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Der Reisekamerad

Asbjörn Krag erinnerte sich der Worte von Brakels »ein sehr hübsches Mädchen«. Der Maler hatte recht. Aino Erko war wirklich sehr hübsch. Sie war zeitig dagewesen und hatte den besten Eckplatz am Fenster bekommen. Sie las in einem englischen Magazin. Hin und wieder, wenn sie umblätterte, blickte sie auf und musterte ihre Mitreisenden. Sie war dunkel, von fast südländischem Aussehen. Sie betrachtete die anderen Passagiere mit gefühlloser Gleichgültigkeit, als ob es sie genierte, daß noch andere Menschen im Coupé seien, und jedesmal zog sie sich noch tiefer in ihre Ecke zurück. Diese reservierte Haltung wurde noch durch ihre Kleidung betont, ein dunkles, enganschließendes Reisekostüm, das bis ans Kinn zugeknöpft war. Eine schmale weiße Manschette faßte ihr Handgelenk ein. An ihrer Hand saß nur ein einziger schmaler Brillantring. Sie hatte das Gepräge einer Pflegerin, einer »Schwester«, die verschämte Zurückhaltung und das anspruchsvolle Selbstbewußtsein. Ueber der Schulter trug sie an einem Riemen eine Ledertasche mit silbernem Schloß. Dieses einfache Silberschloß gegen das schwarze Kostüm, der schmale, kaltblitzende Brillantring und die weißen Manschettenstreifen erhöhten ihre Reserviertheit. Ihre vornehme Haltung im Verein mit ihrem schönen Gesicht, das durch die Wärme im Coupé leicht gerötet war, hatte zwischen den Passagieren allgemeines Aufsehen erregt, wovon sie sich überzeugen konnte, wenn sie nur geruht hätte, ein einziges Mal die auf sie gerichteten Blicke zu erwidern. Sie war die einzige Dame im Coupé.

Asbjörn Krag hatte sie nicht gekannt, aber er wußte jetzt, daß sie es war, und er wußte auch, daß in der Ledertasche, die sie über der Achsel trug, Papiere von außerordentlicher Wichtigkeit waren. Es waren die Papiere, die Jos zu seinem großen ökonomischen Feldzug in Kopenhagen nötig hatte. Krag nahm an, daß es Bankgarantien seien und Uebertragungen von bedeutenden Werten, die zum Abschluß großer Geschäfte in einem fremden Land nötig sind. Von diesen Dingen hatte Krag mit Billington in der Bodega gesprochen. Die Papiere hatte Jos im Bureau zurückgelassen und hatte telegraphisch angeordnet, daß Fräulein Erko sie ihm nach Kopenhagen bringen sollte. Fräulein Erko war seine Privatsekretärin, der er volles Vertrauen schenkte.

Krag hatte auf seine verschlagene Art, durch die er vollkommene Gleichgültigkeit heuchelte, mit Billington über den merkwürdigen Umstand gesprochen, daß Jos Christiania so plötzlich verlassen habe, ohne die Papiere mitzunehmen. Billington aber hatte diesem Umstand kein besonderes Gewicht beigelegt, teils weil Jos sich nicht selten exzentrische Dinge leistete, teils weil Fräulein Erko seit einem Jahr die geheimste und wichtigste Korrespondenz des Chefs besorgt hatte. Im übrigen könne man nicht wissen, durch welche wichtigen Konferenzen Jos an jenem Nachmittag in Anspruch genommen gewesen sei. Jos hatte das Telegramm aus Moß abgesandt. Und so viel wußte Billington, daß große ökonomische Interessen auf dem Spiel standen, und daß ein guter Geschäftsfreund von Jos, ein Gutsbesitzer, in der Nähe von Moß wohnte.

Darauf hatte Krag mit großer Behendigkeit eine neue Attacke auf Billingtons Vertrauensseligkeit gemacht, indem er das Gespräch auf die Geschehnisse der Nacht im »Freisinnigen Klub« gelenkt hatte. Via Suron kam er wieder leicht und unbemerkt auf Jos zu sprechen. Während des Gespräches erfuhr er folgendes: Während mehrerer Monate hatte eine Verbindung zwischen Jos und Suron bestanden. Die Natur dieser Beziehungen war Billington allerdings unbekannt. Krag meinte zu bemerken, daß Billington sich Surons Existenz nur mit gewissem Widerwillen erinnerte. Vielleicht fühlte er sich zurückgesetzt, weil Jos und Suron Geschäfte miteinander vorhatten, in die er nicht eingeweiht war.

Krag dachte bei sich: »Was Billington wohl sagen würde, wenn ich ihm mitteilte, daß ich Suron im Verdacht habe, sich durch Betrügerei vierunddreißigtausend Kronen zugeschanzt zu haben, und daß Jos, der große angesehene Geschäftsmann, ihm dabei behilflich gewesen zu sein scheint?«

Und auch diese Gedanken beschäftigten ihn, während er im Coupé Fräulein Erko gegenübersaß, die nicht die geringste Notiz von seiner Anwesenheit nahm und sich nur für ihr englisches Magazin interessierte.

Krag spielte sich selbst folgendes Experiment vor: Wenn ich mich nun plötzlich vorbeugte und Fräulein Erko fragte: »Gnädiges Fräulein, wie geht es zu, daß Jos sich noch heute nacht in Christiania befand? Wie geht es zu, daß er aus Moß telegraphierte, wo er gar nicht gewesen ist?«

Ob sie ihm dann einen Blick unter ihren langen Wimpern hervorwerfen und sich verständnislos und erzürnt noch tiefer in ihre Ecke zurückziehen würde? Oder würde sie sich durch Bestürzung verraten, hervorgerufen durch den plötzlichen Ueberfall, dem selbst starke Naturen nicht gewachsen zu sein pflegen? Krag aber verhielt sich passiv. Er lehnte sich in die Ecke zurück und lauschte dem eintönigen, einschläfernden Geräusch der Räder auf den Schienen, während er sich das Bild der beiden Personen, die sein Interesse erregt hatten, ins Gedächtnis rief: Jos und Suron.

Wenn Krag sich mit einer Affäre beschäftigte, so interessierten ihn die Menschen, die darin verwickelt waren, nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung, sondern er versuchte ihrem Dasein eine Art plastischer Form zu geben. Er vertiefte alle Einzelheiten, indem er es verstand, jeden noch so kleinen Umstand im Leben des Betreffenden mit neuen Kombinationen zu verbinden. Um das Skelett von trockenen Tatsachen schuf er neue Konturen und neue Bewegungen, so daß jeder Mensch wie eine Figur in einem lebendigen, abwechslungsreichen Spiel wurde. Die trockenen Tatsachen, mit denen seine Phantasie spielte, sahen etwa folgendermaßen aus:

Jos. – Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, robuster Typ. Ein tüchtiger Geschäftsmann, der ehemals ein gutgehendes Geschäft gehabt, vor einigen Jahren aber bankrott gemacht hatte, weil er nicht genug bekommen konnte. Ein Mann, der untergehen oder sehr hoch steigen muß, weil diese Spannung mit seinem Temperament in unlösbarer Verbindung steht. Ein Mann, der sich viele Freunde erwirbt, weil das gesellschaftliche Leben seine Erholung bildet und er gern Geld ausgibt, weil Geld ihn an und für sich nicht im mindesten interessiert. Aber auch ein Mann, vor dem man sich in dem großen Spiel um Reichtum und Einfluß hüten muß, weil er bei seinen Geschäftsunternehmungen mathematisch und nicht menschlich rechnet. Als sich nach seinem Bankrott neue Möglichkeiten boten, kam er zurück und verstand sie besser und sicherer auszunutzen als irgend jemand. Er hätte sich jeden Augenblick mit einem Vermögen von mehreren Millionen zurückziehen können, was ihm aber nicht anders erschienen wäre, als wenn ein gesunder Mensch sich in ein Irrenhaus hätte einsperren lassen. Er befindet sich heute abend sicher nicht mit im Zuge.

Suron. – Finne. Aus seinen Erzählungen geht hervor, daß er die ganze Welt bereist hat. Sonst aber weiß niemand etwas anderes von ihm, als daß er vor ungefähr dreiviertel Jahren in Christiania auftauchte. Er hat ein gewinnendes, offenes Wesen, aber gerade diese Offenheit entwaffnet alle Versuche, ihm näherzukommen. Durch seine Flottheit und gesellschaftlichen Fähigkeiten hat er sich viele Freunde erworben. Auch Geld hat er erworben. Seine Freunde machen gern ein Spielchen mit ihm, und wenn es Spekulationen gilt, hat er oft Ideen, die durch ihren Scharfsinn in Erstaunen setzen. Man hält ihn für eine Künstlernatur. Er ist anstandslos von der guten Gesellschaft aufgenommen worden, vielleicht, weil man es heutzutage nicht so genau nimmt. Er ist mit im Zuge, wenn auch in einem anderen Coupé.

Der Zug hält bei Moß und fährt dann weiter. Hält bei Fredriksstad und geht weiter. Die Uhr ist fast zehn, als die Tür des Abteils lautlos zur Seite geschoben wird.

Suron steht in der Tür. Fräulein Erko legt ihr englisches Magazin aus der Hand, erhebt sich und tritt zu ihm in den Korridor hinaus.

Suron trägt einen grauen englischen Anzug, der sein kosmopolitisches Aussehen vervollständigt. Ueber der Achsel hat er ein Rennglas, eine Pfeife im Munde, auf dem Kopf einen weichen Filzhut. Er sieht aus wie ein reisender Lord oder der Korrespondent einer Londoner Zeitung.

Warum aber grüßte er Asbjörn Krag nicht?

Weil Asbjörn Krag gar nicht im Coupé saß, was dem Leser merkwürdig erscheinen mag. Dort saß ein ganz anderer, ein Franzose wohl, ein jüdisch-französischer Handelsreisender mit einem langen, seidenweichen Vollbart, den er wohlgefällig zu streichen pflegt, wenn er von Geld oder Frauen spricht.


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