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Achtzehntes Kapitel

Kurz nach vier schlüpfte Miss Warren auf den Korridor hinaus und eilte in die Küche. Abbott stand noch immer vor der Tür, doch hielt er sie nicht mit Fragen auf. Dr. Cunningham und Edith, die zusammen mit Dr. Shane neben der Schwester saßen, blickten beim Erscheinen Miss Warrens auf, doch schüttelte die Pflegerin nur den Kopf, als wollte sie sagen, daß es nichts zu berichten gebe, und die drei sprachen von neuem leise miteinander.

In der Küche goß sich Miss Warren eine Tasse heiße Bouillon ein und füllte sechs weitere Tassen, die sie der Gruppe in der Nische anbot. – Der arme Abbott, so dachte sie, hatte anscheinend die Absicht, den Rest der Nacht hier mit Warten zu verbringen. Er stieß die Tür auf und hielt sie offen, bis Miss Warren das Krankenzimmer betreten hatte.

Audrey Hilton, die am Fußende des Bettes saß, nahm die Tasse mit einem dankbaren, müden Lächeln. Tubby gab sich nicht einmal die Mühe, den Kopf zu wenden. Miss Warren stellte das Tablett hin und ging zu ihrem Platz am Fenster, von wo aus sie Tubby von der Seite her betrachten konnte.

Sie arbeitete seit sechs Jahren mit ihm zusammen, doch sah sie den Chef heute zum erstenmal beinahe fassungslos und ohne das geringste Interesse für seine Umgebung. Es geschah ganz selten, daß sich Tubby im Zimmer eines Patienten sehen ließ, ehe dieser aus der Narkose erwacht war. Kam er dann, so war er würdevoll und steif. Miss Warren betrachtete den plötzlich fremd Gewordenen mit neugierigen Blicken. Es fiel schwer, in dem alten Mann mit den verschwollenen Augen, der erschöpft auf einem Sessel hockte und unentwegt auf das gerötete Gesicht in den Kissen starrte, den selbstsicheren, eingebildeten Dr. Forrester zu erkennen.

Tubby trug noch immer den weißen Kittel, er hatte nur die Kappe abgelegt. Der Kittel hatte sich unordentlich über die Knie heraufgezogen. So verharrte er reglos; nur anfangs war er bei jedem langsamen Atemzug des Patienten zusammengezuckt und hatte dann aufgeatmet, als habe er soeben einen steilen Gipfel erreicht.

Das Ganze, fand Miss Warren, war äußerst dramatisch. Einiges konnte sie verstehen, doch gab es auch viel, was einer Erklärung bedurfte. Selbstverständlich wußte die ganze Klinik, daß Tubby und Beaven seit Jahren miteinander in Fehde lagen. Das war eine so alte Geschichte, daß sie niemanden mehr interessierte. Sie erschien allen andern ebenso natürlich wie anscheinend den beiden Widersachern. Die Tatsache, daß Tubby die Operation ausgeführt hatte, war selbstverständlich. Würde es sich um einen kleinen Bauchschnitt oder etwas Ähnliches gehandelt haben, das beinahe im Dunkeln ausgeführt werden konnte, so hätte es auffallen können – dieser furchtbare Schädelbruch hingegen fiel nur in Tubbys Gebiet. Kein anderer würde, wenn Tubby anwesend war, sich an die Operation gewagt haben. Miss Warren hatte geschaudert, als sie sah, wie Tubby ein Loch in Beavens Kopf bohrte, und sich dabei an die wütenden Blicke erinnert, die er sonst über diesen Operationstisch hinweg Jack zuzuwerfen pflegte.

Es war begreiflich, daß Tubby an dem Gelingen der Operation viel lag. Gerade die zwischen ihm und Beaven herrschende Feindseligkeit mußte ihn anspornen, sein Bestes herzugeben. Es wäre ein furchtbarer Skandal geworden, hätte jemand auch nur zu munkeln gewagt, daß Tubby sich nicht alle erdenkliche Mühe gegeben habe, um Beavens Leben zu retten. Diese Operation war unleugbar, und mochte der Chirurg auch noch so geschickt sein, ein ungeheures Wagnis. Starb Beaven – und viele glaubten, daß er nicht am Leben bleiben werde –, so gäbe es mehr als einen an der Klinik, der vielsagend den Kopf schütteln, wenn auch nicht den Mut zu einer offenen Anklage finden würde.

Während Miss Warren dies dachte, fand sie auch die Erklärung für etwas, das sich im Operationssaal zugetragen hatte. Sie hatten alle sieben um den Operationstisch gestanden und darauf gewartet, daß die Narkose wirke. Als Carson dann nickte, daß es soweit sei, hatte Tubby sich geräuspert und feierlich erklärt: »Es darf nicht mißlingen!«

Natürlich – dies war der Grund, weshalb die Operation gelingen mußte: Tubby konnte sich nicht der Verdächtigung aussetzen, er habe einen unliebsamen Kollegen nachlässig operiert. Aber – Miss Warren kniff die Augen zusammen und betrachtete forschend Tubbys Gesicht – auch diese Annahme schien nicht zu stimmen. Nun, da der alte Tubby sein Bestes getan hatte – und Miss Warren hatte gehört, wie Shane zu Cunningham sagte, er habe noch nie eine größere chirurgische Leistung gesehen –, brauchte er doch nicht wie eine Statue dazusitzen, als ob ihn etwas schwer bedrücke.

Vielleicht fühlte er Reue über die schlechte Behandlung, die er Beaven immer hatte zuteil werden lassen. Aber nein, auch das stimmte nicht – in Tubbys angstvollen Blicken war mehr als Reue zu sehen. Er war wirklich tief besorgt. Wäre es nicht seltsam, wenn er Beaven, obgleich er ihn gequält und verspottet hatte, insgeheim doch gern gehabt hätte und nur zu mürrisch und eingebildet gewesen war, um dies einzugestehen? Jeder konnte sehen, daß Tubby tief erschüttert war. Auf seinem Gesicht lag jener Ausdruck »Das-ist-das-Ende-aller-Dinge«, den man bisweilen auf dem Antlitz eines jungen Ehegatten oder eines liebenden Vaters angesichts des drohenden Verlustes eines lieben Angehörigen sah.

Miss Warrens Augen schweiften von Tubby zu der schönen Audrey Hilton hinüber. Sie hatte Miss Hilton nicht mehr gesehen, seitdem ihr kleiner Neffe hier operiert worden war, der Bub, der steif und fest behauptet hatte, seine Tante sei eine Chinesin. Manchmal hatte sie wirklich wie eine Chinesin ausgesehen. Miss Warren erinnerte sich, daß sie sich früher einmal gefragt hatte, ob Beaven nicht ein großes Interesse für diese geheimnisvolle kleine Brünette mit den schwarzblauen Stirnfransen und dem ausländischen Akzent empfinde. Einmal hatte Miss Warren Beaven im »Livingstone« angerufen, und dann war Miss Hilton ans Telefon gekommen. Die Lippen der Pflegerin verzogen sich zu einem verständnisvollen Lächeln. Beaven hatte sie vielleicht alle zum Narren gehalten und vor ihrer Nase dem Mädchen den Hof gemacht, ohne daß jemand es gemerkt und darüber geklatscht hätte – wahrlich, eine schöne Leistung!

Nun konnte man auch sehen, daß sein Hofmachen Erfolg gehabt hatte; denn auch in Miss Hiltons Augen zeigte sich dieser Ausdruck: »Das-ist-das-Ende-aller-Dinge«. Seitdem Beaven um halb eins aus dem Operationssaal hierhergebracht worden war, saß das Mädchen reglos da, die kleinen weißen Hände unter der Brust gekreuzt, genau wie auf den Bildern, die chinesische Frauen zeigen. Bisweilen wanderten Miss Hiltons Blicke langsam zu Tubby hinüber, doch sprach sie nicht mit ihm, und auch er kümmerte sich nicht um sie. Das war seltsam, zumal es hieß, die beiden seien, als die Nachricht von Beavens Verletzung kam, zusammen aufs Land hinausgefahren. Man sollte annehmen können, daß zwei Menschen, die so spätnachts draußen zusammen waren, befreundet seien.

Das alles bedurfte einer Klärung. Miss Warren ließ ihrer Phantasie freien Lauf, denn sie hatte im Augenblick nichts anderes zu tun. – Vor allem durfte nicht vergessen werden, daß Tubby und Beaven miteinander nichts zu schaffen hatten. Sodann kam Beavens und Miss Hiltons Verliebtheit in Betracht. Selbstverständlich empfand das Mädchen Tubby als seinen Feind. Sobald sich jedoch etwas ereignet hatte, waren Tubby und Miss Hilton losgezogen, um Beaven zu retten. Wie reimte sich das zusammen? Und selbst wenn dieser Umstand irgendwie begreiflich wäre – weshalb saßen die beiden nun bereits seit drei Stunden nur wenige Fuß voneinander entfernt, ohne ein Wort oder einen Blick zu tauschen?

Miss Warren bemerkte plötzlich, daß der tragische Zug auf Miss Hiltons Gesicht sich mit einem Male änderte. Die müden Augen weiteten sich, die Lippen standen offen. In der gleichen Sekunde setzte Tubby sich gerade auf. Beavens rhythmisch keuchender Atem setzte aus, ging dann in einen tiefen Seufzer über, in ein halb artikuliertes »Oh!«, als kehre sein Bewußtsein langsam zurück. Von Tubby gefolgt, trat Miss Warren an das Bett. Audrey war aufgestanden und umklammerte mit beiden Händen den Bettpfosten. Tubby riß das Stethoskop aus der Tasche, beugte sich über Beaven, legte das Stethoskop an und horchte gespannt. Miss Hilton trat zu ihm, lehnte sich gegen ihn, als könne auch sie in dieser Stellung etwas hören. Als Tubby sich abermals aufrichtete, blickte sie zu ihm auf und fragte gespannt: »Bedeuten diese längeren Atemzüge etwas?«

»Ja«, antwortete Tubby und blickte sie an, als habe er sie nie zuvor gesehen. »Sie bedeuten, daß er das Bewußtsein zurückzugewinnen beginnt.«

Miss Warren hatte von allem Anfang an das Verhältnis der beiden interessant gefunden. Jetzt jedoch gab sie es endgültig auf, es zu verstehen, denn das Mädchen preßte beim Vernehmen der guten Nachricht die Stirn gegen Tubbys Arm, als sei sie seine Tochter, und flüsterte:

»O lieber Gott!«

Miss Warren wandte sich von der ihr unverständlichen Szene ab und ihrem Patienten zu, dessen aufgesprungene Lippen sie mit kleinen Eisstücken befeuchtete. Hoffentlich war Tubby menschlich genug, sich um das Mädchen zu kümmern, denn jeder sah, daß es nichts mehr ertragen konnte und dem Zusammenbruch nahe war. Als Miss Warren wieder zu ihnen hinüberblickte, standen die beiden noch wie zuvor. Sie sah Tubbys Gesicht und starrte es an, wiewohl sie fühlte, daß sie dies nicht tun dürfe. Tubby versuchte nicht, das Mädchen zu beruhigen, das sich noch immer an ihn klammerte. Sein grauer Kopf war tief geneigt, sein Gesicht grotesk verzerrt. Miss Warren fühlte, daß sie sich abwenden sollte, doch war sie von dem seltsamen Anblick hypnotisiert. Jetzt riß sich das Mädchen zusammen, wankte zum Fenster und starrte in die Nacht hinaus.

Tubby gab Miss Warren brummend einen Auftrag, setzte sich müde, atmete tief, beugte sich vor und preßte die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Miss Warren ging aus dem Zimmer und sagte Dr. Abbott, daß Beaven soeben aus der Narkose erwache. Abbott verbeugte sich und huschte geräuschlos den Korridor entlang, um dies den andern mitzuteilen. Miss Warren folgte ihm und ging zu der Etagenschwester, an die sie Tubbys Botschaft weitergab. Diese telefonierte hinunter. Mrs. Cunningham, die die Botschaft vernahm, sagte: »Oh, sehr freundlich von ihm.«

 

Als die Ambulanz vor der Klinik haltgemacht hatte, waren alle rasch an die Arbeit gegangen, ohne sich um Thomas Buckley zu kümmern, der, da er hier nichts zu suchen hatte, nicht wußte, was er tun sollte.

Am vernünftigsten schien es ihm, heimzugehen. Jetzt war das ja nicht mehr gefährlich, und er empfand große Müdigkeit. Seine kalten Füße und heißen Lungen pochten auf ihr Recht, doch diese Nacht war die ereignisreichste in Thomas Buckleys Leben gewesen, und er wollte sie nicht auf so nüchterne Art beenden. Außerdem war er ehrlich um Beavens Leben besorgt und wußte, daß die Operation über dessen Leben oder Tod entscheiden werde.

Buckley hatte im Verlauf weniger Stunden viel erlebt. Es war ihm unerwarteterweise großes Lob zuteil geworden, und er, ungewohnt der berauschenden Ambrosia, mit der Helden genährt werden, war davon leicht trunken. Hatte er früher mit Höhergestellten zu tun gehabt, so war er meist mürrisch und empfindlich gewesen, nun hatte der verdiente Lohn ihn auftauen lassen. Er war ja nicht nur unter gefährlichen Umständen zu Jack zurückgekommen, um diesem nach Möglichkeit zu helfen, sondern hatte auch auf der Fahrt mit Dr. Cunningham die rechten Worte gefunden.

Sie fuhren mit großer Geschwindigkeit hinter den roten Lampen der dahinrasenden Ambulanz einher. Thomas dachte, man müsse es dem alten Doc Forrester lassen, daß er sich darauf verstand, ein Auto zu lenken. Er empfand nicht die geringste Furcht, den Wagen auf volle Touren zu bringen. Unterdessen sprach dieser famose Dr. Cunningham mit Thomas, Mann zu Mann, und steigerte dessen Selbstbewußtsein.

Es war seltsam, in dem vornehmen Auto zwischen zwei berühmten Männern dahinzufahren. Zwar ein bißchen eng, denn die beiden Ärzte waren groß und kräftig und trugen dicke Mäntel, aber das störte Thomas nicht. Er war ihnen nicht im Weg. Cunningham behandelte Thomas, als sei er jemand, fragte ihn, was er arbeite, und ließ sich die Geschichte von der Flugzeugfabrik erzählen. Cunningham meinte, ein so gescheiter Arbeiter müsse doch Arbeit finden, und fragte: »Hätten Sie Lust, als Mechaniker in einer Garage zu arbeiten?« Thomas antwortete, er möchte es gern, und Cunningham versprach, sich um die Sache zu kümmern. Thomas verlieh der Hoffnung Ausdruck, daß es ihm möglich sein werde, eine Arbeit anzunehmen, doch würde er es wohl mit der Polizei zu tun bekommen. Cunningham erwiderte, wenn Beaven am Leben bliebe, so werde Thomas frei ausgehen, andernfalls freilich werde er als Kronzeuge verhaftet. Thomas sagte: »Ich hoffe zu Gott, daß der Doc wieder gesund wird.« Daraufhin fuhr Cunningham ihn an: »Damit Sie nicht eingesperrt werden?« Das versetzte Thomas in Zorn, und er rief: »Das gefällt mir nicht, Doc! Der Mann ist mein Freund, und wenn er stirbt – dann brauchen Sie für mich keine Arbeit mehr zu finden.«

Cunningham war gar nicht beleidigt. Sie saßen dicht beieinander, er legte den Arm um Thomas' Schulter und sagte: »So ist's recht, Thomas. Das kommt daher, daß Sie mutig waren. Noch vor ein paar Stunden sind Sie fortgelaufen und haben Beaven in seinem Blut liegenlassen, dann aber hat Sie etwas gepackt, und Sie sind den ganzen Weg durch den Schlamm zurückgerannt. Und jetzt ist es Ihnen einerlei, was Ihnen geschieht, wenn nur der Doc gesund wird. Jetzt wird aus Ihnen etwas werden. Sobald ein Mensch sich nicht mehr um sich selbst, sondern um seinen Freund sorgt, gewinnt er an Bedeutung. Sie verstehen, was ich meine, Thomas.«

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie vorhin angefahren habe, Doc.«

»Sie hatten ganz recht. Entschuldigen Sie meine Worte. Ich wußte ja, daß Sie heute etwas Gutes gefunden haben, und wollte feststellen, wieviel es wert ist.«

Während sie miteinander sprachen, hielt der alte Doc Forrester unentwegt den Fuß auf dem Gashebel. – Komisch, dachte Thomas, da hab' ich immer geglaubt, daß Ärzte in weiße Kittel gekleidete weibische Kerle sind, umherstolzierende, eingebildete, zimperliche Burschen. Diesen beiden konnte man das wahrlich nicht vorwerfen. Der alte Doc Forrester hatte auf halbem Weg erklärt, sie könnten getrost vorfahren und alles für die Operation vorbereiten, und er war an der Ambulanz vorbeigerast, als sitze er in einem geparkten Auto. Und Cunningham hatte gemütlich geplaudert. Man hätte glauben können, die beiden säßen, Pfeife rauchend, daheim am Kamin. Auch in der Stadt hatte der alte Doc das Tempo nicht verringert, sie waren mit brüllendem Motor und mit 70-Meilen-Geschwindigkeit durch das Geschäftsviertel gerast. Und nun sprach Cunningham von dem Mädchen, dem Thomas einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Er redete mit dem alten Doc Forrester, als sei Thomas gar nicht zugegen.

»Du wirst ihn durchbringen, Tubby«, sagte Cunningham. »Er muß gesund werden, das weißt du ja. Es gibt dafür mehrere Gründe. Er ist ein wertvoller Mensch wir dürfen ihn nicht verlieren. Außerdem muß er gesund werden, um zu erfahren, daß du zu ihm gekommen bist, ungeachtet der Gefahren, von denen du bedroht warst. Und überdies muß er wissen, was für ein Prachtmädel er heiraten wird. Miss Hilton wird es ihm nie sagen. Das mußt du tun, Tubby. Es ist eine schöne Aufgabe. Er glaubt ja zu wissen, wie groß sein Glück ist, aber du mußt ihm sagen, daß es noch weit größer ist, als er ahnt. Und die Gabe wird doppelt wertvoll sein, wenn sie von dir kommt. Er weiß, daß du nicht im geringsten sentimental bist. Tubby – bei Gott! – du mußt ihn durchbringen – und wenn du ein Wunder tun mußt!« Forrester erwiderte kein Wort. Er gab nur noch mehr und mehr Gas, raste geradeswegs durch die Stadt mitten auf der Straße dahin, nahm bei der Klinik auf zwei Rädern die Biegung und hielt schließlich mit knirschenden Bremsen vor dem Ambulanztor.

Die beiden Ärzte stießen den Schlag auf und sprangen nach beiden Seiten hinaus. Thomas aber blieb im Wagen sitzen, die beiden hatten ihn völlig vergessen. Eine kurze Weile fühlte er sich gekränkt. Dr. Cunningham hatte in ihm das Gefühl der eigenen Wichtigkeit erweckt, und nun brauchte ihn niemand. Die beiden waren an die Arbeit geeilt, sie waren wichtig. – Aber auch er war ein wichtiger Mann; sie wußten, wo ihr Platz war – aber auch er wußte, wo der seine war. Dennoch fühlte er sich etwas verlassen und stieg schließlich aus. Eben fuhr die Ambulanz vor. Er eilte zur Tür. Vielleicht würden sie ihm erlauben, den Doktor tragen zu helfen. Aber man brauchte ihn nicht.

Zuerst stieg das Mädchen aus und wartete, bis der Fahrer und der Chinese die Bahre heraushoben. Thomas staunte über die Geschicklichkeit und Geschwindigkeit, mit der sie es taten. – Sie müssen es häufig tun, dachte er, sie kennen jeden Griff. Einen Augenblick später waren sie bereits durch die Tür und im großen Lift.

Thomas verharrte wartend und fragte sich, was er tun solle. Im oberen Stockwerk würde er kaum gern gesehen sein. Vielleicht könnte er zu dem Saal gehen, in dem Martha lag, und im Vorraum warten. – Aber nein, auch das ging nicht. Es war ja Mitternacht, und er war dort ohnehin nicht behebt. Vielleicht, wenn die Pflegerinnen erfuhren, was er getan hatte? – Nicht daß er es ihnen erzählen wollte, doch könnte jemand anders es tun, der alte Dr. Forrester oder das Mädchen – falls Beaven gesund würde.

Buckley schauderte. Niemand konnte etwas dagegen haben, daß er aus dem Schnee in die Wärme trat. Er öffnete die schwere Tür und schritt im Korridor auf und ab. Nach kurzer Zeit hörte er den Lift kommen. Der Chinese stieg aus.

»Ich bin froh, daß Sie noch hier sind, Mr. Buckley. Dr. Cunningham läßt sich entschuldigen, weil er Ihnen nicht gesagt hat, daß Sie hier übernachten sollen. Bitte, kommen Sie mit mir. Einer der Spitalsdiener wird Sie in Ihr Zimmer führen. Falls Sie hungrig sind, wird er Ihnen zu essen bringen.«

Thomas wollte etwas sagen, doch durfte der Chinese nicht sehen, daß er den Tränen nahe war, deshalb schwieg er. Während sie in den dritten Stock hinauffuhren, wiederholte Thomas Buckley bei sich, was für ein famoser Kerl dieser Dr. Cunningham doch war – der famoseste auf der ganzen Welt; er hatte ihn, Thomas Buckley, doch nicht vergessen.

 

Abbott trat zu den dreien und meldete mit einer Würde, als künde er das Nahen des Kaisers an: »Dr. Beaven beginnt gerade aus der Narkose zu erwachen.«

Cunningham sprang von seinem Stuhl, ballte die Hände zur Faust, streckte die langen Arme zu einem ekstatischen Halleluja aus und rief: »Gott sei Dank!«

Shane lief Abbott nach, der bereits wieder zum Krankenzimmer zurückeilte. Edith Cunningham wischte sich hastig die nassen Augen und beobachtete Bill. Dieser hatte sich wieder hingesetzt, hielt den Kopf in den Händen und versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen. Miss Warren hatte der Etagenschwester etwas zugeflüstert, das eben dem Büro weitergegeben wurde, und Edith, die es gehört, sagte: »Sehr freundlich von ihm.« Dann schritt sie langsam in Richtung von Jacks Zimmer. Unterwegs begegnete sie Audrey, die ihr in die Arme fiel.

»Gut, gut«, flüsterte Edith sanft, »nimm dich zusammen, Liebste! Du hast viel durchgemacht und bist völlig erschöpft, aber jetzt ist ja alles gut! Komm, es ist ein Bett für dich bereit.«

»Ich kann nicht schlafen«, warf Audrey kopfschüttelnd ein.

»Du mußt dich niederlegen«, erklärte Edith. »Befehl höchster Autorität: Tubbys Befehl! Es war ein böser Tag für den alten Brummbär. Liebling, tu, was er sagt! Er kann es nicht vertragen, wenn man ihm nicht gehorcht.«

»Ich weiß es«, erwiderte Audrey hölzern. »Ich sollte lieber ins Hotel zurückgehen. Wir fahren doch heute heim, nicht wahr?«

»Heim?« Edith sah sie verständnislos an. »Bevor Jack mit dir sprechen konnte? Auf keinen Fall! Wir bleiben hier, bis es ihm wieder ganz gut geht.«

»Hat Dr. Forrester wirklich gesagt, daß ich die Nacht in der Klinik verbringen soll?« fragte Audrey.

»Selbstverständlich, Liebste. Miss Warren hat es mir eben mitgeteilt. Geh jetzt. Ruh ein wenig, dann kannst du am Morgen Jack sehen. Bis dahin wird er ganz wach sein und dich zu sehen verlangen.«

Einen Ausdruck geheimen Zweifels auf dem Gesicht, ließ sich Audrey von der Freundin den Korridor entlangführen und zu Bett bringen. Edith sagte der Pflegerin, sie werde Miss Hilton beim Auskleiden helfen.

»Bedenk doch, Liebste«, meinte Edith, während sie Audreys Abendkleid in den Schrank legte, »wir haben ihn wieder. Bill sagt, es habe an einem Haar gehangen. Ich fürchte, er hatte nur wenig Hoffnung.«

»Ich weiß es«, flüsterte Audrey. »Du mußt verzeihen, daß ich nicht spreche. Ich bin schrecklich müde.« Edith deckte sie zu, küßte sie auf die Wangen und schloß die Tür leise hinter sich. Sie war eigentlich ein wenig gekränkt. Es sah Audrey so gar nicht ähnlich, sich ihr nicht anzuvertrauen. In dieser Nacht hatte sich mit Audrey viel ereignet, das einer Erklärung bedurfte.

Als um Mitternacht die Ambulanz mit Jack die Klinik erreicht hatte, brauchten die Ärzte noch etwa eine halbe Stunde, um die Schädeldecke zu durchleuchten und alles für die Operation vorzubereiten. Edith hatte sich liebevoll Audreys angenommen. Sie waren in eins der Extrazimmer gegangen, und Edith hatte auf taktvolle Art versucht, alles zu erfahren; doch Audrey war seltsam zurückhaltend gewesen. Wohl hatte sie, wie aus weiter Ferne sprechend, zugegeben, daß sie mit Dr. Forrester im Universitätsklub diniert habe. Nein, sie habe die Einladung erst im letzten Augenblick erhalten. Ja, dort hätten sie alles erfahren, und von dort wären sie sofort losgefahren. Sonst gebe es darüber nichts zu sagen, hatte Audrey erklärt.

»Ja, aber daß du mit Tubby – ausgerechnet mit Tubby! – diniert hast!« hatte Edith ungläubig ausgerufen. »Wie ist er nur auf den Gedanken gekommen, dich einzuladen? Das kommt mir höchst merkwürdig vor!«

»Ich gebe zu«, hatte Audrey gleichgültig erwidert, »es war etwas ungewöhnlich.«

»Du willst darüber nur nicht sprechen«, hatte Edith verärgert festgestellt.

»Nicht jetzt, bitte«, war Audreys Antwort gewesen.

Und als ob das nicht schon rätselhaft genug gewesen wäre, war sie dann in einem Augenblick, da sie vor Glückseligkeit halb von Sinnen hätte sein müssen, zu Bett gegangen, als trüge sie auf ihren Schultern die Last der ganzen Welt, und hatte erst noch davon gesprochen, morgen heimzufahren.

 

Audrey versuchte bereits seit einer Weile vergeblich, sich zu orientieren; doch sie gab sich damit keine besondere Mühe. Etwas schien ihr zu sagen, es lohne sich überhaupt nicht aufzuwachen. Eine schwere Lethargie hielt sie umfangen.

Mit großer Anstrengung hob sie den Arm und rieb sich das Gesicht. Ihr Nachthemd war rauh und kratzig und roch nach einem Desinfektionsmittel. Allmählich vereinigten sich die Einzelheiten, die ihr vorschwebten, zu einem Bild, und sie begann sich zu erinnern. Sie befand sich in einer Klinik und hatte viele, viele Stunden tief geschlafen. Es war ihr schwergefallen, einzuschlafen. Sie hatte fassungslos geweint, bis die Brust sie schmerzte und ihr Hals wie Feuer brannte. Dann, abermals nach endlosen Stunden, hatte eine Pflegerin ihr eine Spritze in den Arm gegeben. Nachher war alles langsam verschwommen und verblaßt. Die ganze Welt hatte sich so zusammengerollt, daß Audrey kaum atmen konnte; jetzt rollte sie sich allmählich wieder auf, wurde glatt, hell, freundlich.

Die Sonnenstrahlen, die ins Zimmer fielen, waren so grell, daß ihr die Augen weh taten. Langsam wandte sie das Gesicht von der Helligkeit ab und sah ihn, Forrester, in seinem weißen Kittel am Bett sitzen und sie ernst betrachten. Sie versuchte, die Augen weit aufzureißen, doch waren die Lider noch immer zu schwer.

»Sie haben gut geschlafen«, sagte Tubby gelassen.

Audrey nickte langsam, befeuchtete mit der schweren Zunge die Lippen und antwortete: »Ja, Sie auch?«

»So ziemlich.«

Es währte eine geraume Weile, bis sie die Energie aufbrachte, weiterzusprechen.

»Wie geht es ihm?« fragte sie.

»Er ist wach.«

»Und – wird er jetzt gesund werden?«

Tubby nickte.

»Dann werde ich mein Versprechen halten und fortgehen. Vielleicht wäre es besser, ich ginge gleich. Sie können ihm ja sagen, daß ich heim mußte. Ja, so wäre es am besten.«

Tubby schüttelte stirnrunzelnd den Kopf.

»Das geht nicht«, brummte er. »Er ist noch nicht über den Berg. Zwei starke Schocks, der Schlag auf den Kopf, die Operation. Wir können uns keine Aufregung leisten. Er braucht seine ganze Widerstandskraft. Sie müssen hierbleiben, bis er kräftiger ist.«

»Das wird für mich sehr schwer sein«, sagte Audrey.

»Sie werden es fertigbringen.« Tubby sprach in trockenem, geschäftlichem Ton. »Eine Frau, die sich so verhalten kann, wie Sie es gestern getan haben, vermag es. – Sind Sie hungrig?«

»Daran dachte ich noch nicht.«

Tubby stand auf, trat hinter den Stuhl und legte beide Hände auf die Lehne.

»Die Pflegerin wird Ihnen zu essen bringen. Wenn Sie sich wohl genug fühlen, gehen Sie zu Beaven. Er hat Sie zu sehen verlangt und wird sich aufregen, wenn Sie nicht bald kommen.« Tubby verstummte und trommelte leise gegen die Lehne. »Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß Sie – nicht davon reden dürfen, daß Sie fortzugehen gedenken. Ich hoffe, Sie werden versuchen, heiter zu sein. Mrs. Cunningham hat Ihnen Ihre Kleider geschickt. Sie werden sie im Schrank finden. Sie sollten wenigstens eine Woche hierbleiben.«

»Gut«, entgegnete Audrey versonnen. »Danke.«

»Und wenn ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein kann«, Tubby verbeugte sich respektvoll, »so wird es mir eine Freude und eine Ehre sein.«

»Ich brauche nichts, danke«, erklärte sie kopfschüttelnd.

Tubby schritt zur Tür, zögerte dann – er schien noch etwas sagen zu wollen, das ihm schwerfiel.

»Darf ich fragen«, erkundigte er sich, »ob Dr. Cunningham oder Mrs. Cunningham von meiner Bitte und Ihrem Versprechen etwas wissen?«

»Nein – soll ich mit ihnen darüber sprechen?«

»Das hat Zeit«, erklärte Tubby.

 

Audrey klopfte leise, und Miss McFey, die Miss Warren abgelöst hatte, öffnete die Tür und trat auf den Korridor hinaus.

»Sie sind Miss Hilton, nicht wahr?« fragte sie lächelnd. »Sie werden erwartet. Wenn Dr. Beaven etwas braucht, läuten Sie bitte. Sie werden eine Weile auch ohne mich auskommen«, meinte sie vielsagend lächelnd.

Jack streckte die Arme aus, um sie willkommen zu heißen. Audrey schritt leise durch das Zimmer, legte die Hände in die seinen und versuchte etwas zu sagen – doch blieben ihr die Worte in der Kehle stecken. Sie beugte sich über ihn, preßte ihre Wange gegen die seine und fühlte heiße Tränen. Er versuchte, sie in die Arme zu ziehen, doch versagten seine Kräfte.

»Liebling!« flüsterte er. »Ich bin so froh, daß du da bist!«

Audrey hob den Kopf und lächelte ihn glückselig an.

»Du wirst bald wieder gesund sein, Jack«, sagte sie und liebkoste zart seine Stirn.

»Tubby hat mir erzählt«, er schöpfte tief Atem und zuckte leicht zusammen, »Tubby hat mir erzählt, wie tapfer du warst. Ich bin stolz auf dich.«

»Habt ihr euch versöhnt?«

Jack lächelte schwach.

»Wir haben darüber nicht gesprochen«, erklärte er leise. »Ich weiß nicht: freut er sich über meine Rettung oder die gelungene Operation. Tubby freut sich nämlich immer über eine gelungene Operation.«

»Vielleicht solltest du lieber nicht soviel sprechen, Liebster.« Audrey legte den Arm um seine Schulter und drückte das Gesicht gegen seine Brust.

»Lan Ying.«

»Ja, Jack?«

»Du sollst etwas für mich tun. Es hat mir selbst im Schlaf keine Ruhe gegeben. Du sollst eine Puppe kaufen für ein Kind, für das Collins-Mädchen. Die Slattery weiß davon.«

»Selbstverständlich, Liebster. Ich will es sogleich tun, nachdem mein Besuch bei dir beendet ist.« Ihre Stimme klang zärtlich, mütterlich. »Hast du dir darüber Sorgen gemacht?«

»Es war ein Versprechen. Versprechen muß man halten.«

Es wurde an die Tür geklopft, und nach einer kurzen Pause trat Cunningham ein.

»Ich wurde heimgerufen«, erklärte er heiter, »und kam nur, um adieu und viel Glück zu sagen. Edith kommt mit. Wir fahren um vier.« Er legte einen Arm um Lan Yings Schultern. »Tubby sagte mir, daß Sie noch einige Tage hierbleiben. Das ist recht. Soll ich Ihrer Schwester etwas ausrichten?«

»Nein, danke, ich werde ihr schreiben.«

»Dann gehe ich, ich muß noch packen. Hoffentlich sehe ich Sie beide bald wieder. – Übrigens stapft Tubby im Vorraum herum, als wolle er hereinkommen. Soll ich dem alten Gauner sagen, daß er kommen darf?«

Jack nickte. Bill winkte ihnen noch einmal zu und ging.

»Vielleicht ist es besser, ich gehe. Er wird dich untersuchen wollen«, sagte Lan Ying.

Jack legte die Hand auf ihren Arm. »Bleib da«, bat er schwach. »Tubby hat uns noch nicht zusammen gesehen. Er soll sich daran gewöhnen, daß wir zueinandergehören.«

Sie runzelte die Stirn. Jack merkte ihre Verwirrung.

»Tubby wird dir nichts tun«, beschwichtigte er sie. »Es ist sogar möglich, daß – er dich gern hat. Er sprach von deinem Mut. Tubby bewundert Mut, Härte, Zähigkeit.«

»Soll ich hart und zäh sein?« fragte Lan Ying und schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren groß aufgerissen wie die eines Kindes.

»Nicht zu sehr.«

Lan Ying befreite sich aus seiner Umarmung.

»Ich gehe jetzt, Liebster. Das Sprechen ermüdet dich zu sehr. Wir können Tubby auch morgen sehen.« Sie küßte ihn sanft, schritt zur Tür, winkte und verließ das Zimmer. Tubby stand neben dem Tisch der Etagenschwester und betrachtete grimmig einen Temperaturzettel. Als Audrey an ihm vorbeiging, blickte er auf, nickte und wandte sich abermals dem Zettel zu.

*

Es war ein seltsames Gefühl, Einkäufe für Jack zu machen, und noch seltsamer war es, daß es sich um eine Puppe handelte. Sie wollte eine sehr schöne kaufen und sie Jack zeigen, bevor sie sie dem kleinen Mädchen brachte.

»Eine schöne Puppe«, sagte sie zu der Verkäuferin.

»Ja, Madam. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Sie brachte einige sehr schöne, modisch gekleidete Puppen mit richtigen Schuhen, die man ausziehen konnte, und mit großen federgeschmückten Hüten.

»Das Kind«, sagte Lan Ying, »ist krank, liegt zu Bett. Ich glaube, es würde sich mehr über eine Babypuppe freuen, die es in den Armen halten kann, als über diese eleganten Puppen mit Hut und Schuhen und Sonnenschirm. Ja, eine Babypuppe, mit vielen Babykleidern zum Auswechseln.«

»Sehr wohl, Madam«, erwiderte die Verkäuferin.

Sie fanden eine rundgesichtige, engelhafte Babypuppe, und Lan Ying wählte sorgsam die kleine Garderobe aus: Batist- und Seiden- und Kattunkleidchen und winzige Söckchen. Es war wirklich seltsam, derlei zu kaufen, damit Jack es einer Patientin schenke.

Anfangs war sie entzückt von ihren Entdeckungen; sie hatte gar nicht gewußt, daß es so vielerlei Puppenkleider zu kaufen gab. Nach einer Weile begann sie die Sache ernst zu nehmen, betrachtete die Handarbeit, die winzigen Nähte, streichelte die Spitzeneinsätze.

Sie war damit dermaßen beschäftigt, daß sie lange Zeit kein Wort sagte. Dann riß sie sich aus ihren Träumen und blickte auf. In den Augen der Verkäuferin las sie tiefes Mitleid und wußte, daß die Frau ihre Gedanken erraten habe. Freilich, genau konnte sie nicht wissen, woran Lan Ying gedacht hatte.

»Sollen wir die Puppe schicken, Madam?« fragte die Verkäuferin, nachdem Audrey bezahlt hatte.

»Nein, ich nehme sie mit.«

Es war ein großes Paket, doch befand sich das »Livingstone Hotel« in nächster Nähe. In ihrem Zimmer angelangt, packte Lan Ying die Puppe aus und legte alles aufs Bett. Nach einer Weile legte auch sie sich nieder, vergrub das Gesicht in den gebogenen Arm und weinte sich in Schlaf.

 

Nun war Jack viel kräftiger und munterer, beinahe heiter. Als Lan Ying mit dem Riesenpaket eintrat, fand Miss McFey noch unzählige Kleinigkeiten zu erledigen, bevor sie das Zimmer verließ. Jack betrachtete sie belustigt.

»McFey«, erklärte er, nachdem die Pflegerin hinter sich die Tür geschlossen hatte, »stirbt vor Neugierde.« Er zog Lan Yings Kopf zu sich herab und gab ihr einen langen, innigen Kuß. »Übrigens ich auch«, fügte er hinzu, als er wieder bei Atem war.

»Gut, dann lass' ich dich nicht länger warten.« Sie legte das geheimnisvolle Paket auf Jacks Bett und begann es aufzumachen.

»Das ist ja ein Baby!« rief Jack erstaunt über die Lebendigkeit der Puppe. »Ungefähr drei Monate, würde ich sagen. Wo hast du es gefunden, Liebling? Ich hatte ja keine Ahnung!«

»Sieh dir seine Kleider an.« Sie reichte Jack die winzigen Kleidungsstücke.

»Seine?«

»Ich glaube ja.« Sie zog ein Söckchen über den rundlichen Fuß.

»Das ist unser schönstes Kleid«, erklärte Lan Ying stolz. »Wir tragen es, wenn Gäste kommen.«

»Und die Mutter uns ausführt«, ergänzte Jack.

»Es ist sehr, sehr süß«, sagte Lan Ying und wiegte die Puppe in den Armen.

Dann blickten beide bestürzt auf. Die Tür öffnete sich, und Tubby trat ein. Eine Sekunde lang starrten sie ihn an, und auch Tubby starrte auf sie. Dann wandte er sich ohne ein Wort zum Gehen.

»Bitte, kommen Sie zurück!« rief Jack.

Tubby zögerte und schritt dann langsam auf das Bett zu. Alle drei waren verlegen und suchten vergeblich nach Worten.

»Es ist für ein krankes Kind«, erklärte Lan Ying mit nicht ganz fester Stimme.

»Für ihn?« fragte Tubby und nickte grinsend zu Jack hinüber.

Alle lachten und empfanden ein Gefühl der Erleichterung. Lan Ying hielt noch immer die Puppe in den Armen.

»Es scheint ein gesundes Kind zu sein«, meinte Tubby heiser und versuchte vergeblich, gleichgültig zu erscheinen. Er beugte sich über die Puppe, um ihr Gesicht zu betrachten.

»Wollen Sie das Kind halten?« fragte Lan Ying ernst.

Jack lachte über das ganze Gesicht. – Das würde unterhaltend werden: Lan Ying wurde mit Tubby fertig!

Tubby runzelte die Stirn und streckte die Arme aus. Lan Ying reichte ihm mit einer mütterlichen Gebärde die Puppe und stand dicht neben ihm, die Bändchen am Puppenkleid glättend.

»Ich nehme es wieder«, flüsterte sie, da sie erkannte, daß der arme alte Tubby erlöst werden müsse. »Das ist nicht an Fremde gewöhnt.« Sie nahm die Puppe aus Tubbys Armen.

Tubby unternahm einen mißglückten Versuch, zu lächeln.

»Ich komme bald wieder«, brummte er, wandte sich unvermittelt ab und verließ das Zimmer.

»Was ist denn mit Tubby los?« fragte Jack.

Lan Ying schüttelte den Kopf – sie wisse es nicht.

»Ich muß jetzt gehen, Liebster, und dem kleinen Mädchen die Puppe bringen«, sagte sie. »Nachher komme ich noch für eine Minute zurück und erzähle dir, was es gesagt hat.«

Jack sah versonnen zu, wie sie die winzigen Kleider einpackte und das Paket verschnürte.

»So süß«, flüsterte er, ihre Hand streichelnd.

Als sie auf den Korridor trat, erblickte sie voller Staunen und mit leichter Verwirrung Tubby. Er schien auf sie gewartet zu haben. Er nahm ihr wortlos das Paket ab und schritt neben ihr her. Als sie die offene Tür eines kleinen Wartezimmers erreichten, blieb er stehen und lud sie mit einer Gebärde zum Eintreten ein. Sie folgte der rätselhaften Geste. Er schloß die Tür, blickte sie dann feierlich mit prüfenden Augen an. Sein Kinn zitterte leicht.

»Meine Liebe«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Ich bin – bin tiefbewegt. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, aber – ich muß etwas sagen.«

»Ich weiß«, pflichtete Lan Ying ihm sanft bei. »Es war sehr schwer für uns beide. Bitte, machen Sie sich keine Sorgen. Es ist ein Unglück – aber nicht Ihre Schuld. Und ich sagte es Ihnen ja schon: ich werde mein Versprechen halten.«

»Hol' der Teufel Ihr Versprechen!« schrie Tubby sie an.

Lan Ying blickte mit nassen Augen in sein verzerrtes Gesicht.

»Wollen Sie damit sagen …« Ihre Stimme brach, und große Tränen rannen ihr über die Wangen, »… daß ich bleiben darf – daß ich für immer bei Jack bleiben soll?«

»Selbstverständlich«, brummte Tubby. Er legte ihr beide Hände auf die Schultern. »Aber – Sie müssen mir etwas anderes versprechen.«

»Gut«, flüsterte Lan Ying.

»Sie können es vielleicht erraten«, brummte er.

»Vielleicht, daß ich Jack nie etwas von unserer Unterredung sagen soll?«

»Ja, meine Liebe. – Versprechen Sie es?«

Lan Ying nickte glückselig lächelnd.

Tubby zog ein großes Taschentuch hervor und schneuzte sich heftig mit lautem Trompetenton. Dann räusperte er sich laut, richtete sich gerade auf und nahm wieder die übliche feierliche Haltung ein.

»Darf ich jetzt gehen?« fragte Lan Ying. Er öffnete die Tür und folgte ihr. Auf dem Korridor reichte er ihr das große Paket und verbeugte sich tief.

»Kommen Sie nicht mit, um die Puppe zu überreichen?« fragte Lan Ying.

»Nein, das ist Ihre Aufgabe. Ich – ich möchte ein paar Worte mit Jack sprechen.«

Lan Ying atmete tief auf und blieb stehen. Sie sah Tubby mit entschlossenen Schritten den Korridor entlanggehen, Jacks Tür öffnen und im Zimmer verschwinden. Dann kehrte sie in das kleine Wartezimmer zurück und sank auf einen Stuhl. Sie mußte sich setzen, ihre Knie zitterten zu sehr.

 


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