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Es war lange her, daß Jack Beaven sich zum letztenmal persönlich für ein Kind interessiert hatte. Seitdem er vor zwölf Jahren sein Heim verlassen, um an der Hochschule zu studieren, hatte er keine Gelegenheit mehr gehabt, mit kleineren Kindern zusammenzukommen. Als Arzt kam er mit ihnen auch nur selten in Berührung. Fast alle Operationen, denen er beiwohnte, wurden an Erwachsenen ausgeführt. Und je mehr Tubby Forrester die Aufmerksamkeit seines Assistenten auf die Gehirnchirurgie lenkte, desto seltener wurde für diesen das Zusammentreffen mit Kindern; in diese Abteilung kam nur selten ein Kind.
Hätte Jack gehofft, einmal selbst ein Heim und eine Familie zu haben, er wäre vielleicht bestrebt gewesen, sich mit dem geistigen Entwicklungsprozeß der frühen Jugendzeit zu befassen. So aber war ihm das normale Verhalten eines siebenjährigen Buben ebenso fremd wie die Gewohnheiten der Pinguine.
Selbstverständlich bezog sich dieses mangelnde Wissen nur auf das Seelenleben des Kindes. Physisch betrachtet, war ein siebenjähriger Junge nur ein Mann in kleinerem Maßstab. Man brauchte nicht nach seiner Brachialarterie oder nach seinem Mediannerv zu suchen. Sein Geist hingegen war weit entfernt, ein kleineres Modell eines männlichen Geistes zu sein, dieser war etwas völlig anderes.
Am Morgen nach der Operation kam Jack ganz zeitig, um nach seinem jungen Patienten zu sehen. Er war überzeugt, daß die Nervenregeneration Erfolg haben werde. Der schwerere Teil der Operation, der darin bestand, den Nerv aus dem Nervengewebe zu heben und von der an ihm haftenden Ader zu befreien, sowie – nach der Entfernung der neurotomatischen Stelle – das Nähen der Nervenenden waren Jacks Verantwortung überlassen worden. Tubby hatte die Operation nur begonnen, Jack aber alles andere ausgeführt. Es war ein schönes Stück Arbeit gewesen. Zu Jacks Enttäuschung hatte Dr. Cunningham nicht kommen können.
Am Tag der Ankunft hatte Jack von dem Jungen nur wenig gesehen. Der von Müdigkeit, Aufregung und von den Erschütterungen der Reise erschöpfte Patient bekam ein Beruhigungsmittel, das Lethargie hervorrief. Tubby glaubte über den Fall genug zu wissen; im Augenblick schien ihm für das Kind Ruhe das Wichtigste zu sein. Mrs. King hatte Jack nicht zu Gesicht bekommen. Beruhigt von dem Gedanken, daß ihr Kind in guten Händen sei, hatte sie sich von Tubby ins Hotel bringen lassen; etwas Außergewöhnliches, denn Tubby gab sich mit den Verwandten eines nicht in der Stadt lebenden Patienten selten auch nur die geringste Mühe. Jack war belustigt, als die Pflegerin es ihm erzählte, und dachte, Dr. Cunninghams Bericht über die Anziehungskraft der Dame scheine doch der Wahrheit zu entsprechen.
Am Tag zuvor, zur Zeit der Operation, hatte er Mrs. King ebenfalls nicht gesehen. Sie war bestimmt mitgekommen, als der Bub in den Operationssaal gebracht worden war, doch wurde sie zu Beginn der Narkose wahrscheinlich fortgeschickt. Nach der Operation hatte Tubby sich sofort ins Krankenzimmer begeben. Jack war ihm nicht gefolgt, denn schließlich handelte es sich ja doch um einen Fall seines Chefs. Um sieben Uhr hatte Jack ins Zimmer hineingeschaut und von der Pflegerin die Auskunft bekommen, das Kind schlafe. Alles war demnach in schönster Ordnung. Da es für Mrs. King im Spital nichts zu tun gab, war ihr geraten worden, ins Hotel zurückzukehren, wohin Dr. Forrester sie dann begleitet hatte.
Am anderen Morgen gegen sechs Uhr dreißig begab sich der Assistent Beaven nach dem King-Zimmer und öffnete leise die Tür. Der Bub war wach. Er sah sehr klein aus. Das kurze, lockige schwarze Haar, das ihm in die Stirn fiel, war weich wie bei einem Baby. Die Augen mit den ungewöhnlich langen Wimpern lagen in dem ovalen Gesicht sehr weit auseinander. Im Kinn zeigte sich ein Grübchen.
Dr. Beaven trat ans Bett und blickte in die braunen fragenden Augen. Dann sagte er: »Guten Tag, Mr. King.«
Das Kind nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und kämpfte mit einem Grinsen. Dann erwiderte es zurückhaltend:
»Guten Tag.«
Miss Warren, die seit Mitternacht Dienst getan hatte, kicherte mitten in ein Gähnen hinein und zog sich ans Fenster zurück, von wo aus sie, wie es schien, mit großem Interesse auf den Ahornbaum bückte.
»Schmerzt die Hand?«
»Nein, der Arm.«
»Das ist recht«, sagte Dr. Beaven. »Ich meinte, die Hand, der Arm interessiert uns nicht.«
»Oh!« sagte das Kind und schüttelte mit geweiteten Augen den Kopf.
»Haben Sie gut geschlafen?« fragte der Arzt und griff nach dem gesunden Handgelenk.
»Ich glaube, ja. Und Sie?«
»Ziemlich gut, Sir«, entgegnete der Arzt ernst. Er holte seine Uhr hervor und betrachtete sie aufmerksam.
»Warum nur ›ziemlich‹? Haben Sie Kaffee getrunken? Meine Mutter …«
»Sssch!« ermahnte Miss Warren lächelnd und hob den Finger.
Nach einigen Augenblicken steckte der Arzt die Uhr wieder in die Tasche und sagte wie ein Mann zum andern: »Nein, Sir. Es war nicht der Kaffee. Ich bin Arzt, Mr. King, und Ärzte schlafen fast nie die Nacht durch. Ich mußte einige Mal aufstehen – die Kranken, Sie begreifen. Wir sind hier in einem Spital.« Er zog sanft die Decke fort. »Ich möchte Ihr Herz abhören, bitte.«
»Wird es in dem Zeug da einen großen Lärm machen?«
»Hoffentlich nicht.«
»Wenn Sie mit dem meinen fertig sind, werden Sie mich Ihr Herz abhören lassen?«
»Nicht heute. Die Pflegerin will, daß Sie sich vollkommen ruhig verhalten.«
»Wollen Sie es nicht?«
Dr. Beaven nahm an, der Bub würde seinem Wink gehorchen, und hatte die Enden des Instrumentes in die Ohren gesteckt; jetzt jedoch nahm er sie wieder heraus und fragte: »Was will ich nicht?«, worauf der Patient unverzüglich antwortete: »Daß ich mich ruhig verhalte?«
»Aber ja, natürlich. Alle wollen es, Miss Warren, Dr. Forrester, ich …«
»Und meine Mutter wohl auch«, fügte das Kind hilfsbereit hinzu.
»Bestimmt. Seien Sie so freundlich und sprechen Sie eine Minute nicht …« Er legte die Schallmuschel auf das Herz des Kindes.
»Schlägt es noch?« fragte der Bub eifrig, während der Arzt das Stethoskop in die Tasche steckte.
»Schwach. Wenn Sie ein bis zwei Stunden nicht gesprochen haben, wird es, hoffe ich, stärker schlagen.«
»Ich habe Sie gestern nicht gesehen.«
»Nein. Aber ich Sie. Sie schliefen.«
»Dr. Beaven hat dich operiert, Herzchen«, sagte Miss Warren. »Aber jetzt müssen wir wirklich still sein.«
Die braunen Augen sahen sie mit ernstem Blick an.
»Sie auch?«
Miss Warren war um eine Antwort verlegen, sie legte nur einen Finger auf die gekräuselten Lippen und öffnete weit die Augen.
»Haben Sie meine Mutter gesehen?« fragte der Bub den Arzt. Dieser schüttelte den Kopf.
»Heißt das jetzt ›Nein‹ oder ›Mund halten‹?«
»Beides«, entgegnete Dr. Beaven ruhig.
Einen Augenblick herrschte Stille. Der Bub seufzte.
»Meine Mutter sagt, ›Maul halten‹ ist grob.«
»Das stimmt, Mr. King, aber Ärzte sind nicht da, um höflich zu sein. Immerhin – darf ich mich bei Ihnen entschuldigen?«
Das Kind nickte freudig. Dr. Beaven strebte der Tür zu.
»Ich sehe Sie bald wieder«, sagte er.
»Sie haben doch gesagt, daß Sie sich entschuldigen werden.«
»Habe ich es nicht getan?«
»Nein, Sie haben nur gefragt, ob Sie dürfen.«
»Sie lassen den Ball wirklich nicht aus den Augen.«
Die Kinderaugen lachten.
»Spielen Sie gern Ball? Ich wette, Sie könnten, wenn Sie wollten, Fußball spielen. Haben Sie es schon getan?«
»Das werde ich Ihnen morgen sagen, wenn ich höre, daß Sie sich heute sehr still verhalten haben.«
»Was haben Sie gemacht, damit meine Hand nicht mehr weh tut?«
»Auch das werde ich Ihnen, wenn Sie heute folgen, morgen sagen.«
Das Kind schüttelte eigensinnig den Kopf.
»Es wird mir gar nicht schaden, wenn ich ruhig liege und Ihnen zuhöre.«
»Morgen«, erklärte Dr. Beaven energisch.
Teddys Gesicht verriet Enttäuschung. Man sah dem Buben an, daß er gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen.
An der Tür wandte der Arzt sich um und sagte in bedeutsamem Ton:
»In diesem Stockwerk sind alle Patienten Männer. Auch Sie sind einer von ihnen, Mr. King.« Er salutierte ernst. Teddy lächelte gegen seinen Willen, während er den Gruß erwiderte. Miss Warren beobachtete mit Interesse die kleine Szene.
»Gefällt dir Dr. Beaven?« fragte sie, nachdem dieser die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Teddy nickte mit feierlicher Würde.
»Sie sollen mich nicht fragen«, sagte er streng. »Ich darf nicht sprechen.«
Spät am Nachmittag, während einer kurzen Unterredung im Laboratorium, teilte Dr. Forrester seinem Assistenten mit, daß er sich während der nächsten drei Tage um den King-Buben nicht zu kümmern brauche.
»Am Samstag verreise ich, Beaven. Dann werden Sie den Fall behandeln, bis das Kind entlassen werden kann.«
Das sah Tubby nicht ähnlich; hatte er eine gelungene Operation hinter sich, so kümmerte er sich um den Patienten nicht mehr. In diesem Fall versuchte er – recht ungeschickt, fand Jack – sein Interesse mit der Freundschaft für Dr. Cunningham zu begründen, auf dessen Patienten alle erdenklichen Rücksichten genommen werden mußten.
Der Bub bedurfte keiner besonderen Beobachtung. Abgesehen von dem natürlichen Heilungsprozeß und der Erholung von dem durch die Operation verursachten Schock konnte alles der Zeit und der Natur überlassen werden.
»Sehr wohl, Sir«, gab Jack seinem Vorgesetzten zur Antwort.
»Die Mutter des Jungen«, fuhr Tubby fort, »will am Samstag nach Hause fahren. Sie bekleidet einen verantwortungsvollen Posten und will nicht länger fortbleiben. Die Tante kommt am Sonntag und bleibt hier, bis das Kind entlassen werden kann; das dürfte in einer Woche der Fall sein. Die Entscheidung wird bei Ihnen liegen.«
Jack stellte mit einer gewissen Verwunderung fest, daß eine Frau seine Neugier erweckt hatte. Er wollte diese Mrs. Claudia King sehen, der es gelungen war, Tubbys Seelenruhe zu stören. Freilich wußte er, daß am Ende Gewohnheit und Training wieder zu ihrem Recht kommen würden. Mochte Tubby augenblicklich auch verzaubert sein – dieser Zustand konnte doch nicht lange andauern. Mrs. King würde heimkehren und Tubby sein gewohntes Programm wiederaufnehmen und nicht zum Romeo werden.
Während der berühmte Neurologe eine kurze Zeit der Schwärmerei verfallen ist, wird sein getreuer Assistent den Forderungen der Wissenschaft nachkommen! hing Jack seinen Gedanken nach. Er selbst war ja auch kein Tugendbold, er haßte Tugendbolde, gerade deshalb waren ihm die religiösen Fanatiker, mit denen er in seiner Jugend verkehrt hatte, so abstoßend erschienen.
Später, als Tubby gegangen war, saß Jack im Laboratorium, wo ihm unvermittelt einfiel, wie leicht ein Mensch unbegründet stolz darauf werden konnte, daß er der Wissenschaft diente; es war, als wenn einer den Tribut strenger Selbstbeherrschung Jehova oder irgendeinem andern Gott zollte.
Dieser Gedanke beunruhigte Jack. Der größte Teil der Menschheit kam offensichtlich ohne Idealismus aus und fühlte nicht das Bedürfnis, einem Gott Dienste zu leisten. In schroffem Widerspruch zu diesem Teil gab es eine andere Gruppe, unbedeutend der Zahl nach, die im Dienst eines Herrn ein Leben strenger Hingabe verbrachte, sich dies viel kosten ließ, auf fast alles verzichtete, was Menschen angenehm erschien, um dann eines Tages zu entdecken, daß ihre Selbstaufgabe doch nur Selbstgerechtigkeit war. Welchem Gott auch immer man diente, stets war es das gleiche. Widmete man sich der Kunst, so entdeckte man alsbald in sich voll Triumph eine über alle andern erhabene schöne Seele. Gab man sich der Religion hin und tat man dies mit ganzem Herzen, so kam der Augenblick, da man, die Tempelstufen hinansteigend, beglückt flüsterte: »Herr, ich danke dir, daß ich nicht bin wie jene andern.« Wollte man dieser für den Ästheten und für den Mystiker unvermeidlichen Versuchung aus dem Wege gehen, dann mußte man sich der Wissenschaft weihen. Bei ihr gab es keine billigen Gefühle, keine Scheiterhaufen, um, von Flammen umlodert, halleluja zu singen, keine Selbstbeweihräucherung.
So hatte Jack bisher über das Programm seines Lebens gedacht. Die Wissenschaft war eine Herrin, der man ohne die ekelhaften kleinen Psychosen folgen konnte, von denen der Verstand und das Gehirn sentimentaler Pfuscher und Betbrüder erweicht wurden.
Heute jedoch fühlte Beaven mit Bestürzung, daß man durch die der Wissenschaft zuliebe erwählten Verzichte ebenso ekelhaft selbstherrlich werden könne. Er verachtete sich um des kleinlichen Gedankens willen, hatte sich dabei erwischt, daß er sagte: »Schon gut. Möge Dr. Forrester spielen gehen – ich werde die Arbeit weiterführen.« Diese Erkenntnis war für ihn eine Erschütterung, und er begab sich in die Klinik zurück, um seiner Arbeit nachzugehen. Den ganzen Tag sagte er zu sich selbst: »Eigentlich bin ich nichts weiter als ein ausgelernter Apotheker oder Zimmermann. Ich weiß, wo sich alle Teile befinden, und weiß sie in Ordnung zu bringen – aber das weiß auch der Mann, der unter dem Auto liegt, um es zu reparieren. Ich arbeite in einem Spital – und er arbeitet in einer Garage. Ich habe mich und meine Arbeit viel zu ernst genommen. Ich brauche mehr frische Luft und Sonnenschein. Und auch unterhaltende Gesellschaft.« –
Dennoch tat er nichts, um seine auf Mrs. King sich beziehende Neugierde zu befriedigen. Er besuchte das Kind erst am Samstagnachmittag, als er sicher war, daß sowohl die Mutter des Kindes als auch Tubby die Stadt verlassen hatten.
Jack mußte sich gestehen, daß ihn der Willkommgruß des kleinen Buben angenehm berührte. An der Echtheit war nicht zu zweifeln.
»Teddy hat nach Ihnen gefragt, Dr. Beaven«, sagte Miss McFey. »Er hatte Angst, Sie könnten ihn vergessen haben.«
»Ich wußte, daß Dr. Forrester gut für Sie sorgt.« Dr. Beaven nahm die kleine Hand in die seine. »Das hier ist ein großes Spital mit vielen Kranken. Es scheint Ihnen schon ganz gut zu gehen. Sie können sich aufsetzen und sich etwas bewegen.«
»Meine Mutter ist heimgefahren«, erklärte Teddy ernst. »Haben Sie sie gesehen?«
»Nein, ich habe sie nicht kennengelernt. Leider.«
»Ich habe ihr von Ihnen erzählt.«
»So?«
»Ja. Sie hat gelacht.«
»Über mich?« Der Arzt zog die Brauen hoch.
»Weil Sie mich Mr. King nennen. Morgen kommt Tante Audrey. Die wird es nicht komisch finden. Tante Audrey ist sehr höflich. Sie wird für mich Bilder zeichnen. Können Sie Bilder zeichnen?«
Zu seinem eigenen Erstaunen nickte Jack, zog einen Bleistift aus der Tasche und skizzierte auf einem Rezeptblock in aller Geschwindigkeit einen Arm.
»So. Das ist die Stelle, wo Sie sich weh getan hatten. Dieser Nerv hier war verletzt und wuchs an einer Ader fest. Sehen Sie, so. Ihre Hand schmerzte, weil durch den gleichen Nerv zwei Ihrer Finger bewegt werden. Deshalb haben wir den Nerv repariert, und jetzt schmerzt Ihre Hand nicht mehr. Nicht wahr, sie tut es nicht?«
Teddy schüttelte beruhigend den Kopf.
»Können Sie auch etwas anderes außer kranken Armen zeichnen?«
»Sie meinen Menschengesichter, Kühe, Pferde und dergleichen?«
»Hm – und Pagoden und Rikschas und Menschen, die Reis pflanzen.«
»Nein. Sehe ich aus wie ein Chineser?«
»Vor Tante Audrey dürfen Sie nicht ›Chineser‹ sagen. Sie hätte es nicht gern!«
Derart getadelt, erklärte Dr. Beaven, er kenne die richtige Form des Wortes und werde künftighin vorsichtiger sein.
»Ihre Tante zeichnet Menschen, die Reis pflanzen?«
»Ja, wunderschön, Tante Audrey ist eine Chinesin.« Teddy riß die großen braunen Augen weit auf und schüttelte den Kopf. »Wußten Sie das nicht?« fragte er.
»Nein«, erwiderte Dr. Beaven ruhig. »Ich habe davon nicht gehört. Sind Sie ganz sicher? Sie sind doch kein Chinese, und Ihre Mutter ist auch keine Chinesin, nicht wahr?«
»Nein. Nur Tante Audrey ist eine«, beharrte Teddy. »Sie werden ja sehen«, fügte er hinzu, den belustigt ungläubigen Ausdruck im Gesicht des Arztes bemerkend.
»Ich kann mir gar nicht denken, weshalb er das sagt«, meinte Miss McFey.
»Wahrscheinlich ist Ihre Tante viel in China gereist«, sagte Dr. Beaven, »und hat deshalb das Land so gern. – Lassen Sie mich jetzt Ihren Arm ansehen. Oh, dem geht es ja ausgezeichnet!«
»Nein, das ist es nicht«, erklärte Teddy, völlig uninteressiert an seinem Arm. »Meine Tante Audrey ist wirklich eine Chinesin.« Er nickte energisch. »Fragen Sie sie.«
»Gut«, gab der Arzt zu. »Sie müssen es wissen.«
»Sie ißt mit Eßstäbchen genausogut wie Sie mit einem Löffel.«
»Schon gut, Teddy. Mir ist es recht. Wahrscheinlich liebt sie deshalb chinesische Landschaften.«
»Wirklich? Wie unartig.«
Teddy lachte übermütig.
»Ich meine, sie zeichnet Gesichter. Vielleicht wird Sie auch ein Bild von Ihnen zeichnen. Ich weiß zwar nicht … Sie ist sehr höflich.« Dr. Beaven grinste, und das Gesicht des kleinen Buben drückte Verwirrung aus.
»Sie wollen wohl sagen, daß Ihre Tante sehr – sehr reserviert ist. Wissen Sie, was das heißt?«
Teddy schüttelte den Kopf.
»Schüchtern«, kam Miss McFey den beiden zu Hilfe.
»Hm, hm«, meinte Teddy unsicher. »Sie ist anders als Sie oder meine Mutter oder irgend jemand. Ihr wirklicher Name ist Lan Ying, aber ich nenne sie nur so, wenn wir spielen. Meine Mutter hat es nicht gern, wenn ich die Tante Lan Ying nenne.«
Dr. Beaven stand auf, er hatte das Gefühl, er habe wahrscheinlich schon zuviel Familiengeschichte zu hören bekommen.
»Ich komme morgen wieder, Teddy. Seien Sie brav.«
Er schloß die Tür hinter sich und strebte dem Lift zu. Schon im nächsten Augenblick hatte er das Gefühl, daß der lässige Gruß, den er eben Dr. Shane gegönnt, fast als eine Beleidigung aufgefaßt werden konnte. Lan Ying! – Lan Ying hatte wahrscheinlich eine Schraube zuviel!
Am Sonntag gab es viel zu tun. Jack hatte nicht nur seine eigenen und Tubbys Pflichten zu erfüllen. Seine Arbeit war auch noch durch die Abwesenheit einiger Ärzte vermehrt, die der Jahressitzung der Ärzte-Vereinigung beiwohnten.
Von diesen Mühen und Sorgen in Anspruch genommen, vergingen die Stunden, ohne daß er dazu gekommen wäre, mehr als ein- oder zweimal an Teddy King, dessen Fall ohnehin keiner Behandlung mehr bedurfte, und an die geheimnisvolle Verwandte des kleinen Jungen zu denken, die Pagoden zeichnete und mit Eßstäbchen aß. Das Bild, das er sich von dieser Dame gemacht hatte, war recht skizzenhaft; offenbar ein exzentrisches Mädchen, das sich sehr viel mit orientalischen Dingen befaßte. Cunninghams Brief hatte erwähnt, daß ihr Vater regelmäßig Reisen nach China gemacht hatte; das mochte lange zurückliegen. Vielleicht hatte er auf eine dieser Reisen die Tochter mitgenommen. Oder zumindest daheim interessant über China zu erzählen verstanden. Später, als der alte Mann nicht mehr lebte, war wohl diese Audrey Hilton, die ein beträchtliches Vermögen besaß, nichts zu tun hatte, durch keinerlei familiäre Bande gefesselt war und keine Lust verspürte, zu heiraten, viel gereist.
Es lag nahe, ein derartiges Bild zu entwerfen. Sie mochte an die Vierzig sein, hochgewachsen, sehnig, selbständig, eine gute Fotografin und, in den eigenen Augen zumindest, eine Autorität auf dem Gebiet chinesischer Kunst. Sie dürfte imstande sein, auf eine Entfernung von hundert Yards eine Yuan-Vase von einer Ming zu unterscheiden, und wenn das Gespräch auf die ätherische Grazie dickbäuchiger Buddhas kommt, redet sie einem sicherlich ein Loch in den Bauch.
Früher oder später wird er diese Audrey Hilton – diese Lan Ying – kennenlernen und, dem kleinen Buben, Tubby und Dr. Cunningham zuliebe, für ihre Erzählungen Interesse heucheln müssen.
An Sonntagnachmittagen war die Klinik immer überlaufen. Je schöner der Sonntag, desto voller die Klinik, und jetzt war es Juni, Freunde und Verwandte drängten sich im Lift, wimmelten in den Korridoren, waren mit Bonbons und häuslichen Sorgen unterwegs zu den Kranken. Ärzte und Pflegerinnen benützten an solchen Tagen meist die Treppe, um von einem Stockwerk zum andern zu gelangen. Erfahrene Besucher, die nicht wie Sardinen im langsamen Lift zusammengepreßt werden wollten, folgten ihrem Beispiel.
Jack Beaven bemerkte in diesen Sonntagsmassen selten einen einzelnen. Die Menge erschien ihm wie aus einem Stück, und sie erweckte fast nie sein Interesse. Bisweilen machte er sich über sie müßige Gedanken, fragte sich, ob es wahr sei, daß für gewöhnlich gutaussehende und intelligente Menschen unweigerlich in einen allen gemeinsamen Zustand flachgesichtiger Dummheit verfallen, sobald sie ein Krankenhaus betreten. Vielleicht lag etwas in der Luft, das dies verschuldete.
Der Tag und die Menschen begannen müde zu werden. Es war vier Uhr nachmittags, und die Flut der Besucher begann zu verebben; sie verließen scharenweise die Klinik. Jack war im vierten Stockwerk gewesen, um sich zu vergewissern, daß die Blinddarmoperation, die er gestern spätabends vorgenommen hatte, einen guten Verlauf nehme. Es war eine dringende Operation gewesen; die Patientin war im Abendkleid eingeliefert worden, begleitet von ihrem Mann und einigen Bekannten, ebenfalls in Abendkleidung. Jack hatte ihnen auch nachher nicht verraten, wie kritisch der Fall gewesen war. Tubby liebte es, seinen Hörern zu sagen: »Es ist nicht notwendig, dem Patienten oder dessen Verwandten nach einer Operation mitzuteilen, daß ausschließlich durch eure ungewöhnliche Geschicklichkeit ein Trauerfall in der Familie verhindert wurde. Überlaßt dieses Geschwätz jenen, die mit ihrem Wissen prahlen müssen, weil sonst niemand etwas davon merkt.«
Jack betrachtete die Temperaturkurve, reichte sie der Pflegerin zurück, nickte zufrieden, sah, daß die Patientin normal schlief, und begab sich ein Stockwerk tiefer, wo eine Nierendränage Geschichten machte – kein Wunder!
Er hatte eben die widerspenstige Drehtür aufgestoßen und schritt weiter, als ein rasches Absatzpochen auf dem Steinboden verriet, daß jemand ihm folgte. Offensichtlich gehörten die Absätze keiner Pflegerin, sondern einer Besucherin. Jack versuchte, die Tür zu fangen, damit sie der Frau hinter ihm nicht ins Gesicht schlage, doch entglitt sie seinen Fingern.
Um nicht unhöflich zu erscheinen, stieß er die eigensinnige Tür mit dem Ellenbogen auf und wartete gleichgültig, daß die Absätze durchschreiten sollten. Die Dame zögerte im Türrahmen und lächelte ihn dankbar an, doch verwandelte sich das Lächeln im Nu in einen Ausdruck halbverwirrten Wiedererkennens. Dann lächelte sie abermals; sie schien etwas belustigt über den Ausdruck des Staunens in seinen Augen. Später, als Jack die Einzelheiten dieses zufälligen Zusammentreffens rekonstruierte, hatte er das Gefühl, er habe sie einfach angestarrt. Seine Erinnerung an die Frau war vollkommen getreu. Sie hatte sich nicht im geringsten verändert. Sie trug das kurze schwarzblaue Haar genau wie früher, und die gleichmäßig geschnittene Franse verdeckte noch immer die obere Hälfte ihrer ungewöhnlich weißen Stirn. Hatte Jack sich bisweilen an ihre braunen Augen erinnert, so war es ihm bisweilen vorgekommen, als gehe seine Phantasie mit ihm durch. Jetzt jedoch erkannte er, wie treu das geistige Porträt gewesen war. Sie war sogar ganz ähnlich angezogen wie an jenem Abend, da er sie im Hotel Livingstone durch sein Anstarren in Verlegenheit gesetzt hatte. Die schwarze Seidenbluse war bis an den Hals zugeknöpft; darüber trug sie einen weißen Kragen. Ein weißer seidener Faltenrock betonte ihre schöne Gestalt.
Jack beschloß sofort, ihre erste Begegnung nicht zu erwähnen. Dies wäre das Eingeständnis eines Interesses gewesen, das er nicht zugeben wollte. Außerdem hätte es sie peinlich berühren können, wenn er auch bei ihr das gleiche Interesse angenommen haben würde. Brachte sie selbst darauf die Rede, so war das etwas anderes. In diesem Fall würde auch er sich ihrer Begegnung erinnern.
Sie trat durch die offene Tür und machte eine merkwürdige kleine Verbeugung.
»Verzeihen Sie«, sagte Jack. »Die Türen haben es so eilig.«
»Vielleicht haben sie etwas dagegen, daß man die Klinik verläßt.« Sie hatte eine weiche Altstimme und sprach die Worte langsam, präzis, ohne besonderen Akzent, aber dennoch mit der Vorsicht jener, die in einer andern Sprache denken. Ihre Betonung lag häufig auf der zweiten Silbe, auch wenn sie nicht dort hingehörte.
Jack fiel keine passende Antwort ein. Er meinte etwas trocken, die Treppe werde fast ausschließlich von Spitalangestellten benützt.
»Oh!« Sie zog die Brauen hoch und schüttelte auf eine kindlich-drollige Art den Kopf. »Vielleicht darf ich es dann gar nicht. Ich wußte es nicht. Es tut mir sehr leid.«
Sie hatten die Tür erreicht, die zum Korridor des dritten Stockwerks führte. Jack stieß die Tür auf und ließ der Dame den Vortritt.
»Danke«, sagte sie mit einer abermaligen kleinen Verbeugung. »Ich werde den Rest des Weges im Lift zurücklegen.«
»Nicht, wenn Sie lieber gehen«, sagte Jack lässig. »Kommen Sie, ich werde Sie begleiten. Wenn Ihr Wagen geparkt ist, werde ich Ihnen den kürzesten Weg zeigen.«
»Mache ich Ihnen nicht zuviel Mühe?« Sie schüttelte abermals den Kopf. (Diese Gebärde schien jede Frage, auf die sie eine verneinende Antwort erhoffte, zu begleiten.) »Sind dort … gibt es dort Taxis?«
»Nein. Die müssen gerufen werden. Ich tue es für Sie.« Sie hatten nun das Erdgeschoß erreicht; Jack wies den Weg zum Ausgang.
»Ich dürfte Ihre Zeit wirklich nicht so in Anspruch nehmen«, wandte sie ein. Darauf gab er keine Antwort. Das Richtige wäre wohl gewesen zu erwidern, es freue ihn, ihr behilflich sein zu können; doch war bei Jack die Gewohnheit zu stark, und er war nicht gewohnt, solche Dinge zu sagen. Sie gingen zusammen zur Portiersloge.
»Rufen Sie bitte ein Taxi für die Dame«, sagte Jack kurz.
»Ja, Dr. Beaven«, antwortete die Telefonistin.
Das Mädchen hob rasch den Kopf und blickte Jack in die Augen. Ihre Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, das sehr weiße regelmäßige Zähne sehen ließ. Er erwiderte den Bück mit ernstem Interesse.
»Das Auto wird gleich hier sein«, erklärte er, »am vordern Eingang.«
»Sie waren sehr freundlich«, sagte das Mädchen, abermals mit einer kleinen Verbeugung. »Danke.«
Einen Augenblick empfand Jack den Wunsch, das Mädchen zum vordern Eingang und zum Auto zu begleiten, doch wieder hinderte ihn daran die Gewohnheit, sich immer nur um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Außerdem berührte ihn der Gedanke peinlich, daß dies die geschwätzigen Angestellten des an der Front gelegenen Büros belustigen könnte; sie würden es sehr komisch finden, käme er mit einer jungen Dame an ihnen vorüber. Es paßte so gar nicht zu seiner Art.
Eine Sekunde lang folgten seine Augen dem jungen Mädchen. Dann kehrte er ins Treppenhaus zurück und stieg langsam in den dritten Stock hinauf. Das kleine Intermezzo hatte ihn angeregt. Hätte er doch einen Vorwand gefunden, sie nach ihrem Namen zu fragen! Stirnrunzelnd versuchte er, sich die Namen der Patienten im vierten Stockwerk ins Gedächtnis zu rufen.
Unbewußt hatte er seine Schritte verlangsamt. Nun zuckte er mit einem Schuldbewußtsein ungeduldig die Schultern und nahm ärgerlich seine vorübergehende Torheit zur Kenntnis. Es war gegen seine Prinzipien, sich – für länger als einen Augenblick – durch ein hübsches Gesicht ablenken zu lassen. Er hatte das Mädchen seit langem aus seinem Gedächtnis verbannt. Er würde es wieder tun. Es durfte ihm nichts bedeuten. Zweifellos hatte nur das exotische Äußere seine Erinnerung gefesselt? Wer und was war das Mädchen? Bestimmt eine Ausländerin, doch war es schwer, sie in irgendeine Kategorie einzureihen. Kaukasierin? Bestimmt! Europäerin? Wahrscheinlich nicht. Sie hatte keinen Akzent, weder einen französischen noch einen spanischen oder italienischen. Keine Romanin, dazu war sie zu ruhig. Russin? Nein. Aber woher stammte nur die höfliche Verbeugung?
Nun stand er vor der Tür, wo er das Mädchen getroffen hatte, stieß sie auf, schritt durch, ließ sie langsam wieder los, verharrte, noch immer in Gedanken versunken, einen Augenblick am Fenster. Dann, ganz plötzlich, kam ihm eine Erleuchtung, und er lächelte.
»Nein, so was!« flüsterte er. »Hol mich der Teufel!«