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Achtes Kapitel

Der Vormittag war voll Überraschungen gewesen. Dr. Cunningham hatte die Theorie, Wissenschaft und Gefühle könnten nicht vermischt werden, umgestoßen. Während er in Cunninghams altem Auto beim Haupteingang des Barmherzigkeitsspitals saß und auf seinen Gastgeber wartete, erkannte Jack Beaven, er werde nicht umhinkönnen, seine diesbezüglichen Vorurteile aufzugeben.

Beeinflußt von Tubby Forrester, hatte Jack sich ein Bild von dem typischen besseren Hausarzt gemacht, der allerhand Fälle zu behandeln versucht. Als Schulbeispiel für diesen war ihm Cunningham erschienen.

Er hatte instinktiv gefühlt, daß Cunningham als praktizierender Arzt alle Achtung verdiente, mochte er auch aus Zeitmangel und ohne die für die Forschung unentbehrlichen Instrumente nicht in der Lage sein, die letzten Entdeckungen oder die neueste Technik auf dem Gebiet der Medizin und der Chirurgie zu kennen.

Nun konnte Jack sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Tubbys Betonung der Gelehrsamkeit und des wissenschaftlichen Standpunktes einen hohen Grad präpotenten Snobismus zu erreichen beginne. Auch der Hausarzt hatte seinen Platz in der Gesellschaft. Freilich war dieser vielbeschäftigte Mann kein Wissenschaftler, mochte er in seiner Jugend auch noch so gute Vorsätze gehabt haben; die mannigfachen Pflichten in Familien und Spitälern machten es ihm unmöglich, seine Studien fortzusetzen. Ein solch überarbeiteter Mensch mußte, wenn auch widerwillig, mit seinen wissenschaftlichen Kenntnissen immer mehr im Rückstand bleiben, bis er schließlich nicht nur keine Fortschritte mehr machte, sondern aus Selbsterhaltungstrieb sogar geneigt war, sich über die neumodischen Faxen der Experten lustig zu machen. Jack hatte bei Cunningham diese Einstellung erwartet. Nicht etwa, daß er sich einbildete, Cunningham überlegen zu sein; er begriff die schwierige Lage des älteren Mannes. Unter den gleichen Umständen hätte er selbst bestimmt denselben Weg verfolgt. Von einem Hausarzt, der am gleichen Tag auf seinen Runden eine gebrochene Hüfte, eine drohende Tuberkulose, eine chronische Arthritis, eine gutmütige Zyste (von der er bekümmert hoffte, sie werde sich nicht doch noch als bösartig erweisen), ein Furunkel, einen eingewachsenen Zehennagel, einen Fall von Windpocken und ein Karzinom behandeln mußte, konnte nicht gefordert werden, daß er auch noch wissenschaftliche Forschungen betreibe. Es wäre genau dasselbe, wollte man einen Mann, der den Tag damit verbracht hat, die Warmwasserheizung in Ordnung zu bringen, den Plafond zu streichen, ein Fenster einzusetzen, einen Thermophor, eine Lampe, einen Sessel, einen Fußboden, eine Nähmaschine und einen Phonographen zu reparieren, deshalb verhöhnen, weil er nicht eine Monographie über die Television geschrieben habe.

Wohl hatte Jack Beaven das Gefühl, daß er für den Hausarzt die nötige Teilnahme empfinde, doch lebte, allen mildernden Umständen zum Trotz, in ihm dennoch die Überzeugung, ein praktizierender Arzt sei, wie Tubby spöttisch behauptete, nichts weiter als ein wohlwollender Beschwichtiger, der unermüdlich Beruhigungsmittel und Sonnenschein, Tapferkeit und Chinin, hochherziges Streben und Aspirin, Liebe und Wundsalbe verteile. Eines stand fest: verrichtete ein Mensch eine Arbeit, die unentwegt an seine Gefühle appellierte, so mußte sein Verstand nach kurzer Weile eine Einbuße erleiden. Das war das Unglück vieler Sozialarbeiter und professioneller Menschenfreunde, Wohlfahrtspfleger und Pastoren. Die ewigen Anforderungen, die an ihre gefühlsmäßige Energie gestellt wurden, machten es ihnen unmöglich, ihren Verstand zu gebrauchen. Freilich schien Cunningham etwas besser zu sein. Die Tatsache, daß Tubby, Shane und auch andere von der Medizinischen Fakultät ihn hochschätzten, war bedeutsam. Aber er war nun einmal doch ein praktizierender Arzt. Und man konnte nicht zugleich ein praktizierender Arzt und ein Wissenschaftler sein. – Nun aber hatte Cunningham diese feststehende Theorie über den Haufen geworfen. Jack saß im Schatten einer hohen Ulme im Auto und fühlte sich völlig verwirrt durch das, was er während der letzten anderthalb Stunden erlebt hatte.

Es war ein ereignisreicher Morgen gewesen. Sie hatten um sechs Uhr dreißig zusammen gefrühstückt, weil Jacks Gastgeber noch einige Berufspflichten erfüllen wollte, ehe sie auf den See hinausruderten. Als sie bei ihrer zweiten Tasse Kaffee und der Zigarette angelangt waren, hatte Mrs. Cunningham sich ihnen angeschlossen.

Sie war, besser gesagt, einst war sie eine typisch nordische Blondine gewesen. Mit ihren fünfundvierzig Jahren war sie noch immer hübsch, ein wenig zu rundlich für ihre Gesundheit, ein wenig zu blaß für ihren rosigen Typ; ihre blauen Augen jedoch waren noch immer klar und außergewöhnlich intelligent. Sie leuchteten bei allen komischen Vorfällen auf, konnten schelmisch, aber auch weise blicken. Man hatte das Gefühl, es sei unmöglich, diese Augen zum Narren zu halten. Sie versuchten weder durch Scharfsinn Eindruck zu machen, noch wirkten sie durchdringend – trotzdem erfaßten sie mit einem einzigen Blick den ganzen Menschen. Machte man ein noch so eindrucksloses Gesicht, man ahnte dennoch, daß Edith Cunningham hinter ihrem liebenswürdig entwaffnenden Lächeln einem bis in die Seele sah.

Ohne es zu wollen, erweckte sie den Eindruck einer Frau, die große Erfahrungen auf dem Gebiet menschlicher Verhältnisse erworben hatte. Vielleicht sah sie einem in die Karten, weil sie so oft mit diesem Pack gespielt hatte, daß jede Karte ihr Kennzeichen besaß. Sie war keineswegs unangenehm neugierig, gab keine Stichworte für Geständnisse, beobachtete einen nicht wie die Katze eine Maus, in der Hoffnung, eine unvorsichtige Bemerkung zu erhaschen, aus der sie erkennen könnte, daß sich hinter Jekyll ein Hyde verberge. Nein, das war es nicht! Sie versuchte nicht, einem einzureden, daß sie mit einer Leiter und einer Laterne ausgezogen sei und nun alles über einen wisse, angefangen bei der ersten Flasche bis zur letzten Schlacht. Es gab viele Frauen, die mit ihrer Allwissenheit blufften und von dem unglücklichen Äußeren ihres Opfers, das in Wirklichkeit nur Wut verbarg, völlige Ergebenheit ablasen.

Edith Cunningham gab sich nicht intellektuell, aber schon im ersten Augenblick, da Audrey sich den andern Gästen zugesellte, fühlte man, daß die Frau sich gelassen fragte: »Was ist denn los? Wie interessant!« Audreys Anblick hatte Jack den Atem verschlagen. Es konnte kein schöneres Mädchen geben und auch nie gegeben haben. Bestimmt hatte er es angestarrt. Er hatte mit Cunningham, dem jungen Kline und Mr. Swanson in der Bibliothek gesessen, als Mrs. Cunningham sie zum Essen rief. Sie stand neben Jack, da Audrey, die er nicht zu sehen erwartet hatte, die Treppe herunterkam. Er hatte versucht, gelassen zu erscheinen, obgleich er sie am liebsten in die Arme genommen und festgehalten hätte. Edith Cunningham mochte seinen Wunsch erraten haben, denn schon bei der nächsten Begegnung ihrer Blicke erkannte Jack, daß sie alles wisse.

Claudia King gefiel ihm weniger gut, als er erwartet hatte. Vielleicht weil sie den Zügen und der Farbe nach ihrer unvergleichlichen Schwester ähnlich war und Jack nicht dulden wollte, daß irgendwer – und sei's auch eine Blutsverwandte – wie Audrey aussehe. War dieser Gedanke töricht – und er hegte den Verdacht, daß er es war –, so konnte er ihn nur seiner geistigen Verwirrung zuschreiben. Es war das erste Mal, daß sich mit ihm etwas Derartiges ereignete. Er hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, durch vorhergegangene Impfungen und Abhärtungen gegen diese seltsame Psychose immun zu werden. Es war nicht schwer, die Ursache seiner geistigen Unfähigkeit, die sich während der letzten Zeit in Schlaflosigkeit, Unruhe und Labilität geäußert hatte, zu bestimmen. Es war nicht allein das völlige Aufgehen in seiner Arbeit, das ihn gehindert hatte, sich gegen einen derartigen Anfall zu immunisieren; es war klar, daß er in bezug auf dieses Mädchen an einer ausgesprochenen Anaphylaxie litt, an einer Allergie. Vielleicht war hierin eine Erklärung für die anscheinende Langeweile der Ehe zu suchen. Ein Mann sehnte sich nach einer Frau und nach einem Heim. Schließlich traf er die Frau, der gegenüber er allergisch war. Nachdem er die Ursache seiner allgemeinen Wehmut lokalisiert hatte, heiratete er sie und wurde kuriert, genauso wie ein Opfer des Heuschnupfens sich die Seele aus dem Leib niesen kann, bevor wissenschaftlich erwiesen oder durch Zufall entdeckt wird, daß der Staub eines Teppichs, nicht etwa irgendeines Teppichs, sondern nur der eines Schiras-Teppichs mit sechseckigem Muster, den Anfall auslöst. Freudig läßt der Patient sich einige Einspritzungen von Schiras-Teppichstaub machen und niest nie wieder.

In letzter Zeit hatte Jack Beaven viel über die Liebe nachgedacht, und da er ausschließlich pathologisch und pathognomisch geschult war, psychoanalysierte er sich von vorn und von hinten, von oben nach unten und umgekehrt – und wurde immer verwirrter. Manchmal fragte er sich, ob er im Begriff stehe, den Verstand zu verlieren. Edith Cunninghams listiges Lächeln war beunruhigend gewesen. Was sie mit dem geübten Auge des Diagnostikers auf den ersten Blick entdeckt hatte, würde in kürzester Zeit jeder Laie ebensoleicht erkennen, wie man einen Ausschlag entdeckt.

Welche Bewandtnis es auch immer damit haben mochte, Claudia King gefiel ihm jedenfalls nicht. Er fragte sich, was Tubby an ihr gefunden habe, das ihn zu Bocksprüngen verleitet hatte. Sie war hektisch lebhaft, die Nerven gespannt wie eine Violinsaite, fast übertrieben schön und als Gesprächspartnerin nur dann erträglich, wenn man sich selbst in vollen Galopp versetzte. Vielleicht war es gerade dies, was Tubby bezaubert hatte. Er war ein so pompöser alter Esel, daß alle Frauen verstummten, wenn sie mit ihm zusammen waren. Die flammende Claudia hatte ihn wahrscheinlich eingefangen, wie zwei blendende Autolichter ein Kaninchen betäuben.

Zu Jacks Erleichterung wurde er von Claudia sehr bald ignoriert und ganz Audrey überlassen. Diese reichte ihm die Hand, blickte unter langen Wimpern zu ihm auf und fragte: »Sie ist nicht gestorben?«, ihre Worte mit dem unnachahmlichen kleinen Kopfschütteln begleitend, das um eine verneinende Antwort bat.

»Nein, sie ist nicht gestorben, aber sie bedurfte meiner Hilfe. Es tat mir so leid, daß wir unterbrochen wurden. Sie erzählten mir … Sie sprachen von Sen Ling, wissen Sie es noch?«

»Ich erinnere mich genau«, sagte sie ohne eine Spur von Koketterie. »Sie fragten mich damals: ›Sie haben also den größten Teil Ihres Lebens in China verbracht? Möchten Sie mir nicht davon erzählen?‹« (Wie kindlich ihr Mund war, wenn sie sprach!)

Jack nickte beglückt, weil sie imstande und willens war, diese Episode so genau zurückzurufen. Er beeilte sich, ihr mitzuteilen, daß auch er eine detaillierte Erinnerung an ihr Gespräch bewahrt habe.

»Und Sie sagten: ›Gern, wenn ich Sie nicht aufhalte.‹«

»Ja«, kam sie ihm zu Hilfe. »Und dann klingelte das Telefon, und Sie eilten fort.«

»Ich mußte gehen«, sagte er ernst.

»Ich weiß es.« Sie betrachtete ihn mit einem zärtlichen Lächeln, wie sie Teddy hätte anblicken können. »Sie waren schrecklich ernst.« Sie schürzte die Lippen, mimte Strenge, runzelte unter den schwarzen Haarfransen die Stirn, hob einen imaginären Hörer ans Ohr und wiederholte, mit den entsprechenden Pausen der Antwort: »Ja – ja, Miss Warren – sofort!«

Die genaue Wiedergabe seiner Worte bewegte ihn. Jack hoffte, nicht von seiner Stimme verraten zu werden. Er nahm sich zusammen und versuchte lässig zu sprechen: »Sie haben ein vorzügliches Gedächtnis, Miss Hilton, sogar für Namen. Es war wirklich Miss Warren, die damals anrief.«

Sie schüttelte mit rührender Ehrlichkeit den Kopf. »Nein, es fällt mir schwer, mich an Namen zu erinnern. – Bei uns …« Sie wandte leicht den Kopf in Richtung der Schwester, hoffend, diese habe ihre Worte nicht gehört. »Bei den Chinesen«, verbesserte sie sich, »ist es nicht so schwierig, sich Namen zu merken, sie bedeuten immer etwas.«

»Auch der Ihre?« wagte Jack zu fragen.

»Selbstverständlich.« Sie senkte für einen Augenblick die Lider. »Vielleicht werden Sie es töricht finden. Chinesische Namen sind so – so phantastisch.«

In diesem Augenblick war Dr. Kline, Cunninghams jüngerer Partner, zu ihnen getreten, um Audrey zu Tisch zu führen. Kline war ein ruhiger, nüchterner Mensch, dennoch leuchtete Bewunderung aus seinen Augen. Audrey nahm seinen Arm und lächelte über die Schulter hinweg Jack zu. Edith Cunningham, die jetzt neben ihm stand, führte ihn ins Speisezimmer. Kline und Audrey folgten. Mr. Swanson kam mit der strahlenden Claudia. Cunningham und die winzige Mrs. Swanson, die neben seinen sechs Fuß drei Zoll wie eine Zwergin aussah, kamen als letzte.

Ehe sie sich an den Tisch setzten, trat eine kurze Pause ein. Niemand hatte darum gebeten; doch waren die Gäste nicht zum erstenmal hier, sie wußten, was nun geschehen werde. Ihre Blicke hingen erwartungsvoll an dem Hausherrn. In diesem Augenblick schien den dynamischen Riesen etwas Majestätisches zu umgeben. Er neigte ernst den weißen Kopf und sprach andächtig ein lateinisches Tischgebet, fügte dann, während er seinen Sessel zurückschob, ohne Pause hinzu: »Ich bin froh, Edith, daß es kalte Bouillon gibt. Es ist hier heiß wie in der Hölle.«

Nachdem sie sich gesetzt hatten, bemerkte Jack, der nur mit Mühe seine Belustigung verbergen konnte: »Ich wußte nicht, daß Sie katholisch sind.«

»Wir sind es nicht«, erwiderte Edith. »Das ist eine von Bills vielen Marotten. Er findet, man müsse eine Religion im Hause haben.«

»Aber weshalb lateinisch?« fragte Jack mit einem breiten Grinsen.

»Oh, Bill meint, es sei höflicher, Gott in einer Sprache anzureden, die man nicht für gewöhnlich verwendet.«

»Hol' mich der Teufel!« brummte Jack leise.

»Das sagte auch ich früher«, meinte Edith. »Aber wenn Sie Bill so lange kennen werden wie ich, so werden auch Sie über nichts staunen, was er tut oder sagt. Er ist der impulsivste, inkonsequenteste und prächtigste Mensch, den Gott je erschaffen hat.«

War sie ihren Hausfrauenpflichten nachgekommen, so unterhielt sie Jack mit den biographischen Daten der Anwesenden. Ole Swanson gehörte der dritten Generation einer Familie an, die mit Rot- und Schwarztannen handelte. Er war ein äußerst guter Staatsbürger, das war der Grund, warum Bill ihn mochte. Swanson hatte Parks, Spielplätze, eine kleine Kunstgalerie gestiftet und unterstützte das städtische Orchester.

»Bills Steckenpferd, das Orchester. Interessieren Sie sich für Musik?«

Jack mußte zugeben, daß er diese Seite des Lebens nie beachtet habe.

»Bill findet, es sei für einen Arzt sehr wichtig, Ablenkung zu haben. Erinnern Sie sich – aber nein, dazu sind Sie ja viel zu jung –, in den ersten Zeiten der Röntgenstrahlen pflegten die Ärzte sich häufig die Finger zu verbrennen. Bill behauptet, die Wissenschaft verbrenne jedem die Finger, der nicht durch einen ästhetischen Schutz isoliert ist. Er erklärt, selbst einige Brandwunden davongetragen zu haben, ehe er diese Entdeckung gemacht hatte.«

Jack wußte, daß sein Gesicht Staunen – hoffentlich nicht auch Belustigung – ausdrückte. Cunningham hatte es nicht nötig, sich durch eine starke Isolierung gegen die Brandwunden der Wissenschaft zu schützen. Sein Verhältnis zur Wissenschaft mochte das gleiche sein wie das des Durchschnittskongreßmitgliedes zur Staatsführung. Jetzt sprach Edith über Kline, einen Bostoner, der seit einem Jahr mit Bill arbeitete. Sie senkte die Stimme, denn Bill saß neben ihr.

»Es ist ja nicht wichtig«, meinte sie, »daß jeder hübsche junge Arzt Junggeselle bleibt, doch wirkt es recht angenehm, wenn ein hübscher Junggeselle Arzt ist. Wenn ihm die Mädchen nachlaufen, hat er immer ein gutes Alibi. – Sie werden wohl auch damit gearbeitet haben, Dr. Beaven, nicht wahr?«

Jack erklärte, die Mädchen hätten ihn nie viel belästigt, worauf sie im Ton einer älteren Schwester »Pah!« sagte. Er wollte zuerst widersprechen, fand jedoch dann, daß es töricht wirken würde, wollte er sich mit ihrer neckischen Antwort auseinandersetzen. Sein Lächeln ermutigte sie zu weiteren Nachforschungen.

»Claudia King wäre eine famose Frau für Sie. Sie hätten mit ihr keinen langweiligen Augenblick. Bei ihr ist immer etwas los. Es gibt kein langes, peinliches Schweigen, man braucht sich nie den Kopf darüber zu zerbrechen, was man sagen soll.«

Er blickte fragend in ihr gelassenes Gesicht, und sie lachte ein wenig – zweifellos über die hilflose Verblüffung in seinen Augen.

»Nein«, fuhr sie vertraulich fort. »Wenn ich es recht überlege, wäre es ja doch nicht das Richtige. Claudia ist zu – zu dynamisch. Sie hat die Swanson-Sägewerke dirigiert und Swanson und Mrs. Swanson und Effie Swanson und Peter Swanson und ihre eigene Kraftstation immer mehr geladen, bis … Wie soll ich es nur erklären? Wenn sie in einer ruhigen, pastoralen Szene – wie es etwa ein Dinner in einem Privathaus ist – angeknipst wird, so entsteht sofort Kurzschluß. Sie aber brauchen eine stillere Frau, jemanden wie …« Sie tat, als denke sie angestrengt nach, und Jack wußte, was er jetzt zu hören bekommen werde: »… Claudias Schwester zum Beispiel.«

Es währte einen Augenblick, ehe Jack den Mut fand, aufzublicken. Ediths blaue Augen begegneten den seinen offen, mit einer leisen Spur von Besorgnis. Er fühlte, wie er unwillkürlich tief Atem schöpfte.

»Sie ist das entzückendste Geschöpf, das ich je gesehen habe«, fuhr Edith, jedes Wort betonend, fort. »Naiv wie ein Kind, tief wie das Meer.«

Jack wollte zuerst sagen: »Wie interessant!«, dachte aber, es könnte Edith beleidigen, und nickte nur stumm. Das konnte sie auffassen, wie sie wollte.

»Audrey hat ein merkwürdiges Leben hinter sich«, sagte Edith gedämpft. »Ist es Ihnen bekannt?«

»Einiges.«

»Wissen Sie etwas über China?«

»Nein, gar nichts.«

»Ich rate Ihnen, sich darüber zu informieren.«

Eine kleine Pause trat ein, dann hörte Jack sich fragen: »Warum?«

Sie gab keine Antwort auf diese Frage. Als ihre Blicke einander wieder begegneten, lächelte sie kameradschaftlich, wandte sich dann an Mr. Swanson und fragte, wie er mit seinem neuen Boot zufrieden sei.

Nach dem Dinner hatte sich Kline völlig Audrey gewidmet, Claudia aber Jack beschlagnahmt. Sie wollte ihm vor allem von Teddy erzählen und, nachdem sie dies getan hatte, von allem andern auf der Welt. Sie war äußerst lebhaft. Jack dachte: Eine allzu stark funktionierende Schilddrüse, vielleicht auch Kokain, doch war das letzte unwahrscheinlich.

»Und wie geht es dem süßen alten Dr. Forrester?« fragte sie, sich eifrig vorbeugend.

Jack konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er hatte Tubby bereits mit allerlei möglichen Namen nennen gehört, aber nie »süß« …

»Sehr gut, glaube ich, Mrs. King. Ich habe ihn in der letzten Zeit recht wenig gesehen, außerberuflich natürlich.« Jack empfand den Wunsch, die Frau ein wenig auszuholen. »Wir haben schon längere Zeit nicht miteinander diniert.«

»Er spricht viel von Ihnen«, erklärte Claudia.

Jack sagte »So?« und behielt seine Gedanken für sich.

»Hoffentlich macht es Sie nicht eingebildet, das wäre das Ärgste, was Ihnen in Ihrem Alter passieren könnte – aber er sagte, Sie seien der begabteste Anatom, den er kenne.«

»Danke, daß Sie es mir weitersagen. Ich freue mich darüber, als ob es wahr wäre.«

»Es ist wahr, er hat es wirklich gesagt.«

»Ich meine nicht, daß er es nicht gesagt hat, wenngleich ich zugeben muß, daß es mich überrascht. Ich meine …«

»Sie sind eben bescheiden. Auch das ist ein Zeichen von Größe.«

Jack kam sich immer dümmer vor.

»Meine Schwester hat Sie gern«, sagte Claudia.

»Danke. Ich teile dieses Gefühl.« Jack war die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, peinlich; er fürchtete, sich diesen scharfsehenden Augen zu verraten.

»Vielleicht könnten Sie etwas für sie tun. Ihr beibringen, daß sie in die guten alten USA gehört. Sie wissen ja, daß sie in China erzogen wurde und dies nicht vergessen kann. Ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.«

»Müssen Sie etwas dagegen tun?« erkundigte sich Jack. Er hoffte, seine Worte seien nicht frech gewesen.

»Ich bin die ältere Schwester«, verteidigte sich Claudia. »Sie hat niemanden sonst, der sie beraten könnte.« Sie dämpfte die Stimme. »Dr. Kline ist total vernarrt in Audrey, aber sie behandelt ihn, als sei er ihr Großvater. Wohin sie kommt, überall ruft sie Aufsehen hervor. Aber sie will immer nur daheim hocken und nach China schreiben, noch dazu auf chinesisch, hol's der Teufel! Es macht mich rasend. Die Leute werden noch glauben, daß ich eine halbe Chinesin bin.« Ihre Stimme wurde flehend. »Dr. Beaven, ich habe das Gefühl, daß Audrey auf Sie hören würde – versuchen Sie, ihr den Wahnsinn auszureden.«

Jack brummte, er eigne sich nicht dazu, anderer Leute Leben zu beeinflussen, und fürchte, daß jede Einmischung seinerseits als Impertinenz aufgefaßt werden könne. Dann kam ihm der Gedanke, für Audreys Ansichten einzutreten.

»Wenn Ihre Schwester die Chinesen liebt«, sagte er, »vielleicht stechen die Chinesen, die sie kennt, günstig von jenen Leuten ab, die sie hier kennengelernt hat. Ich weiß es nicht«, fügte er versöhnlich hinzu. »Ich war nie dort.«

Claudia schüttelte verächtlich abweisend den Kopf.

Die Swansons standen auf. Mrs. Swanson verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das an eine Plauderstunde im Familienkreis gemahnte. Jack erspähte die Gelegenheit, einige Worte mit Audrey zu wechseln.

»Ehe ich wieder heimkehre«, sagte er bittend, »möchte ich gerne den Rest der Geschichte hören.«

Ihr Gesicht drückte Unsicherheit aus.

»Wir würden uns über Ihren Besuch freuen, aber ich darf nicht von China sprechen. Meine Schwester findet, mein Herz gehöre zu sehr den Chinesen. Sie will, daß ich sie vergesse – und nicht von China rede.«

»Könnten wir nicht eine Ausfahrt machen?« fragte Jack und staunte selbst über diesen impulsiven Vorschlag. »Dagegen könnte doch niemand etwas einzuwenden haben?«

»Es wäre sehr nett«, antwortete sie. »Danke.«

»Dr. Cunningham und ich kommen am Montag gegen Mittag vom See zurück. Ich würde Sie um drei Uhr abholen. Paßt Ihnen das?«

»Sehr gut. Ich werde bereit sein.«

»Dann können Sie von China sprechen, soviel Sie wollen«, flüsterte er. »Vielleicht werden Sie mir auch sagen, was Lan Ying bedeutet.«

Audrey lächelte freundschaftlich und reichte ihm die Hand.

»Vielleicht«, entgegnete sie leise.

 

Nach dem Frühstück lud Cunningham Angelgerät und Eßwaren auf den Hintersitz seines Autos. Vor der Abfahrt hatte er noch einige Visiten zu machen.

»Kommen Sie gleich mit, Jack«, sagte er. »Auf diese Weise verlieren wir keine Zeit. Zuerst fahren wir nach dem Ostviertel der Stadt.«

Sie fuhren durch ein bescheidenes Wohnviertel; Cunningham sprach über den Fall, dem sein erster Besuch galt.

»Ich brachte das Kind gestern aus dem Spital heim«, sagte er. »Es war überfahren worden; Gehirnerschütterung und Abschürfungen. Ein paar Tage sah die Sache recht bös aus. Die Familie war ganz verzweifelt. Ich mußte mich um alle kümmern, die Eltern und ein halbes Dutzend Kinder, alle tödlich erschrocken, weil Dolly bewußtlos war.«

Jack wunderte sich, daß man die Familie zu der Kranken gelassen hatte, und verlieh seinem Staunen Ausdruck.

»Natürlich hätten wir ihnen verbieten können, ins Spital zu kommen«, erwiderte Cunningham, »wie das bei Ihnen an der Universitätsklinik Sitte ist. Sie betreiben alles sehr geschäftsmäßig. Aber es hat Dolly nicht das geringste geschadet, daß ihre Geschwister kamen und an ihrem Bett weinten.« Er schwieg gedankenvoll, während sie einen Block entlangfuhren; es war ihm anzusehen, daß er bemüht war, seine Gedanken zu ordnen und in Worte zu fassen.

»Beaven«, erklärte er schließlich, »der Ärzteberuf hat es nicht verstanden, Sorge und Kummer zu kapitalisieren.«

»Ich verstehe nicht recht, was Sie meinen.«

»Nehmen wir zum Beispiel diesen Fall. Da ist eine Familie, die jahrelang ohne Schicksalsschläge dahingelebt hat. Natürlich gab es kleine Sorgen: die Schwierigkeit, mit dem Gehalt auszukommen, die Angst, die Stellung zu verlieren, Kinderkriegen, Mumps, Streitigkeiten mit Verwandten – aber nichts Herzzerreißendes. Mann und Frau finden ihr Zusammenleben ganz natürlich, alle Romantik ist verschwunden. Die Kinder gehen der Mutter auf die Nerven, und sie ohrfeigt sie. Die Kinder nehmen an, daß die Mutter nicht unrecht tun könne, und ohrfeigen einander. Die Mädchen werden boshaft und neidisch, die Buben trotzig und grausam. Und dann ereignet sich die Katastrophe. Jemand in der Familie erkrankt ernstlich oder wird schwer verletzt. Sofort merken alle, wie lieb sie einander haben. Sie sind milde gestimmt. Die Liebe umfaßt nicht nur den Patienten. Die Eltern werden durch festere und dauerhaftere Bande, als es die frühere auf körperlicher Anziehungskraft beruhende Liebe war, miteinander verknüpft. Die Geschwister halten einander an der Hand und sprechen leise. Der faule Sam macht eifrig Besorgungen, die egoistische Lizzie erbietet sich, die Teller zu waschen.«

»Wahrscheinlich hat ein solches Ereignis eine gewisse Wirkung auf ein Heim«, gab Jack, mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung, zu. »Aber was hat das mit dem Ärzteberuf zu tun?«

»Das ist der springende Punkt«, sagte Cunningham und zeigte mit dem Finger auf den Volant. »Wir kümmern uns fast ausschließlich um die kleinliche Spitaldisziplin. Aufrichtig gesagt, ist diese hauptsächlich auf die Bequemlichkeit der Ärzte und Pflegerinnen bedacht, und vor lauter Disziplin helfen wir der Familie nicht, von der Lektion zu profitieren. Mehr noch, wir versuchen, dies zu verhindern.«

»In einem Spital ohne Disziplin würde alles drunter und drüber gehen, nicht wahr?« Jack hoffte, daß es ihm gelungen sei, seine Gereiztheit zu verbergen.

»Stimmt. Aber wir übertreiben, sind äußerst kurzsichtig geworden. Uns interessiert nur die Körpertherapie. Ein Kind mit Schädelbruch – unsere Aufgabe ist es, den Bruch zu heilen. Die Familie geht uns nichts an. Sie ist nicht krank. Mit der haben wir nichts zu schaffen. Wir sind nicht einmal verpflichtet, ihre Fragen zu beantworten. Sollen die Familienmitglieder im Wartezimmer herumsitzen. Dafür ist das Wartezimmer da. Pah! Diese großartige berufliche Haltung macht mich krank, ich kann mich häufig kaum beherrschen.«

Jack verzog den Mund und wünschte insgeheim, Cunningham möge endlich mit seiner dummen Sentimentalität aufhören.

»Selbstverständlich ist es wichtig, daß der Patient geheilt wird«, begann Cunningham von neuem, sich zur Ruhe zwingend. »Aber es ist auch wichtig, daß die Familie von dem Unglück profitiere. Ich möchte, daß alle Mitglieder im Krankenhaus zusammenkommen und sich, einer in der Gegenwart des andern, neue Treue und Hingabe geloben. Unsere strenge Nüchternheit ist zum großen Teil die Schuld der Pflegerin, doch wäre diese nie so präpotent, wüßte sie nicht, daß wir mit ihrem Verhalten einverstanden sind. Sie beweist den Laien gern, daß sie vom Fach ist und sehr viel versteht. Sie schließt den Leuten die Tür vor der Nase zu, gebietet ihnen zornig Stille, wenn sie ohnehin, tödlich erschrocken, auf den Zehenspitzen, mit großen Augen daherkommen. Die Familie hat keine Gelegenheit, dem Patienten liebe Worte zu sagen, sie wird verlegen, wortkarg, eingeschüchtert. Ich sage meinen Pflegerinnen: ›Lassen Sie die Familie herein. Und wenn der gräßliche kleine Patsy, der junge Tyrann, einen hysterischen Anfall bekommt und hoch und heilig schwört, er werde die Schwestern nie mehr an den Haaren ziehen, so lassen Sie ihn heulen. Das stört höchstwahrscheinlich niemanden außer Ihnen!‹« Cunningham schmunzelte. »Weiß Gott, unsere Pflegerinnen sind imstande, eine ganze Familie zur Salzsäule erstarren zu lassen. Ich sage ihnen immer: ›Das ist nicht bloß ein Beruf, das ist eine Berufung.‹«

Jack hatte das Gefühl, noch nie eine so schamlose Verteidigung einer Ansicht gehört zu haben, die Tubby säuerlich als »Gefühlsduselei« abzutun pflegte. Er war verblüfft und enttäuscht zugleich. Cunningham genoß den Ruf, ein guter Arzt zu sein. Es war ihm sogar bei ihnen ein Lehrstuhl angeboten worden. Da hätte er etwas Schönes angestellt! Die Medizinische Fakultät wäre gar bald zum allgemeinen Gespött geworden. Aber – er konnte mit dem andern nicht debattieren. Cunningham war älter als er, und er war sein Gastgeber. Hoffentlich würde er nicht noch länger über dieses Thema reden. Alsbald machten sie vor einem etwas schäbigen Haus halt. Die kahlen Stellen des Rasens auf dem Hof verrieten, daß er nicht geschont wurde.

»Kommen Sie mit«, forderte Cunningham ihn auf. »Ich werde Ihnen ein belustigendes Schauspiel bieten: der Hausarzt und seine Gewohnheiten.« Er lachte jungenhaft. »Ich habe mir oft gewünscht, Tubby, den alten Heuchler, auf meinen Runden mitzunehmen.«

»Heuchler?« wiederholte Jack.

»Freilich. Er gibt vor, daß er ein Eisberg und sein Herz eine Pravazsche Spritze sei. Sie an der Universität kann er damit zum Narren halten, ich aber kenne Tubbys weiches Herz besser als er selbst.«

Jack wußte nichts zu antworten; er grinste nur stumm. Einige der Familienmitglieder hatten das Auto bereits erblickt; die Kinder kamen aus dem Haus gelaufen.

»Schauen Sie sie an«, sagte Cunningham, belustigt über Jacks verblüfftes Gesicht. Er stellte den Motor ab. Die Kinder kletterten auf das Trittbrett, sprachen alle durcheinander. Dolly, schrien sie, sitze aufrecht im Bett! Dolly esse eben ihr Frühstück! Dolly habe einen jungen Hund – den herzigsten jungen Hund der Welt! Pappi habe ihn ihr geschenkt! Dolly habe von ihnen allen Geschenke bekommen!

»Geht doch weg!« rief Cunningham. »Ich kann ja den Schlag nicht aufmachen, wenn ihr dutzendweise auf dem Trittbrett steht!«

»Ich hab' ihr Teller gekauft!« brüllte Jimmie. »Im Zehn-Cent-Basar!«

Jack folgte Cunningham ins Haus. Er fühlte sich unbehaglich. Cunninghams Art, mit Kindern umzugehen, ermangelte entschieden der Würde. Sie hatten vor ihm nicht mehr Respekt als vor dem Eisverkäufer.

Im Haus kam ihnen die Frau entgegen, sie war ungepflegt, unförmig dick und hatte schlechte Zähne. Das Lächeln jedoch, mit dem sie Bill Cunningham begrüßte, war sehr herzlich, fast verehrungsvoll.

»Mrs. Timmons«, sagte Cunningham, »das ist mein Freund Dr. Beaven.«

Sie wischte die feuchte Hand an der braunen Schürze ab und streckte sie schüchtern Jack entgegen. Dann blickte sie ängstlich zu Cunningham auf.

»Nein, nein, Mrs. Timmons«, sagte dieser beruhigend. »Es ist nichts geschehen. Dr. Beaven ist nicht wegen einer Konsultation gekommen. Wir gehen zusammen angeln.«

Nun lächelte sie beglückt. Ihr Verhalten war merkwürdig. Cunningham hatte getan, als sei sie vor dem Gedanken, Dolly brauche einen Spezialisten, erschrocken. Jack jedoch fragte sich, ob sie nicht einfach vor ihm Angst habe. Vielleicht war in seinem Gesicht zu lesen, daß er für derlei Vertraulichkeiten nichts übrig hatte. Nun, einerlei, möge Cunningham sich an dieser Anbetung weiden, er, Jack, zog eine berufliche Haltung vor. Verführe man nach Cunninghams Art, so büßte man höchstwahrscheinlich an Respekt und Autorität ein, was man an Geschwätz und Anhänglichkeit gewann.

Sie gingen alle zu Dolly hinein, die die Arme ausstreckte. Cunningham ließ sich abküssen. Er untersuchte das Kind kurz, sprach leise mit der Pflegerin, setzte sich auf einen knarrenden alten Sessel und erklärte: »Ich habe Dr. Beaven mitgebracht, damit ihr ihm den Katechismus aufsagt.« Die Kinder umringten ihn und wurden plötzlich still. Es war ihnen anzumerken, daß sie wußten, was nun kam. Cunningham hatte sie bereits einmal damit geneckt, und sie wollten gern beweisen, daß sie die Antworten kannten.

»Wäre Dolly nicht genesen, was wäre mit euch allen geschehen?« fragte der Arzt feierlich.

»Wir wären nie mehr glücklich gewesen«, antworteten die Kinder im Chor.

»Und jetzt – werdet ihr glücklich sein?«

Einstimmige Bejahung.

»Immer?«

»Immer!«

»Kein Streit mehr?«

»Kein Streit!«

»Versprecht es!«

Sie versprachen es bei ihrem Leben.

»Das wäre alles«, erklärte Cunningham. »Das Meeting ist aus.« Er löste sich von der kleinen Bande und schritt zum Auto, gefolgt von seinen lärmenden Wählern.

»Dolly weiß es nicht«, meinte Cunningham, als sich das Auto in Bewegung setzte, »aber ihre Kopfverletzung hat der Familie sehr gutgetan. Die Geschwister waren eine schrecklich verwilderte Bande.«

Dieses Zurschautragen der Gefühlsseligkeit war entsetzlich. Jack versuchte, etwas Freundliches zu sagen, aber er fand keine Worte. Er war bereit, zuzugeben, daß es für die Timmons ganz gut sei, nicht mehr zu streiten, doch war es nicht die Aufgabe des Arztes, sie davon abzubringen. Vielleicht war in ihrem Haus die Kanalisation nicht in Ordnung, doch war es nicht Sache des Arztes, sie zu reparieren. Vielleicht war das Dach schadhaft, vielleicht war die Hypothek zu zahlen. Es wäre zweifellos schön und gut, kämen alle ihre Angelegenheiten in Ordnung, aber es gehörte nicht zu den Pflichten des Arztes, sie zu regeln. Widmete er sich diesen berufsfremden Diensten, so wurde er immer weniger ein Mann der Wissenschaft. Man konnte nicht alles tun, denn bei einem solchen Vorgehen kam die Wissenschaft zu kurz. Tubby hatte recht.

»Ich muß noch für einen Augenblick in meine Ordination«, sagte Cunningham, als sie in eine belebte Straße einbogen. »Wollen Sie mitkommen?«

Selbstverständlich erklärte Jack sich dazu bereit, wiewohl er lieber im Auto gewartet hätte. Die Ordination interessierte ihn nicht. Er konnte sich ja vorstellen: ein Empfangsraum, eine Sekretärin, die gleichzeitig Pflegerin war, ein kleines Zimmer mit einem Schreibtisch, einem verschiebbaren Sessel für Untersuchungen und in einem Glaskasten Instrumente für kleinere Eingriffe. Vielleicht gab es auch noch einen Raum mit einem Bett.

Sie hielten an der Parkstelle vor einem modernen fünfzehnstöckigen Haus und fuhren mit dem Lift zum obersten Stockwerk. In dem mit Teppichen belegten Korridor saß an einem Schreibtisch ein Mädchen in einem weißen Kittel. Jack wunderte sich darüber, daß Cunninghams Sekretärin in der Halle saß. Möglicherweise arbeitete sie gleichzeitig für ein Dutzend Ärzte. Es erwies sich jedoch sofort, daß sie nur bei Cunningham angestellt war. Er benutzte das ganze Stockwerk.

»Kommen Sie mit ins Laboratorium, Beaven«, sagte er. »Ich habe ein Experiment begonnen und möchte es Ihnen zeigen, bevor wir losfahren.«

»Sie haben ein eigenes Laboratorium?« Jack war verblüfft.

»Zum Teufel, ja!« rief sein Gastgeber über die Schulter zurück. »Haben Sie geglaubt, daß ich nur Pillendreher bin?«

Er öffnete die Tür, und sie betraten ein geräumiges, mit den modernsten Behelfen der Pathologie ausgestattetes Zimmer.

»Ich habe privat bestimmte Forschungen über die interstitielle Lungenentzündung angestellt«, erklärte Cunningham. »Gestern bekam ich einige schöne Abstriche von einem Steinmetz. Wir haben viele staubige, hautaufschürfende Berufe in diesem Staat. Tun Sie einen Blick ins Mikroskop, Beaven.«

Jack legte staunend seinen Hut in die Ecke und trat an den Tisch vor dem Nordfenster. Das Mikroskop war ein Beck-Binokular. Jack stellte den feinen Mechanismus auf seine Augen ein und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf den winzigen sienabraunen Abstrich.

»Das beste Exemplar, das mir bis jetzt in die Hände gekommen ist«, sagte Cunningham.

Jack fühlte sich so klein, daß ihm war, als gehöre er eigentlich auf die andere Seite des Mikroskops. Er studierte eine ganze Weile das winzige, aber bedeutsame Objekt. Widersprechende Gedanken suchten ihn heim. Er hätte Cunningham für das ihm im Geist angetane Unrecht gerne um Verzeihung gebeten, doch wäre das Cunningham bestimmt nicht angenehm gewesen, es würde ihn nur in peinliche Verlegenheit versetzt haben.

»Haben Sie schon gezählt? Leukozyten?« fragte er.

»Ja, dabei fällt mir ein, das ich dem Mädchen die Notizen zur Reinschrift geben muß.« Cunningham nahm einen Stoß mit Bleistift geschriebener Notizen vom Tisch. »Ich machte sie gestern abend, als das Mädchen nicht hier war.«

Jack, noch völlig von dem Abstrich in Anspruch genommen, fragte wie aus weiter Ferne: »Gestern abend?«

»Ja, nachdem Sie schlafen gegangen waren.«

Jack richtete sich gerade auf und betrachtete seinen Gastgeber mit stummem Tadel.

»Tun Sie das oft? Ich meine, Nachtarbeit – wenn Sie schon den ganzen Tag geschuftet haben?«

»Es geht besser.« Cunningham wich dem mißbilligenden Blick aus. »Nachts wird man nicht gestört.«

»Sie werden sich ruinieren«, warnte Jack.

»Sie tun es doch auch, nicht wahr?«

»Nicht ganz. Ich habe nicht Ihre Verantwortung. Außerdem bin ich – jünger als Sie. Ihr Programm wird Ihnen das Leben verkürzen.«

»Ich habe nicht vor, einen neuen Rekord für Langlebigkeit aufzustellen.«

 

Nun kam Cunningham fast übermütig die Spitaltreppe herunter. Es war ihm anzusehen, daß er sich in Ferienstimmung befand. »Ich habe einen Kerl da – Jim Gibson –, der seit drei Monaten mit einem kranken Bein liegt. Doppelter Knochenbruch, Infektion, eine lange und schmerzhafte Dränage. Es war dem Mann ganz gleichgültig, ob er gesund würde oder nicht. Eine zänkische Frau, eine verwilderte Tochter.« Er seufzte bei der Erinnerung. »Ich sah sofort, daß es nichts nützt, Jims infiziertes Bein zu dränieren, wenn wir nicht auch gleichzeitig das Gift aus der ganzen verwünschten Familie dränieren.«

»Ich fürchte, ich würde mich für so was nie eignen.« Jack hatte das Gefühl, daß er irgend etwas sagen müsse.

»Müßten Sie es tun, so ginge es bestimmt. Es gehört mit zu unserem Beruf. Ist vielleicht sogar der bedeutsamere Teil. Bisweilen habe ich das Gefühl, meine ganze Chirurgie besitze hauptsächlich deshalb einen Wert, weil sie mir ermöglicht, das Vertrauen einer Familie zu gewinnen. Wir leisten ein schönes Stück chirurgischer Reparatur, und daraufhin glauben die Leute, daß wir alle Arten von Wunder zu vollbringen vermögen. Das ist ja sehr schmeichelhaft aber diese Auszeichnung fordert ihren Preis.«

Nun waren sie mitten in den stärksten Verkehr geraten, und Cunningham wandte seine Aufmerksamkeit dem Volant zu. Beide verharrten stumm. Als der Verkehr nachließ, meinte Jack: »Ich habe die Dinge nie von dieser Seite betrachtet. Mein Training ist ein ganz anderes gewesen. Es fiel mir nie ein, mich für das Privatleben der Patienten zu interessieren.«

»Weil Sie sie nicht als Ihre Patienten betrachten. Sie werden Ihnen von andern Ärzten übergeben. Der Hausarzt jedoch kennt den Patienten durch und durch. Sie behandeln einen Fall, weil Sie ein Experte, ein Spezialist sind. Sie haben das Gefühl, kein Mensch wolle oder erwarte von Ihnen etwas anderes zu erfahren als das Pathologische.« Cunninghams Augen weiteten sich plötzlich, da ihm ein neuer Gedanke kam. »Aber hören Sie, Beaven, Sie haben viel mehr die Möglichkeit, etwas Wichtiges zu tun, als der alte Doktor daheim. Verstehen Sie? Der Patient wird zu Ihnen geschickt, weil Sie viel mehr können als der Hausarzt. Sie sind es, der das Wunder vollbringt. Der alte Doktor hat es nicht vermocht, hat es selbst zugegeben und Ihnen den Fall geschickt. Sie haben es vermocht. Bei Gott, wollten Sie sich auch nur ganz wenig für das Wohlergehen des Patienten interessieren, er würde Ihnen nachlaufen wie ein Hund.«

Jack lachte verlegen, da er so als großer Mann hingestellt wurde. Jede Antwort, die er geben konnte, mußte dumm klingen.

»Freilich«, gab er schließlich zu, »auch ich glaube an die soziale Rehabilitierung. Aber das ist eine Sache für sich, ich kann mich nicht gleichzeitig um sie kümmern und der Wissenschaft mein Bestes geben.«

Cunningham wandte den Kopf und blickte Jack mit einem beinahe väterlichen Lächeln an.

»Warum glauben Sie, daß die soziale Rehabilitierung keine Wissenschaft sei?« fragte er sanft. »Der Beruf sollte jedem Menschen vor allem als Achse dienen, um die er sich in seinem speziellen Fach als aufbauender Menschenfreund dreht. Selbst in einem unwichtigen Beruf kommt er mit Menschen zusammen, die ihm dazu Gelegenheit geben. Nicht ein jeder hat die Chance, etwas Bedeutsames zu leisten, noch weniger aber hat er Ihre Chance, die aus den bereits früher erwähnten Gründen besonders groß ist. Dennoch kann auch ein gewöhnlicher Handwerker einen großen Einfluß ausüben. Es war einmal ein Zimmermann …« Er beendete den Satz nicht.

»Glauben Sie diese Geschichte?«

»Im großen und ganzen. Ich nehme an, daß sie unter gutgemeinten, aber sinnlosen Legenden vergraben worden ist.«

»Sie meinen die Wunder?«

»Wir wollen jetzt nicht von diesen Wundern sprechen«, sagte Cunningham nachdenklich, »sondern von den unsern. Von Ihren und meinen. Wäre Jim Gibson Ihr Fall, den Sie gemäß Ihrer Theorie behandelten, Sie würden am Montagmorgen der Pflegerin sagen: ›Gibson kann entlassen werden. Sein Bein ist gesund.‹ Die Pflegerin würde Gibson in die Hosen helfen und ein Taxi rufen.«

Das Auto fuhr so langsam, daß es beinahe stehenblieb. Cunningham legte die Hand auf Jacks Knie und blickte ihm gerade in die Augen. »Ich aber werde, wenn ich am Montag Jim Gibson entlasse, zu ihm sagen: ›Stehe auf und wandle!‹ Und Gibson wird genau wissen, daß ich damit nicht nur die bloße Bewegung meine.«


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