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Dreizehntes Kapitel

Jack hatte von Audrey im Hotel kurz nach vier Abschied genommen. Sie bestand darauf, daß er sie am Abend nicht abholen solle. Sie würde mit einem Taxi gegen sieben kommen, damit er Zeit für seine Arbeit in der Klinik und zum Umziehen habe.

Um halb sieben war er bereits fertig. Er schritt im Wohnzimmer auf und ab, blieb immer wieder stehen, um einen Sessel geradezurücken, ein Kissen zu glätten, Bücher ordentlich nebeneinanderzureihen. Die Zeit schlich träge dahin. Er freute sich, als er feststellte, daß die Uhr auf dem Kaminsims zwei Minuten nachging.

Abbott und dessen chinesischer Helfer waren in der winzigen Küche beschäftigt. Abbott hatte Dr. Beaven energisch klargemacht, daß seine einzige Verpflichtung im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Dinner darin bestünde, in nichts dreinzureden. Ein Hauch des Geheimnisses schwebte über diesem Walten, und Jack nahm an, er werde in seinem improvisierten chinesischen Haushalt um so beliebter sein, je weniger Fragen er stellte.

Als es sieben schlug, stand er nervös am Fenster und blickte auf die Straße hinab. Es währte nicht lange und er sah ein Taxi kommen, das nach einer Kurve vor dem Haus hielt. Er sah flüchtig einen weißen Mantel, wandte sich vom Fenster ab und ging zur Wohnungstür, um das Signal von unten zu erwarten. Der Lift rasselte, die Metalltür knarrte, die Glocke läutete: Lan Ying stand da, schritt auf ihn zu, durch seine Tür, in sein Heim. Als Jack sie begrüßte, öffnete sie die Lippen zu einem glückseligen Lächeln. Es war ein wundervoller Augenblick.

Während er ihr aus dem schönen weißen Mantel half, drehte sie sich um. Seine Hand berührte ihre Wange. Ihn über die Schulter anblickend, sagte sie: »Zu diesem Kleid hätte ich einen Mandarinmantel tragen sollen, Jack, aber es wäre zu auffallend gewesen.« Er legte den pelzverbrämten Mantel beiseite und schaute Lan Ying mit aufrichtig bewundernden Blicken an. Ihre Schönheit wirkte so exotisch, daß er einen Augenblick lang nichts zu sagen vermochte. Kostbarer Brokat, eine mit Schnüren besetzte, enganliegende Jacke, ein gutsitzender, reichbestickter Kragen, der ihren weißen Hals umschloß, ein langer, enger Rock aus dem gleichen Stoff, unter dem die Spitzen schwarzer Seidenpantoffeln vorlugten, absatzlose Pantoffeln – denn als sie in Jacks Augen blickte, erschien sie viel kleiner als sonst. Als einzigen Schmuck trug sie herabhängende Jaspisohrringe.

»Nun?« fragte Lan Ying und schüttelte langsam den blauschwarzen Kopf. »Du sagtest, ich soll …«

»Ja, Liebste.« Endlich fand er Worte. »Wunderschön. Ich habe dich noch nie so reizend gesehen.«

»Und ich habe mich in deiner Anwesenheit noch nie so behaglich gefühlt. Es ist ein freundliches Kleid, Jack. Ich bin froh, daß ich dir darin gefalle.«

Er führte sie zum Feuer, das fast zu stark brannte, und zeigte auf einen riesigen braunen Lederfauteuil, den sie mit einem neckischen Lächeln zurückwies.

»Der ist viel zu groß«, meinte sie. »Außerdem mußt du mir erlauben, dein Heim zu besichtigen. Es ist so hübsch, Jack. Hast du einen Hund oder eine Katze oder einen Kanarienvogel oder eine Biene – oder lebst du hier ganz allein?«

Jack hängte ihren Mantel in der Halle auf. Als er zurückkam und sie an seinem Schreibtisch sitzend sah, empfand er ein seltsames Gefühl. Sie blickte auf. »Ich fühle mich hier wie zu Hause, nicht wahr? Hier sitzest du, wenn du mir die lieben Briefe schreibst.«

Er stand hinter ihr und betrachtete sie mit verliebten Blicken. Dann berührte er ihre Schulter, die sie leicht hob.

»Früher habe ich nie gern Briefe geschrieben«, sagte er.

»Das ist wohl Jean?« fragte sie und stand auf, um die Familienbilder zu betrachten. »Sie sieht dir sehr ähnlich, Jack. Nur, daß sie nicht so – so ernst ist. Wird sie dich vielleicht eines Tages besuchen?«

»Vielleicht«, gab er neckend zurück.

»Wirst du mich einladen, wenn sie hier ist?« Ihr bittendes kleines Nicken ließ Lan Ying sehr kindlich erscheinen.

»Ja, wir werden ein Essen geben. Ich glaube, meine Schwester wird dir gefallen. Das hier ist meine Mutter. Ich erzählte dir doch, sie starb, kurz bevor ich hierher an die Universität kam.«

Lan Ying schob teilnahmsvoll die kleine Hand unter seinen Arm.

»Das wird auch die Ursache meines ersten Zusammenstoßes mit Dr. Forrester gewesen sein«, erklärte Jack. »Ich war geradeswegs vom Begräbnis meiner Mutter gekommen. Sie war sehr fromm. Und als Tubby seinen säuerlichen Spott über den orthodoxen Glauben ausschüttete, war ich keineswegs bereit, dies belustigend zu finden. Meine Mutter hatte alle ihre Karten auf die buchstäbliche Wahrheit der alten Legenden gesetzt. Und ich weiß, daß dies für sie einen großen Trost bedeutet hatte.«

»Wie schade, daß Dr. Forrester das nicht wußte. Vielleicht wäre er dann freundlicher gewesen. Weißt du, was ich glaube?« fragte sie unvermittelt. »Dieser Tubby ist sehr religiös, sehr sentimental. Aber er hat Angst, es könnte ihn zu einem Schwächling machen. Er leugnet es sich selbst gegenüber, um ein großer, starker Mann sein zu können.« Lan Ying zog auf drollige Art das Gesicht in die Länge, sprach mit tiefer Stimme und stellte sich, ergebnislos den großen, starken, harten Mann mimend, auf die Zehenspitzen. Jack lachte. Sie aber fuhr fort:

»Mein verehrungswürdiger Pflegevater sagte mir häufig, ein Mann, der gern prahlt und recht großsprecherisch ist, versucht sich einzureden, daß er kein Feigling sei. Gibt er vor, sehr hart zu sein, so fürchtet er sich vor der eigenen Güte.« Sie blickte eine Sekunde lang fragend in Jacks Augen. »Ist es nicht möglich, daß dieser Tubby mit dem eigenen Herzen im Kampf liegt?«

»Daran habe ich noch nicht gedacht. Sollte es stimmen, so gelingt es ihm sehr gut, seine Gefühle zu beherrschen.« Dann, sich der einzigen Gelegenheit erinnernd, da er Tubby bei einer sentimentalen Regung ertappt hatte, erzählte er Lan Ying die komische Geschichte von Nancy Prentiss' Baby und spielte ihr die kleine Szene vor. Er war erstaunt über den Ernst, mit dem Audrey ihm zuhörte. Sie lächelte zwar, doch war ihr anzusehen, daß sie die kleine Geschichte mehr bedeutsam als komisch finde. Sie machte eine nur gerade angedeutete, verständnisvolle Gebärde.

»Das erklärt alles«, meinte sie ernst. »Dein Tubby hat vor seinem eigenen Herzen Angst. Er glaubt, ein Mensch könne nicht gleichzeitig Gefühle haben und ein guter Wissenschaftler sein. Wahrscheinlich ist er ein wenig verrückt, nicht wahr?«

Jack blickte auf ihre Lippen und nickte. Wollte Lan Ying annehmen, daß Tubby verrückt war, so war er damit einverstanden. Er selbst hatte es ja auch oft genug gedacht.

»Er mag in einer gewissen Beziehung verrückt sein«, gab er zu. »Aber er ist ein großer Wissenschaftler.«

»Das verstehst du besser«, sagte Lan Ying ehrfurchtsvoll. Sie betrachtete eben eingehend das Bild, das Jacks Mutter darstellte. »Ich glaube, sie muß viel gelitten haben, Jack.«

»Aber nicht, als dieses Bild aufgenommen wurde, Liebste. Später ja. Was du auf diesem Bild siehst, ist nicht Leiden, sondern religiöses Pflichtgefühl.«

Lan Ying sah ihn forschend an und wandte sich abermals dem Foto zu.

»Es ist der gleiche Mund«, sagte sie. »Ein energischer Mund, Jack.«

»Das Leben meiner Mutter«, erklärte er, sorgfältig nach jedem Wort suchend, »ermangelte völlig aller kleinen Zerstreuungen und Unterhaltungen, die die meisten Menschen zu ihrem Glück brauchen. Sie war der Ansicht, Gottesfurcht und das Befolgen der Gebote füllen ein Leben aus. Sie hat sich nie unterhalten. Außer ihrer Arbeit kannte sie nur die Religion.«

Lan Yings Augen glänzten verständnisvoll.

»Ich glaube, das hast du bereits als kleiner Junge bemerkt und beschlossen, mit der Religion nichts zu tun zu haben, weil diese deine Mutter unglücklich machte. War es so?«

»Jedenfalls bin ich mit der Überzeugung aufgewachsen, daß die Ausübung der Religion eine harte, unerfreuliche Sache ist.«

»Aber der energische Mund ist dir geblieben«, fuhr Lan Ying fort. »Du brauchtest einen Herrn, dem du mit deinem ganzen Herzen, deinem ganzen Verstand und mit allen deinen Kräften dienen konntest; deshalb wurdest du ein Jünger der Wissenschaft. Das erklärt viel.«

Jack hätte es lieber gesehen, wenn dieses Thema nicht berührt worden wäre.

»Ich bin nicht überzeugt«, sagte er, zur Verteidigung übergehend, »daß das Leben meiner Mutter ausgesprochen unglücklich war. Ich glaube, sie hat in der Erfüllung ihrer religiösen Pflichten eine große Befriedigung gefunden. Dies war das Ziel ihres Lebens. Alles andere erschien ihr belanglos. Als Jean und ich halb erwachsen waren, brachten wir bisweilen Grammophonplatten mit Schlagern heim. Hatten wir sie gespielt, so hörten wir die Mutter – sie hatte eine schöne Stimme – seltsame und wehmütige Lieder singen, wie etwa: ›Laßt uns schaffen, bis Jesus kommt!‹«

Jack runzelte die Stirn. Er war bemüht, sich an die Worte des Liedes zu erinnern. Lan Ying betrachtete ihn verwirrt.

»Eine der Strophen lautete: ›Die Welt, die ist ein Jammertal, die Welt ist nicht mein Heim. Wir wollen schaffen, schaffen, bis Jesus kommt, wir wollen schaffen, schaffen, bis Jesus kommt und uns heimführt.‹ Jean und ich pflegten darüber zu lachen. Nachher schämten wir uns und versuchten es wiedergutzumachen, indem wir der Mutter im Hause halfen.«

Lan Ying lächelte über die Erinnerung, dann meinte sie, wieder ernst geworden: »Freilich klingt all das nicht gerade verlockend, aber – schließlich bestand doch die Hoffnung auf einen guten Lohn am Ende des Lebens. Deine Mutter erwartete, nach all der schweren Arbeit in die Heimat zu gehen. Bei dir hingegen, bei dir …« Sie zögerte, schob die Brauen hoch, suchte nach den rechten Worten.

»Ja«, ermutigte Jack sie, »bei mir …?«

»Bei dir gibt es keinen verheißenden Lohn, weder hier noch anderswo. Nur harte Arbeit, Tag um Tag. Andern Menschen wird geholfen, ihre Leiden werden geheilt, ihre Krankheiten kuriert. Aber – der arme Jack erhält keinen Lohn. Er kennt die Menschen selbst nicht, weiß nur um ihre Krankheiten und Verletzungen. Nein«, fügte sie nach einer versonnenen Pause hinzu, »ich glaube, deine Mutter war glücklicher, als du es bist. Sie arbeitete, aber sie wußte, daß sie die Heimat gewinnen würde.«

»Sie hat es verdient«, meinte Jack sanft. »Wir wollen hoffen, daß sie heimgelangt ist.« An seinem Ton war zu erkennen, daß das Thema für ihn erledigt war. Lan Ying erriet seine Stimmung, nickte und wandte sich lachend weniger ernsten Dingen zu.

»Es ist serviert«, meldete Abbott, im Türrahmen erscheinend. Lan Yings Augen weiteten sich vor Staunen.

»Es scheint ein chinesisches Essen zu sein«, sagte sie. »Du allein bist eine Ausnahme. Ich hätte ja doch den Mandarinmantel mitbringen sollen. Du hättest ihn tragen können.«

Er zog ihren Sessel zurück und beobachtete mit inniger Besitzerfreude, wie sie sich an den Tisch setzte. Dann nahm er ihr gegenüber Platz. Einen Augenblick lang herrschte verlegenes Schweigen. Jack überließ sich der angenehmen und zugleich schmerzlichen Illusion, daß sie in ihrem Heim beim gewohnten Dinner beisammen säßen. Lan Ying mochte dies in seinen Augen gelesen haben: das verträumte Lächeln auf ihren Lippen hieß den Gedanken willkommen und erklärte ihn ebenso rasch für hoffnungslos. Sie hatte einen sehr ausdrucksvollen Mund.

Sie beugte sich vor und sog den Duft des vor ihr stehenden Gerichtes ein. Abbott stand hinter ihr und bot Reiswaffeln an. Lan Ying sah ihn an und sagte leise und rasch einen langen Satz. Abbott verbeugte sich ehrfurchtsvoll und antwortete. Jack fühlte sich für einen Augenblick verwirrt und ausgestoßen. Lan Ying beeilte sich, mit zitternder Stimme eine Erklärung zu geben.

»Verzeih, Jack«, sagte sie leise. »Aber – weißt du, was das ist?«

»Es schmeckt nach Orangen, nicht wahr?« Er sprach absichtlich in lässigem Ton. »Ich nehme an, eine Art Orangensuppe, falls es so etwas gibt. Ich hatte nie früher eine solche Suppe gegessen. Ist sie so zubereitet, wie du es gern hast?«

»Köstlich. Die erste Orangensuppe, seitdem ich China verlassen habe. Sie erweckt Erinnerungen an mein Heim, Jack. Vielleicht hätte ich nicht mit deinem Diener sprechen sollen. Ich hatte völlig meine Manieren vergessen und ihm gesagt, wie ich mich über die Suppe freue.«

»Es dauert anscheinend recht lang, das auf chinesisch zu sagen«, meinte Jack mit listigem Lächeln. Lan Ying errötete leicht.

»Ich fürchte, ich habe ihn auch gefragt, ob Dr. Beaven wirklich gerne chinesische Speisen esse oder ob er sie nur mir zuliebe zubereiten ließ.«

»Und was sagte Abbott?«

»Abbott?«

»Ja. Als er herkam, hieß er Ng. Er hat seinen Namen auf Abbott geändert.«

»Wie komisch!« Lan Ying lachte heiter. »Weshalb hat er gerade diesen Namen gewählt? Erzähl mir von ihm«, bat sie. »Er wirkt gar nicht wie ein Diener.«

Jack zögerte und dachte an sein Versprechen. Er sah ein, daß Abbotts geheimnisvoller Name eine Erklärung fordere.

»Wenn er wiederkommt, kannst du ihn fragen, ob er etwas dagegen habe, daß ich es dir sage.«

Abbott betrat von neuem das Zimmer, trug die Suppe ab und brachte eine wundervolle Speise, die aus zu Medaillons geformten Lotosblumen bestand, die zusammen mit Ente und Krabben gedünstet worden waren. Lan Ying stieß einen leisen Ruf des Staunens und der Freude aus.

Während Abbott ihr servierte, ließ sie einen Redeschwall auf ihn los, der Jack wie ein einziges, aus zweihundertsechsundneunzig Silben bestehendes Wort erschien. Sie wandte sich sofort ihrem Gastgeber zu und sagte: »Ich weiß, daß du mir verzeihen wirst, wenn ich einen Augenblick in meiner eigenen Sprache rede.« Abbott, etwas verlegen, sagte nichts. Er servierte jetzt Jack.

»Wenn Sie wollen, Sir, dürfen Sie es der Dame sagen«, erklärte er.

Jack lüftete den Schleier des Geheimnisses, und Lan Ying hörte mit großer Aufmerksamkeit zu.

»Ob er wohl«, fragte sie, »von meinem Pflegevater gehört hat? Der gute Sen Ling hat sich sehr für das Medizinstudium unserer jungen Männer interessiert.«

»O ja«, gestand Jack unvorsichtig. »Er weiß von Sen Ling.«

»Wie seltsam, daß er es gerade dir erzählt hat.« Lan Yings Lippen verzogen sich zu einem geheimnisvollen Lächeln, und nun war an Jack die Reihe, verlegen zu werden.

»Weißt du«, stammelte er, »es war … verstehst du …«

Lan Ying nickte.

»Ja«, kam sie ihm zu Hilfe. »Ich glaube, ich verstehe.«

»Abbott und ich sprachen einmal ausführlicher über China und das chinesische Interesse für die moderne medizinische Forschung, und dabei fragte ich zufällig, ob er je von Sen Ling gehört habe.«

»Aber von mir hast du ihm wohl nichts gesagt.« Lan Ying schüttelte in Erwartung einer bejahenden Antwort den Kopf.

»Er hat es aus mir herausgeholt«, gestand Jack. »Ihr Chinesen habt das Talent, alles zu erfahren, was ihr wissen wollt. Und zwar auf sehr höfliche Weise.«

Diese Ansicht belustigte Lan Ying.

»Du hast recht«, gab sie zu. »Der Chinese entwaffnet einen durch seine große Höflichkeit und erreicht – indirekt –, was er will. Vielleicht fallen mir einige Beispiele ein.« Ihr Gesicht erhellte sich. »Ich will dir eine Geschichte erzählen, die wir daheim sehr gern hörten. Der junge Sen hatte gebeten, nach England geschickt zu werden, um dort zu studieren. Der Vater erwiderte ihm: ›Du hast noch zuwenig Erfahrung. Bist nur ein Junge. Wie willst du in deinem Alter unter Ausländern weiterkommen?‹ Der junge Sen sagte: ›Ich bitte den verehrungswürdigen Vater, seinen unerfahrenen Sohn auf dessen Verstand hin prüfen zu lassen.‹ Sen Ling erklärte: ›Gut. Versuche, mich durch deinen Verstand aus diesem Zimmer zu entfernen.‹ Der junge Sen senkte den Kopf und versank in Gedanken. Dann sagte er: ›Es ist schwer, verehrungswürdiger Vater. Aber – wenn Sie aus dem Zimmer gehen wollten, dann wird es, so glaube ich, mir gelingen, Sie durch meinen Verstand wieder hereinzubringen. So!‹«

Jack bewunderte die Art, wie ihre Lippen sich um das entschlossene »So« wölbten, und ehe sie fortfuhr, straften diese Lippen sein neckendes Lächeln mit einem Schmollen.

»›So.‹ Sen Ling erklärte sich einverstanden und verließ das Zimmer. Als er in der offenen Tür stand, erhob der junge Sen sich und sagte mit einer Verbeugung: ›Mein verehrungswürdiger Vater, Sie haben mich aufgefordert, Sie durch meinen Verstand aus diesem Zimmer zu entfernen. Ich melde gehorsamst, daß Sie es eben verlassen haben.‹ Ist das nicht köstlich?« Sie lachte übermütig. »Typisch chinesisch.«

Abbott kam mit Jasmintee, gezuckerten Kumquats und Sesamsamenkuchen. Lan Yings Erzählung hatte Jack so belustigt, daß er nicht einmal beachtete, was aufgetragen wurde.

»Sen Ling muß sich recht töricht vorgekommen sein«, meinte er.

»Nein, Sen Ling war sehr stolz. Es war für ihn ein Freudentag, denn sein Sohn hatte einen scharfen Verstand bewiesen. Bei solchen Anlässen erstrahlt in China die Schönheit des Vater-Sohn-Verhältnisses im hellsten Licht. Der Vater ist nicht eifersüchtig auf seinen Sohn, und deshalb sagt dieser hinwiederum mit Stolz: ›Mein verehrungswürdiger Vater.‹ Der gute Sen Ling äußerte häufig, daß diese gegenseitige Hochachtung zwischen Eltern und Kindern aus China, soweit es das Innenleben betrifft, eine unzertrennliche Einheit geschaffen habe. Er war erstaunt, daß die Christen auf diese Bindung nicht mehr Wert legen, und das um so mehr, da ja deren großer Lehrer gesagt hat: ›Ich bin im Vater, und der Vater ist in mir.‹«

»Dein guter Sen Ling scheint in der christlichen Lehre recht bewandert zu sein«, bemerkte Jack.

»Ja«, pflichtete Lan Ying ihm bei. »Er ist nicht religiös im Sinne der Priester, die für die Tempel Sammlungen veranstalten; er vertritt den Standpunkt, daß alle guten Menschen der Welt, überließe man sie sich selbst, ungefähr nach den gleichen Prinzipien leben würden. Da aber die Priester gezwungen sind, für ihre Tempel Sammlungen zu veranstalten, verkünden sie, daß ihre eigene Religion die einzig wahre sei. Nicht etwa, daß sie ihre eigene Religion verbesserten, damit sie erhabener erscheine als die der andern, nein, sie schwächen nur die andern Religionen, damit im Vergleich zu diesen die ihre gut erscheine. Mein Pflegevater, der ein Laie war, konnte all dies ganz gut vorurteilslos betrachten, da er ja für keinen Tempel sammeln mußte.«

»Jedenfalls verurteilt diese Ansicht alle einander bekämpfenden Sekten«, sagte Jack. »Ob wohl Sen Ling bis zur Wurzel des Übels vorgedrungen ist? Nimm die konstruktiven Idealisten aller Länder. Sie haben die gleichen Gedanken, sie sind für Frieden, gegenseitiges Verständnis, soziale Gerechtigkeit, ein edles Leben, doch werden sie voneinander ferngehalten, weil die Priester …« Er blieb unvermittelt in seiner improvisierten Rede stecken.

»Der große Buddha«, sagte Lan Ying, »hat nichts Materielles aufgebaut. Seine Organisation beschränkte sich auf die Leitung jener Menschen, die den Wahrheitspfad wandeln wollten. Der Legende zufolge fand er Gott, während er unter einem Banyanbaum meditierte. Von diesem Augenblick an war er sein Leben lang ein heimatloser Wanderer. Und auch der große Jesus hat keinen Tempel gebaut. Ich glaube, auch er hat fast immer im Freien gelebt, nicht wahr? Sen Ling sprach häufig über diese Dinge. Er pflegte zu sagen: Dieser Jesus wußte, in welchem Maße die Tempel das religiöse Streben beeinträchtigen. Ich hörte ihn die Geschichte erzählen, daß Jesus Leuten aus einer andern Provinz, die wissen wollten, in welchem Tempel sie Gott anbeten sollen, gesagt hatte: ›Es kommt die Zeit, da ihr weder auf diesem Berg noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten – Gott ist Geist …‹«

Eine kleine Pause trat ein, ehe Jack antwortete. Er hatte seit langem nicht mehr an diese Sätze gedacht. Nun, da sie aus China kamen, schien ihnen eine neue Bedeutsamkeit zu eignen.

»Dein Sen Ling meint also, daß die Tempel, alle Tempel in allen Ländern, ein Hindernis für den praktischen Nutzen der Religion darstellen?« Seine Augen forderten eine Bejahung.

»Vielleicht bin ich nicht berechtigt, dies im Namen meines Pflegevaters zu beantworten«, erwiderte Lan Ying vorsichtig. »Es ist eine krasse Behauptung, Sen Ling aber ist in seinen Worten stets sehr gemäßigt.«

»Aber er glaubt, daß die Priester aller Religionen, ob sie es nun wissen oder nicht, eine Bedrohung des guten und edlen Lebens bedeuten, nicht wahr?« beharrte Jack.

»Ich glaube«, entgegnete Lan Ying langsam, »daß er sie bedauert. Er sprach oft mit Achtung, häufig mit Mitleid von ihnen. Ich glaube, er hatte das Gefühl, die meisten seien ehrlich und aufrichtig, doch hatten sie sich im Apparat des Tempels verfangen. Sie wurden von den alten Traditionen festgehalten und konnten dagegen eigentlich nichts tun.«

»Aber sie konnten doch ihren Tempel verlassen«, warf Jack ein.

»Und diskreditiert und mißverstanden werden. Das erfordert großen Mut.«

»Jesus hat es getan!« Jack staunte selbst über seine Worte.

»Ja, aber nicht für lange. Und nicht alle Menschen sind so tapfer.«

Jack überlegte, ob Priester ebenso tapfer zu sein hätten wie Soldaten, und verlieh diesem Gedanken Ausdruck.

»Ein überzeugter Priester müßte, wenn es not tut, bereit sein, sein Leben zu opfern. Findest du nicht auch, Lan Ying?«

»Vielleicht. Doch gibt es viele, die lieber ihr Leben als ihr Gesicht verlieren.«

»Du willst sagen, innerhalb ihrer Organisation des Tempels?«

»Wenn der Ärzteberuf grobe Fehler machte, Jack, würdest du dein Doktordiplom zerreißen und fortgehen? Und wenn ja, was geschähe mit dir? Vielleicht würden die andern Ärzte dir das Leben sehr sauer machen. Und auch die übrigen Menschen. Sie würden das Vertrauen zu dir verlieren – und du verlörst dein Gesicht. Vielleicht gilt dasselbe für die Priester und ihre Tempel. Sen Ling meinte häufig, er sehe keine Lösung dieses Problems.«

»Und was glaubst du, Lan Ying?«

Sie hob leicht die Schultern und schüttelte den Kopf.

»Weshalb muß ich darüber eine Ansicht haben? Gibt es in meinem Leben nicht genug kleine Sorgen und Widerwärtigkeiten, ohne daß ich mir auch noch darüber den Kopf zerbrechen muß? Vielleicht haben alle Menschen dieses Gefühl.«

»Mir genügt das Laboratorium als Tempel«, erklärte Jack befriedigt. »Ich behaupte nicht, daß unser Laboratorium besser ist als irgendein anderes, noch aber, daß die Arbeit, die in anderen Laboratorien geleistet wird, keinen Sinn habe. Tatsächlich weiß ich, daß es weit bessere gibt, und wünschte, unseres verbessern zu können.« Er lachte trocken und fügte hinzu: »Was sagst du, Lan Ying, zu dieser Einstellung der Konkurrenz gegenüber?«

Sie sah ihn mit versonnenen Augen an.

»Vielleicht kommt einmal die Zeit, Jack«, antwortete sie dann sanft, »da das Gesuchte weder in deinem noch in einem anderen Laboratorium gefunden wird. Vielleicht ist auch die Wissenschaft ein reiner Geist, ich weiß es nicht.« Sie seufzte, als wolle sie sich selbst einen Vorwurf machen. »Ich sprach zuviel – und über Dinge, von denen ich nichts verstehe. Bitte verzeih mir.«

»Im Gegenteil, Liebste.« Jacks Stimme klang beruhigend. »Du hast einen sehr methodischen Verstand, und was du sagst, ist von großer Wichtigkeit. Vielleicht vermag ich dir nicht ganz zu folgen. Was du eben sagtest, die Wissenschaft als ›reiner Geist‹ – willst du mir das nicht genauer erklären?«

»Es ist sehr schwer.« Ihre zusammengekniffenen Augen verrieten, wie angestrengt sie nachdachte. »Ich weiß nicht recht, was ich eigentlich sagen will. Wir sprachen von Gott als von einem Geist. Er bedarf keines Hauses, keiner Mauern, keines Apparates. Vielleicht ist es gut, herrliche Tempel zu bauen, in denen die Menschen, von Schönheit umgeben, in der Stille meditieren können. Tempel, von Hebenden Händen wunderbar geformt. Aber Gott ist nicht auf den Tempel beschränkt. Er kann auch anderswo gefunden werden, denn Er ist ein Geist. Du sagtest, die Wissenschaft sei dein Gott und das Laboratorium dein Tempel. Gut, aber …« Sie verstummte verwirrt und hilflos und flüsterte schließlich: »Ich weiß nicht …«

»Ich ahne, was du sagen willst, Lan Ying. Buddha und Jesus fanden Gott in der Natur, unter einem Baum auf der Straße, bei einem Wasserfall, auf einem Berg, in einer Blume. Das klingt schön und leuchtet jedem Heiden ein. Buddha und Jesus erstickten in den alten Tempeln. Auch wir Wissenschaftler ersticken in den Laboratorien. Aber unser Fall liegt anders. Wir müssen, ob wir wollen oder nicht, dort bleiben, weil dort unsere Forschungsinstrumente sind. Unser Gott kennt keine Gefühle und anerkennt auch die unsern nicht. Er anerkennt nur Tatsachen und achtet uns nur, solange wir uns ebenfalls ausschließlich an Tatsachen halten.«

»Vielleicht sind auch Gefühle Tatsachen«, warf Lan Ying ein. »Vielleicht wäre es dem Gott der Wissenschaft ganz recht, wenn ihr euch auch damit befaßtet.« Sie lächelte heiter, um anzudeuten, daß sie bereit sei, dieses ernste Thema fallenzulassen. Jack war darüber froh.

»Möchtest du nicht lieber heißen Tee?« fragte er. »Ich fürchte, Abbott hat ihn lau aufgetragen.«

»Er ist ausgezeichnet. Tee darf nicht heiß serviert werden. Die Hitze zerstört das Aroma.«

»Du hast bestimmt einen empfindlicheren Gaumen als ich, Lan Ying. Ich glaube übrigens, das mit der Empfindsamkeit trifft auf alles zu. Ich wünschte, ich besäße deine Nervenreaktion, deine große Sensibilität. Glaube es mir, ich könnte sie beim Mikroskop gut gebrauchen.«

Lan Ying lächelte nachsichtig, legte die Serviette fort und gab keine Antwort.

»Wollen wir ins Wohnzimmer gehen?« schlug Jack vor.

»Werden wir Mr. Abbott noch sehen?«

»Kaum. Soll ich ihn rufen?«

»Ja, bitte.«

Jack läutete, und Abbott erschien mit einer Verbeugung.

»Miss Hilton möchte mit Ihnen sprechen«, sagte Jack.

»Wann kehren Sie nach China zurück?« fragte Lan Ying.

»In zwei, drei, vier Jahren. Ich weiß es nicht«, antwortete Abbott. »Ich habe keine Pläne.«

»Wenn Sie wieder daheim sind, würde es Ihnen viel Mühe bereiten, meinen Pflegevater Sen Ling in Hongkong aufzusuchen und ihm die Grüße seiner unwichtigen Tochter zu überbringen?«

»Es wäre für mich eine große Ehre.« Abbott verbeugte sich tief.

»Sen Ling interessiert sich sehr für Ärzte, Sie hätten vielleicht Freude an seiner Bekanntschaft.«

»Sie würde für mich eine große Ehre bedeuten. Danke, Miss Hilton.«

Lan Ying erhob sich und machte eine Verbeugung, als sei Abbott ein Prinz, doch wurde ihre Verbeugung von der seinen noch übertroffen. Jack folgte mit Interesse der feierlichen Zeremonie. Dann wurden die beiden, ihn völlig ignorierend, mit einem Male ganz chinesisch. Lan Ying sprach einen Satz, der mit unendlicher Liebenswürdigkeit ein Abschiednehmen bedeuten mochte, und Abbott gab ihn voller Würde zurück.

Lan Ying betrat vor Jack das Wohnzimmer. Ihre Wangen waren rosig, sie schien ein wenig befangen. Über die Schulter bückend, erklärte sie: »Wir haben einander adieu gesagt.«

»Das habe ich erraten. Wie sagt man adieu auf chinesisch?«

»Ich sagte ihm, ich hoffe, daß er, nach langer Zeit, in Frieden bei seinen Ahnen ruhen werde.«

»Und er hat dir wohl ungefähr das gleiche gesagt?«

Sie gab keine Antwort, sondern schritt durch das Zimmer und las die Titel seiner Bücher. Allem Anschein nach suchte sie nach einem Gesprächsthema. Jacks Neugierde erwachte. Er gestand es ihr.

»Er war sehr höflich, Jack, aber er wünschte mir nicht, bei meinen Ahnen zu ruhen, wie sich das geziemt hätte. Er wünschte mir … Es war ein schöner, aussichtsloser Wunsch …

Ich sehe, du hast die Biographie des großen Arztes Osler. Kann ich sie lesen, oder ist sie zu schwer für mich?«

Jack legte seine Hand auf ihren Arm.

»Was hat Abbott dir gewünscht?« fragte er sanft.

Lan Ying schüttelte den Kopf und beschäftigte sich weiter mit den Büchern.

»Willst du es nicht sagen?« beharrte Jack.

»Nein – bitte nicht.«

»Hat es – hat es etwas mit mir zu tun?‹

»Mit uns«, flüsterte sie kaum hörbar.

Jack zog sie an sich.

»Vielleicht hat er dir gewünscht, daß wir zusammen bleiben, für immer.« Jacks Stimme war nicht ganz fest. »War es das, Liebste?«

»Etwas Ähnliches«, flüsterte Lan Ying.

Es war ein wundervoller Augenblick, sie standen eng umschlungen.

»Das ist auch mein Wunsch, Liebling«, sagte Jack tief bewegt.

Als er Lan Yings Kinn heben und einen Kuß auf ihre Lippen drücken wollte, hielt sie eigensinnig den Kopf gesenkt. Einen Augenblick schmiegte sie ihn an Jacks Brust, dann glitt sie langsam aus seinen Armen.

»Wir wollen es einander nicht zu schwer machen, Jack«, bat sie und blickte ernst in sein Gesicht. »Wir dürfen unserm Vorsatz nicht untreu werden.«

»Ich hatte ihn vergessen.« Jacks Stimme klang belegt: »Lan Ying – Lan Ying …«

Das schrille Klingeln des Telefons ließ beide zusammenfahren. Jack runzelte die Stirn.

»Laß sie klingeln«, sagte er unschlüssig.

»Geh an den Apparat«, empfahl Lan Ying; »es könnte ja etwas Wichtiges sein.«

Zögernd kam er ihrer Aufforderung nach.

»Ja, Dr. Beaven am Apparat! – Ja, Miss McFey? – Oh! – Sie deliriert? – Wie hoch ist die Temperatur? – Viel zu hoch! – Ja, ich komme sofort!«

Er wandte sich Audrey zu. »Hol's der Teufel, Lan Ying, ich muß in die Klinik! Eine von Tubbys Patientinnen. Ich würde dich gern bitten, hier auf mich zu warten, aber es kann die ganze Nacht dauern. – Jetzt siehst du, was für ein Leben ich führe.«

»Das macht nichts, Jack. Es bleibt nichts anderes übrig. Geh nur sofort! Kannst du für mich ein Auto rufen?«

»Ich bringe dich zum Hotel.«

Er holte ihren Mantel. An der Tür, die Hand bereits an der Klinke, wandte Jack sich plötzlich ihr zu und breitete die Arme aus. Lan Ying lag an seiner Brust, ehe sie sich dessen bewußt wurde. Sie versuchte nicht, sich freizumachen.

»Ich kann nicht fortgehen, mein Herz«, flüsterte er fast wütend. »Wir haben einander noch so viel zu sagen.«

»Vielleicht ist es besser so, Jack. Es war so schön hier. Ich danke dir, daß du so gut zu mir warst. Ich werde daran immer mit Freude denken.«

Sie schlug die Augen zu ihm auf, und er küßte sie.

»Du hast doch gesagt, daß wir es nie mehr tun dürfen!« flüsterte Lan Ying.

»Ich weiß es, Liebling. Wir dürfen es nicht.« Er küßte sie abermals, und sie schlang die Arme um seinen Hals. Für einen Augenblick versank die ganze Welt, und nur sie beide lebten.

Lan Ying küßte ihn sanft und ließ die Arme sinken.

»Komm!« flüsterte sie atemlos. »Du wirst in der Klinik gebraucht. Wir müssen gehen.«

Er ließ sie nicht los.

»Das Leben ist grausam«, flüsterte er.

Sie legte ihre kleine kühle Hand zärtlich auf seine Wange.

»Nein«, sagte sie mit einem kleinen Seufzer. »Das Leben ist sehr schön, und unsere Freundschaft ist mir sehr teuer. Wir wollen dafür dankbar sein.«

 

In Dr. Forresters Laboratorium am Fenster auf dem hohen Sessel sitzend, betrachtete Jack den Abstrich, den er von dem Buckley-Mädchen gemacht hatte. Der Abstrich war leicht zu erhalten gewesen, denn der infizierte Teil hatte einen starken Abfluß.

Dr. Beaven machte sich Sorgen um Martha Buckley. Wenngleich ihre Temperatur seit gestern etwas zurückgegangen war, so war sie dennoch schwerkrank. Nichtsdestoweniger befand sich der vielversprechende junge Gehirnchirurg in einem Zustand ungewohnter Glückseligkeit. Die Erinnerung an sein jüngstes Erlebnis erwärmte und belebte ihn. Ihm war es, als lebte er in einer neuen Welt.

An diesem Morgen fiel es ihm recht schwer, sich auf ein Problem zu konzentrieren, das seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Die chemische Blutuntersuchung hatte Jack Abbott überlassen, den Abstrich jedoch wollte er selbst studieren. Die Gedanken rasten wie toll durch seinen Kopf. Während er das große Greenhough-Mikroskop einstellte, empfand er den launischen Wunsch, zwei winzige Rädchen möchten in seinen Kopf münden – über jedem Ohr eines –, mit deren Hilfe er seine Geistesverfassung ebensoleicht einzustellen vermochte wie das Mikroskop. – Es war ein rechtes Elend mit Martha Buckley – aber noch nie hatte sich für ihn etwas Wundervolleres, Erschütternderes ereignet als gestern abend in seiner Wohnung beim Abschied von Lan Ying.

Wie gut sie ihn verstand! Wer außer Lan Ying wäre imstande gewesen, ihm gegen Mitternacht durch einen Boten einen solchen Brief in die Klinik zu schicken! Auf eine Besserung hoffend, hatte er an Marthas Bett gesessen, als der Brief kam.

 

»Lieber Jack, wahrscheinlich wirst Du am Morgen Deine Patientin noch nicht verlassen können, um mich zur Bahn zu begleiten. Du hast genug Sorgen, ohne Dich um meine Abreise zu kümmern, und mir liegt ebensoviel wie Dir daran, daß Du Deine Pflicht tust. Das geht allem voran. Du brauchst es mir nicht zu sagen. Ich danke Dir für alles und werde Dir schreiben, sobald ich daheim bin.

Lan Ying«

 

Wahrlich, ein solches Mädchen konnte kein Hindernis für seinen Beruf darstellen. Lan Ying würde immer alles verstehen. Und nicht nur verstehen – von ihr durfte er die schönste kameradschaftliche Mitarbeit erwarten. Er konnte ihr getrost einen Heiratsantrag machen. Ihn im Abendanzug erblickend, hatte Miss McFey ihm ihr Bedauern und ihre Teilnahme wegen des gestörten Abends ausgedrückt, doch hatte er ihre freundlichen Worte kurz zurückgewiesen. Als er Lan Yings Brief erhalten hatte, sagte er zu Miss McFey: »Sie sind müde, gehen Sie hinunter und trinken Sie eine Tasse Tee. Lassen Sie sich getrost eine halbe Stunde Zeit. Ich bleibe hier.« Miss McFey hatte ihm herzlich gedankt und hinzugefügt: »Es ist wirklich schrecklich, daß Sie heute nacht noch kommen mußten«, worauf Jack in stolzem Ton entgegnet hatte: »Es gibt Ärgeres. Das Unangenehme an diesen dringlichen Fällen ist, daß man durch ein jähes Fortgehen andere enttäuschen muß. Aber ich habe mit Leuten diniert, die das verstehen.«

Das war für Jack eine lange Rede gewesen. Miss McFey hatte aufmerksam zugehört. Sie war leicht verwirrt und ahnte anscheinend, daß hinter seinen Worten ein Geheimnis stak. Mit glänzenden Augen hatte sie auf weitere Bemerkungen gewartet, und Jack hatte ihre Erwartungen erfüllt und hinzugefügt: »Es lohnt sich, solche Freunde zu haben. Finden Sie nicht auch?« Sie hatte eifrig genickt und die Frage bejaht. Dann hatte sie noch eine Weile gewartet, in der Hoffnung, seine ungewohnte Redseligkeit werde anhalten; er jedoch hatte unvermittelt gesagt: »So, jetzt gehen Sie hinunter und verschnaufen erst einmal!«

Nachdem sie gegangen war, las er nochmals Lan Yings Brief. Sie hatte zur rechten Zeit die rechten Worte gefunden. Er war stolz auf sie.

Am nächsten Morgen frohlockte er noch immer. Er hatte ihr ein paar Worte der Anerkennung für ihr Verständnis geschrieben und den Brief mit den Worten beendet: »Du bist ein wundervolles Mädchen, Lan Ying.« – Vielleicht, dachte er bei sich, war es besser, daß ich sie nicht an die Bahn bringen konnte. Unser Abschied war herrlich.

Er stopfte seine Pfeife, vergaß sie anzuzünden und starrte durchs Fenster zum grauen Himmel hinauf, von dem früher Schnee fiel. Jack hatte den Winter nie gemocht; schlammige Straßen, kahle Bäume und ein dunkler Himmel deprimierten ihn. Die Trostlosigkeit drang ihm bis in die Seele. Während solch sonnenloser Tage war es auch weit schwerer, die Moral der Patienten aufrechtzuerhalten, denn man fand so wenig Grund, sich aufzuraffen, um in einer so häßlichen, trübseligen Welt zu bleiben. Dazu gesellte sich auch noch das Problem der Ventilation. Kein anderes Haus bedurfte so sehr der frischen Luft wie eine Klinik. Im Winter jedoch war das Problem, frische Luft in die Säle zu lassen und gleichzeitig eine für geschwächte Organismen unumgänglich notwendige Wärme zu erhalten, fast unlösbar. Von welcher Seite auch immer man es betrachtete, für einen Arzt war der Winter lästig und langweilig.

Heute jedoch schien den Schneeflocken etwas Heiteres eigen zu sein. Sie drohten nicht mit langen muffigen, luftlosen Wochen, sondern verhießen einen passenden Hintergrund für das fröhlich brennende Feuer im eigenen Kamin. Es wird schön sein, den Wind ums Haus heulen zu hören und den Schnee vor den Fenstern herabrieseln zu sehen, wenn man die wohlige, heimelige Wärme mit einem geliebten Menschen teilte. – Jack hatte sich nun endgültig entschlossen, Lan Ying einen Heiratsantrag zu machen. Er fragte sich keinen Augenblick, ob sie »Ja« sagen werde. Dies erschien ihm selbstverständlich. Sie hatte ihre Gefühle für ihn nicht verheimlicht und würde mit Freuden bereit sein, seine Freundin »für immer« zu werden, wenn er dies wollte. Er würde seinen festen Entschluß, Junggeselle zu bleiben, aufgeben. Jetzt konnte er diesem Vorsatz untreu werden, ohne das Gefühl, seinen Lebensplan aufgegeben zu haben. Nun war ihm klar, daß Lan Ying, weit entfernt davon, ein Hindernis darzustellen, ihm zum beruflichen Erfolg verhelfen würde. Gäbe er sie jetzt auf – die Erinnerung an das Verlorene würde ihn ewig quälen. – Ja, er wollte Lan Ying so bald wie möglich heiraten und bei ihr wie vor seinem Gewissen auf keine Schwierigkeiten stoßen.

Lan Ying würde jetzt aus dem Wagenfenster die Schneeflocken betrachten. Vielleicht würde auch sie sich über sie freuen. Vielleicht teilte sie seine Gedanken und fragte sich, wie ein eigenes Heim, ein eigener Herd wohl zu gründen wären.

Jack lächelte beseligt bei der Erinnerung an den vorhergegangenen Abend. Er hatte sie geküßt – und sie ihn an ihr Abkommen erinnert. Er hatte sie nie wieder küssen wollen – und es dennoch getan. Und Lan Ying, wenngleich bereit, ihren Teil des Abkommens einzuhalten, hatte die Arme um seinen Hals gelegt und sich auf die Zehenspitzen gesteht, um geküßt zu werden. – So also stand sie zu ihrem Entschluß, daß sie nur gute Freunde sein wollen. Ein leiser Schauer der Seligkeit durchrieselte ihn. – Wie lächerlich war sein Glaube gewesen, er könne auch ohne Lan Ying leben! –

Um vier Uhr nachmittags ließ Jack die Botschaft zurück, er sei in einer dringenden Angelegenheit in die Stadt gegangen. Vielleicht war es töricht, dermaßen impulsiv zu handeln, aber er hatte nun einmal den Entschluß gefaßt.

Es konnte noch längere Zeit währen, bis er Lan Ying wiedersähe, doch war es ein Trost, sich auf dieses Ereignis zu freuen. Dann würde er den Verlobungsring in der Tasche tragen, das Symbol dessen, was sie einander bedeuteten.

Jack hatte bisher wenig Gelegenheit gehabt, den vornehmen Juwelierladen im Walton-Haus aufzusuchen, und wurde dort nicht erkannt. Er gab sich auch erst zu erkennen, als er einen Scheck auf einen hohen Betrag ausstellte.

Müde nach einem arbeitsreichen Tag in der Klinik, aber voller Stolz auf seinen neuen Besitz, saß Jack abends am Schreibtisch und hielt den schönen brillantenbesetzten Ring in der Hand. Er drehte ihn dem Lichte zu, staunte über das beim Drehen des Reifs aufflammende Orange, das flirrende Grün und das blauweiße Aufblitzen der Steine.


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