette nur zum fünffachen Preis abgegeben würden. Die Börse war auch festlich gewesen – es war, wie gesagt, zu der Zeit, als alle Papiere stiegen, und darum fand man es ganz in der Ordnung, daß auch Varietébillette dem allgemeinen Auftakt folgten.

Vor allen Dingen aber gab der schöne Tag Veranlassung zu dem sorglosen Beisammensein, das eine Eigenart von Christiania ist, gibt es doch nur wenige erstklassige Restaurants, in denen alle Welt sich trifft und beieinandersitzt. So war es denn nicht merkwürdig, daß Asbjörn Krag im Laufe von wenigen Nachmittagsstunden, ohne Verabredung, alle diejenigen treffen konnte, mit denen er sprechen wollte. Es sah ganz harmlos und »zufällig« aus und verriet keine Absicht von Krags Seite. Das paßte ihm, denn er wollte um alles in der Welt mit seinen Fragen kein Aufsehen machen. Keiner verstand es wie Krag, während eines flüchtigen und anscheinend ganz gleichgültigen Gesprächs das aus den Leuten herauszulocken, was er wissen wollte. Zuerst trank er ein Glas Wein mit Billington in der Bodega. Dann kam die vergnügliche Unterhaltung mit Suron auf der Promenade, während die Musik spielte. Und schließlich das vorzügliche Frühstück im Spiegelsaal.

Als Krag um sechs Uhr im Zug saß, der nach Kopenhagen fuhr, vertrieb er sich die Zeit damit, das zu überdenken, was er auf diese Weise erfahren hatte.

Er saß in einem Coupé erster Klasse, und ihm gegenüber saß Fräulein Erko.

Die hübsche Finnin, Fräulein Aino Erko, saß mit züchtig niedergeschlagenen Augen da.

Daß die junge Dame sich hier im Coupé befand, hing aber mit den Neuigkeiten zusammen, die Krag heute nachmittag erfahren hatte.


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