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Ein Besuch bei Jos

Hansten-Jensen und Krag hatten vereinbart, daß sie sich um halb sieben Uhr an einem Ort treffen wollten, wo Ausländer in Kopenhagen wenig auffallen. Es sollte in der Zentral-Bar am Rathausplatz sein. Das gewohnte Publikum war noch nicht da, an einem Tisch saßen zwei schwedische Reisende und stärkten sich nach den Anstrengungen des vorhergegangenen Tages, und die Mädchen am Büfett fröstelten und langweilten sich und telefonierten nach ihren Friseusen. Niemand kümmerte sich um Krag, der in einer Ecke mit einem Glas Kognak saß. Er las die soeben erschienenen Abendzeitungen und studierte mit besonderem Interesse die Börsennachrichten. Am Nachmittag war starke Nachfrage nach D. O. G., nach Dänischer Orient-Gesellschaft, gewesen und die Aktien waren um fünfundzwanzig Kronen gestiegen. Die Zeitungen erwähnten dies als eine Ausnahme, denn alle anderen Wertpapiere lagen still oder waren nur ganz unbedeutend gestiegen.

Als Hansten-Jensen sich einfand, machte Krag ihn darauf aufmerksam, und sie stellten gemeinsam fest, daß diese plötzliche Kurssteigerung mit Joh. P. Christensens

Spekulation in Verbindung stehen müsse. Uebrigens waren die Wege und Irrwege der Börse heutzutage so geheimnisvoll und unbegreiflich, daß es auch einen anderen Grund haben konnte. Doch der Umstand, daß die Kurssteigerung erst am Nachmittag eingetreten war, machte es wahrscheinlich, daß Jos bei seinem Besuch in der Bank um ein Uhr die Aktien aufgekauft hatte.

Im übrigen brachte der Kopenhagener Detektiv eine Mitteilung, die Krag etwas beunruhigte. Suron hatte im Nordischen Reisebureau für den nächsten Morgen zwei Billette nach Stockholm bestellt. Und er hatte außerdem zwei Billette für den Zug bestellt, der von Stockholm Anschluß nach Haparanda hatte. Zwei Coupés erster Klasse, ein Damen- und ein Herrencoupé.

»Das sieht fast wie eine Entführung aus,« sagte Hansten-Jensen. »Sie sollen sehen, ich bekomme schließlich doch noch recht, lieber Freund, das Ganze ist eine gewöhnliche Liebesgeschichte. Suron und die junge Dame lieben sich, aber sie hat sich so tief mit dem alten Walroß Jos eingelassen, daß sie ihren Liebsten nur unter äußerster Vorsicht zu treffen wagt. Darum haben sie diese Entführung arrangiert. So etwas unternimmt man am besten von Kopenhagen aus. Hallo, Amalia, gib mir einen Manhattan und sieh nicht so verflucht tugendhaft aus, das schadet dem Geschäft.«

»Das alte Walroß ist noch nicht vierzig alt,« bemerkte Krag.

Amalia gab mit lautem Lachen dem Detektiv eine Antwort, die seine Andeutung aufs kräftigste dementierte, worauf er seinen Cocktail bekam.

»Mit solchem Bart kann er doch unmöglich auf die kleine Finnin Eindruck machen,« meinte Hansten-Jensen, »obgleich ihr dort oben im Norden einen merkwürdigen Geschmack habt. Ich sah neulich einen isländischen Liebhaber in einem Film, wie ein Buschmann war er anzusehen, zum Totlachen.«

»Der Zug geht morgens um acht Uhr,« sagte Krag, »viel Zeit haben wir nicht zu verlieren.«

»Wollen Sie vielleicht mitreisen?«

»Das nicht, aber ich will Jos vorher aufsuchen.«

»Wollen Sie ihn in Ihrer wirklichen Gestalt oder maskiert aufsuchen?«

»Maskiert,« antwortete Krag. »Es ist immer noch Zeit, sich zu demaskieren. Was aber auch geschieht, wir müssen verhindern, daß Suron morgen mit Fräulein Erko abreist.«

»Das scheint mir bis auf weiteres unmöglich,« meinte der dänische Detektiv, »denn es liegt ja auch nicht der geringste Grund zu einer Verhaftung vor. Eher könnte man ihn ausweisen, weil er eine unserer bedeutendsten Geschäftsverbindungen schädigt. Sie meinen also, daß Grund vorliegt, Herrn Christensen zu warnen?«

Krag zuckte die Achseln.

»Warnen,« sagte er, »das ist ein vieldeutiger Begriff.«

»Sie wollen ihm aber mitteilen, daß Suron in der Stadt ist?«

»Wahrscheinlich.«

»Und wenn er Ihnen antwortet: ›Zum Teufel, was geht das mich an?‹ Was wollen Sie ihm dann antworten? Ich halte es übrigens für sehr wahrscheinlich, daß er Ihnen diese Antwort gibt.«

»Dann werde ich ihm sagen, wer ich bin, und um eine Erklärung bitten.«

»Weswegen?«

»Wegen des Briefes um drei Uhr. Ich werde ihn fragen, wie es möglich ist, daß dieser Brief in Surons Besitz gelangte.«

»Und wenn er dann antwortet: ›Zum Donnerwetter, was geht das Sie an?‹ was dann?«

»Was ich dann antworten werde, beruht auf den Umständen. Ich könnte ihn zum Beispiel fragen, ob Reismann oder Suron ihm als Freund näher steht. Und wenn er sich über meine Frage wundert, werde ich ihn darüber aufklären, daß seine Antwort von größtem Interesse ist, weil einer dieser beiden Herren jeden Augenblick wegen Betrügerei verhaftet werden kann.«

»Das ist eine kühne Behauptung,« sagte der dänische Detektiv.

»Ich übernehme die Verantwortung dafür,« antwortete Krag, »denn ich weiß, daß ich recht habe.«

Krag hatte erfahren, daß der Portier im Palasthotel den Bescheid bekommen hatte, Jos Christensen wollte niemanden empfangen. Darum mied Krag den Portier und stieg geradeswegs in die zweite Etage, wo Jos' Zimmer lagen. Es waren die Nummern 28-30, Vorzimmer, Salon und Schlafzimmer. Krag kannte die Wohnung vom vorigen Jahr, als dort ein Argentinier ermordet worden war. Es handelte sich um einen politischen Mord, die Täter waren nicht entdeckt worden. Krag hatte sich zufällig in Kopenhagen aufgehalten und war häufig mit den Personen, die mit der Untersuchung zu tun hatten, darunter Hansten-Jensen, zusammen gewesen.

Er klopfte an die Tür zum Vorzimmer, und als niemand antwortete, ging er hinein.

Das Zimmer war leer, aber Krag war sich gleich darüber klar, daß der Bewohner des Zimmers erst vor einigen Minuten dagewesen war. Auf der Schreibmaschine, die auf dem Schreibtisch stand, war ein Brief angefangen. Es war offenbar das Arbeitszimmer der Sekretärin, Fräulein Erko. Neben dem großen Schreibtisch stand ein Telephonapparat mit Anschluß an die anderen Zimmer. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch, von niedrigen, bequemen Klubsesseln umgeben. Das Ganze wirkte wie ein vornehmes Sitzungszimmer. Der Teppich war in dunklen diskreten Farben gehalten, an den Wänden hingen Lithographien in Mahagonirahmen.

Warum kam niemand? Krag näherte sich der Tür, die zu den andern Räumen führte. Eine grüne Filztür. Ihm war, als hörte er nebenan Stimmen. Doch schienen sie von weither zu kommen.

Plötzlich läutete das Telephon, ein kurzes, gellendes Signal. Krag zog sich von der Tür zurück und erwartete die Sekretärin eintreten zu sehen. Aber niemand kam. Es ist etwas Merkwürdiges um ein Zimmer, wo das Telephon läutet, ohne daß jemand antwortet. Das Schweigen im Zimmer wird dadurch geradezu überwältigend. Der kleine blanke Apparat sendet einen verdichteten Lautappell aus, der alles im Zimmer angreift, sogar die Wände scheinen zu lauschen. Das Geräusch von der Straße, Menschenstimmen, Straßenbahngerassel, Pferdegetrappel, alles wird von diesem seltsamen, konzentrierten Lauschen aufgesogen, alles ist so unmittelbar deutlich zu hören. Jetzt konnte Krag auch die Stimmen aus dem Nebenzimmer auffangen, und er unterschied deutlich eine Frauenstimme, die mehrmals rief: »Nie, nie, nie!« Er hätte darauf schwören mögen, daß es Aino Erkos Stimme war. Aber niemand kam.

Jetzt läutete das Telephon wieder. Krag wartete noch einige Sekunden. Er wartete so lange, bis, wie er berechnete, ein kurzes, resigniertes Schlußläuten oder ein erneutes, längeres, energisches Signal ertönen würde. Just in diesem psychologischen Augenblick ergriff er den Hörer und antwortete: »Hallo!«

Wo er jetzt stand, hatte er einen Ueberblick über die Schreibmaschine und konnte den angefangenen Brief lesen. Er war an die Direktion der Orient-Gesellschaft gerichtet und begann folgendermaßen:

»Bezugnehmend auf unsere Unterredung mit Ihrem Rechtsanwalt, Herrn Annebye, erlaube ich mir hierdurch zu bestätigen, daß –«

Weiter war die Schreiberin nicht gekommen.

»Ist Herr Schiffsreeder Christensen selbst am Telephon?« fragte eine Stimme.

»Ja,« antwortete Krag.

»Hier der Portier. Ich habe soeben mit dem Nordischen Reisebureau gesprochen. Die Sache ist geordnet, die Fahrkarten sind abbestellt.«

»Schön,« antwortete Krag. »Beide Fahrkarten?«

»Ja, gewiß,« sagte der Portier erstaunt. »So lautete doch Ihr Auftrag. Zwei Fahrkarten nach Haparanda.«

»Gut. Ich danke,« antwortete Krag und legte den Hörer nieder.

Beide Billette abbestellt! – Hatte denn auch Jos die Absicht, nach Haparanda zu reisen? Oder handelte es sich hier vielleicht um Surons Fahrkarten?

Plötzlich ging die Filztür auf, und Fräulein Aino Erko trat raschen Schrittes ein.


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