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Der Geschäftsführer

Als Rechtsanwalt Davidsen in seinem Bericht bis hierher gekommen war, machte er eine unfreiwillige Pause. Er bedurfte einer Stärkung und mischte sich einen neuen Grog. Das Ereignis hatte seine Nerven sehr angegriffen, er fühlte sich dieser geheimnisvollen Affäre gegenüber gänzlich machtlos. Auch Doktor Ovesens Gesicht spiegelte den heißen Kampf, der in seinem Inneren vorging: Sollte er es glauben, oder sollte er es nicht glauben? Was er an menschlicher Vernunft besaß, drängte zu Zweifeln, die tatsächlichen Ereignisse aber zwangen ihn, sich mit der phantastischen Wirklichkeit abzufinden.

Nach kurzer Ueberlegung fragte Asbjörn Krag:

»Hat auch er das Kuvert verloren?«

»Was meinen Sie damit?«

»Die anderen Herren, die diese Briefe bekamen, hatten die Kuverts zu Boden fallen lassen, ob es nun aus Schreck oder aus einem anderen Grunde geschah. Ich möchte gern das Kuvert sehen, das Jos bekommen hat.«

»Nein,« sagte Davidsen, »Jos zerknitterte sowohl Brief wie Kuvert und steckte beides in die Tasche, bevor er das Zimmer verließ.«

»Folgten Sie ihm?«

»Nein.«

»Das war klug und wohlüberlegt,« murmelte Doktor Ovesen und lächelte ironisch.

Davidsen entschuldigte sich damit, daß alles so unerwartet gekommen sei. Er hatte ein oder zwei Minuten gewartet, war dann in den großen allgemeinen Kontorraum geeilt und hatte nach dem Chef gefragt. Man hatte ihm geantwortet, daß der Chef fortgegangen sei. Einer der Angestellten hatte die Beobachtung gemacht, daß der Chef ziemlich verstört ausgesehen habe. Während er im Vorraum Mantel und Gummischuhe anzog, hatte der Angestellte ihn ärgerlich vor sich hinfluchen hören. Der Angestellte hatte ihn gefragt, ob er bald zurückkäme, worauf der Chef kurz geantwortet hatte: »Kümmern Sie sich um Ihre eigene Arbeit!«

»Sie haben sich aber doch erkundigt, wie der Brief ins Bureau gekommen ist?«

»Natürlich, und hier fängt die Sache an, mystisch zu werden. Anfangs antwortete man mir, daß alle Briefe durch die Post kämen.«

»Anfangs! Was meinen Sie damit?«

»Ich glaubte mich zu erinnern, daß der hellblaue Brief keinen Poststempel trug. Darum sagte ich, es sei immerhin möglich, daß dieser oder jener Brief auch auf andere Weise abgeliefert werden könnte. Ich bemerkte, daß man meine Fragen im Bureau wie eine Art lästiger Neugierde aufnahm. Daß eine Verbindung zwischen dem Fortgehen des Chefs und dem sensationellen hellblauen Brief bestand, war noch niemandem eingefallen. Ein Beweis, wie unglaublich das Ganze ist, und daß auch ich mich davon überrumpeln lassen konnte. Als ich erfahren hatte, daß Briefe in der Box des Hauptpostamtes abgeholt zu werden pflegten, fragte ich nach demjenigen, der die Post geholt hatte. Es war einer der Boten. Er machte eine äußerst interessante Mitteilung. Er hatte den blauen Brief von einem Mann bekommen, der vor der Post wartete. ›Bist du bei Joh. P. Christensen angestellt?‹ hatte der Mann ihn gefragt. ›Ja.‹ ›Dann nimm diesen Brief mit.‹ Der Junge hatte nicht darauf geachtet, was es für eine Art Brief war, sondern hatte ihn zu den übrigen gelegt. Und ohne weiter darauf zu achten, hatte auch das Fräulein alle Briefe zum Chef hineingebracht.

Natürlich fragte ich den Jungen, wie der Mann, der ihm den Brief gegeben hat, aussah. Er mochte zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt sein und war einfach gekleidet. ›War es ein Chauffeur?‹ fragte ich den Botenjungen. ›Das mag sein,‹ meinte der Junge, aber er hatte nicht bemerkt, daß ein Auto in der Nähe stand.«

»Das beweist,« schob Krag ein, »daß der Mann, der den Brief ablieferte, keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Die Sache hat schon zu viel Aufsehen gemacht. Er wagt es nicht mehr, den Brief selbst abzuliefern. Aber dieselbe Wirkung wie die vorigen scheint er gehabt zu haben, da auch Jos verschwunden ist.«

Doktor Ovesen erhob sich, vor Wut bebend.

»Es ist doch mehr als merkwürdig,« rief er, »daß man nicht erfahren kann, was in den Briefen steht. Ist es nicht unglaublich, daß der kaltblütige, überlegene Jos bei solcher Gelegenheit den Kopf so ganz verliert, daß er Davidsen nicht eine Andeutung über den Inhalt des Briefes macht!«

»Sie haben doch gehört, was Davidsen sagte,« wandte Krag ein. »War er nicht drauf und dran, Ihnen etwas aus dem Brief mitzuteilen und besann er sich dann nicht eines anderen, steckte den Brief in die Tasche und eilte hinaus?«

Davidsen nickte eifrig.

»Ja, ja, so war es,« bestätigte er.

Krag fuhr fort:

»Ich glaube nicht, daß wir etwas über den Inhalt der Briefe erfahren, bevor wir selbst einen bekommen.«

Doktor Ovesen lachte laut auf.

»Glauben Sie,« fragte er, »daß auch ich mit solchem Brief beehrt werden könnte?«

»Warum nicht?«

»Und daß ich gleich nach Empfang entsetzt meines Weges rennen würde, ohne meinen Freunden eine Mitteilung zu machen?«

»Man kann nie wissen. Der Inhalt der Briefe scheint ja größte Eile zu erfordern und dem Empfänger Beine zu machen.«

Doktor Ovesen ließ seine Faust schwer und entschieden auf den Tisch fallen.

»Nie im Leben«, rief er, »könnte ein Brief auf mich solchen Eindruck machen. Was könnte darin stehen?«

Asbjörn Krag lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blickte sinnend vor sich hin.

»Wir wollen mal ein Gedankenexperiment machen,« sagte er. »Die meisten, oder vielleicht alle Menschen haben irgendein Geheimnis, von dem sie annehmen, daß kein anderer Mensch es kennt. Dieses Geheimnis kann mehr oder weniger ernsthafter Art sein. Es ist fast unmöglich, daß ein Mensch, der zwanzig, dreißig, vierzig Jahre auf dieser Welt gelebt hat, nicht ein solches Geheimnis mit sich herumträgt. Es braucht nicht einmal ihn selbst zu betreffen, es kann auch das eines anderen sein. Dann bekommt er eines Tages einen Brief, worin dieses Geheimnis von einem anderen, von einem Unbekannten erwähnt wird ... könnte man nicht auf diesem Wege eine Erklärung finden?«

»Solche Geheimnisse habe ich nicht,« sagte Doktor Ovesen mürrisch.

»Das ist ja möglich, nur darum haben Sie auch keinen Brief bekommen. Schade übrigens. Wenn Sie ein Geheimnis hätten, dann würden Sie vielleicht auch solchen Brief, und wir eine Erklärung bekommen. Denn Sie würden uns das Geheimnis doch gleich enthüllen, nicht wahr?«

Krag lächelte ironisch.

»Ihre Theorie ist nicht stichhaltig,« sagte Doktor Ovesen widerstrebend, »denn sie setzt bei dem Absender Allwissenheit voraus.«

»Bevor ich Jos' Kontor verließ,« fuhr Davidson fort, »kam der Geschäftsführer, Harald Billington, den Sie ja auch kennen. Als er hörte, daß ich mit dem Personal über einen hellblauen Brief verhandelte, zog er mich hastig ins Privatkontor. Meine Herren, Herr Billington verriet alle Anzeichen einer nervösen Unruhe. Er gab sich alle Mühe, Jos' Verschwinden als ein ganz alltägliches Ereignis darzustellen, und bemerkte etwas von einer Konferenz auswärts. Als ich ihm die seltsame Episode von dem hellblauen Brief erzählen wollte, unterbrach er mich, als ob er die ganze Geschichte schon kenne, zog seine Uhr und murmelte das eine Wort: ›Schon‹ vor sich hin. Ueberhaupt hatte ich den Eindruck, als ob Billington mehr wußte, als er zeigen wollte.«

»Er war nicht zugegen, als der Chef fortging?« fragte Krag.

»Nein,« antwortete Davidsen, »er kam erst, als ich das Personal ausfragte.«

»Dann ist es ja möglich, daß er in der Zwischenzeit den Verschwundenen gesprochen hat.«

»Es ist sogar sehr wahrscheinlich,« antwortete Davidsen, »denn Billington bestritt aufs entschiedenste, daß das Verschwinden seines Chefs mit den sensationellen Ereignissen in Verbindung stehe. Er sagte ausdrücklich und mit scharfer Betonung: ›Jedes derartige Gerücht wird aufs bestimmteste dementiert werden.‹«

»Ich schlage vor,« sagte Doktor Ovesen, »daß wir Billington sofort herbitten. Er scheint etwas zu wissen.«

Im selben Augenblick wurde laut an die Tür geklopft. Doktor Ovesen zuckte zusammen.

»Sie werden blaß, Doktor Ovesen,« sagte Krag lächelnd. »Vielleicht ist es der Brief für Sie.«


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