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Sechstes Kapitel

Jack Beaven hatte, wenngleich er im Rufe stand, ein herzloser Mensch zu sein, und noch nicht sein dreißigstes Jahr erreicht hatte, mehr als einen harten Kampf zwischen Kopf und Herz auszufechten gehabt. Diese Kämpfe waren meist sehr heftig, aber nur von kurzer Dauer gewesen.

Es war schön und gut, sich selbst ein ehrgeiziges Programm unermüdlicher Arbeit für die Sache der Wissenschaft aufgestellt zu haben, doch sich an die erbarmungslosen Forderungen einer Regel zu halten, das war wieder etwas ganz anderes. Nicht etwa, daß dieser Plan häufig von Revolten gefährdet worden wäre! Brachen sie aber aus, so waren sie von besonderer Heftigkeit.

An ungefähr dreihundertsechzig Tagen des Jahres war Jack stolz auf die von ihm geübte strenge Selbstbeherrschung, und er hatte allen Grund zu der Annahme, seine Opfer seien ihr eigener Lohn. Das Festhalten an seinem Ehrgeiz war eine kostspielige Investierung, doch lohnte sie. Betrachtete Jack die Durchschnittskarriere seiner Semesterkollegen, von denen nur wenige etwas Besonderes erreicht hatten, so mußte er zugeben, daß er vom Glück außerordentlich bevorzugt worden sei.

Sein rascher und durchgreifender Erfolg war zweifellos zum Teil Glückssache. Das mußte er selbst eingestehen. Jeder der freien Berufe erbrachte immer wieder den Beweis, daß von zwei Menschen, die beide gleich strebsam, fleißig und gut ausgerüstet waren, der eine rasch anerkannt und belohnt wurde, während sein Freund weiterschuften mußte, mit zäher Beharrlichkeit und ohne die geringste Aussicht auf ein Vorwärtskommen. Irgendeine kleine Eigenheit, die nichts mit dem Beruf selbst zu tun hatte, konnte hierbei der entscheidende Faktor sein, vielleicht eine schrullige Art, von der der Betreffende selbst nichts wußte, ein übertrieben freundliches Lächeln, das wie Speichelleckerei wirkte, ein unwillkürliches Verraten mangelnder Sicherheit oder ein Kräuseln der Lippen, das zu sagen schien: »So steht es um die Sache, tun Sie, was Sie wollen.«

Jack hatte Glück gehabt und fühlte Dankbarkeit. Dennoch ließ sich nicht leugnen, daß sein Erfolg hauptsächlich der eigensinnigen Entschlossenheit zuzuschreiben war, mit der er sich durch nichts von dem selbstgewählten Weg abbringen ließ. Meist ging er mit festen Schritten diesen Weg, vollkommen Herr seiner selbst und überzeugt, er habe für das bereits Erreichte keinen zu hohen Preis bezahlt. Und dabei war der Preis wirklich hoch gewesen!

Sein scharfkantiges Lebensprogramm hatte Jacks Schultern breit gemacht, sein Kinn hart, seinen Mund entschlossen, es hatte an die Schläfen bogenförmige Krähenfüße gezeichnet und die stahlblauen Augen zusammengekniffen. Jack wurde mit Worten immer sparsamer. Seine Konversation beschränkte sich auf berufliche Dinge. Niemand hätte sagen können, daß er müde sei. Sein Verhalten Untergebenen gegenüber war stets gerecht und rücksichtsvoll. Er war höflich zu den jungen Ärzten, die in der Klinik arbeiteten, zu den Pflegerinnen und Gehilfen; forderte er jedoch, daß etwas getan werde, so wurde die Anordnung in einem Ton gegeben, der klar erkennen ließ, daß der Befehl entweder ausgeführt werde oder die Person, die dies nicht tat, das Spital verlassen müsse.

Doch kamen immer wieder böse Tage und Nächte, da Beaven von dem Zweifel gequält wurde, ob das Ganze wirklich aller Mühen und Entsagungen wert sei. In solchen Zeiten blickte er spöttisch auf die persönlichen Opfer zurück, die er hatte bringen müssen, um nicht von dem beschwerlichen Weg zum Ziel abzuweichen. Wo der Durchschnittsmensch, tödlich über seine Fehler erschrocken, sich wegen seiner Faulheit und Leichtfertigkeit die bittersten Vorwürfe machte, bedauerte Jack im stillen den Mangel normaler Freuden, die ihm im Dienste des Herrn entgangen waren, der alles oder nichts forderte.

Es war ja schön und gut, in der Oper als Tenor Abend für Abend eine Arie über den unsterblichen Ehrgeiz hinauszuschmettern, Abend für Abend erhabenen Prinzipien zuliebe den Tod zu finden und – nach der großen Tragödie – fortzueilen und sich den Bauch mit Spaghetti und Chianti zu füllen; aber ohne Musikbegleitung übte dies einen weit weniger verlockenden Zauber aus.

Einsame Tapferkeit eignete sich gut für Dichter, war eine leichte Sache für den Musterschüler, der bei der Schlußfeier seine Rede zu der herzergreifenden Klimax »Excelsior« führte. Wie glatt konnte doch der unausstehlich brave Junge Longfellows klassische Verse hersagen, die den Aufstieg des jungen Helden zu Größe und Ruhm schildern. Ein kühner Kerl, dieser Jüngling mit der Fahne, der immer höher und höher stieg. »Er sah das Licht im frohen Heim« – aber er kletterte weiter und weiter. »Oh, bleib bei mir«, die Jungfrau bat, »und leg den müden Kopf an meine Brust …« Er dachte nicht daran, er sagte: »Excelsior!« – Ja, so war er … Aber am Ende der Pilgerfahrt angelangt, fühlte man ja doch Enttäuschung. »Im Zwielicht lag er kalt und weiß, leblos, doch wunderschön.« Wer beweint ihn? Der Kerl hatte ja sein Lebtag nirgends hingehört. Die Menschen, die vom Leben nie mehr verlangt hatten, als gut genährt, anständig gekleidet, glücklich verheiratet, von den Ihren geliebt und von den Nachbarn geachtet zu sein, hielten den jungen Mann mit dem steinernen Gesicht und dem hochtrabenden Banner für einen Narren.

Nachdem er sich auf seinem einsamen Weg zu Tode erschöpft hatte, brach er dann schließlich mit seinem Banner in Schnee und Eis auf dem Gipfel zusammen. Und was hatte er erreicht? – Vom Himmel her klang still und weit, als riefe ihn ein Stern: »Excelsior!«

War das nicht herrlich? Wer würde nicht freudig einsam dahinwandern, in der Hand ein Banner mit den Worten »Excelsior« oder »Gehirnchirurgie« als Devise! Wer würde nicht freudig die willkommenheißenden Lichter glücklicher Heime verschmähen, eine erfrorene Nase über das gütige Mädchen mit der gastfreudigen Brust rümpfen und schließlich auf dem Gipfel landen, steif wie eine Statue und tot wie die Königin Anna von England – aber dennoch schön, wunderschön zum Anschauen. Ein vor Frost zitternder Engel würde auf seine Pulswärmer hauchen und turteln: »Excelsior!« Eine gute Entlohnung für die Gefahren der Pilgerfahrt! Sonst würde sich niemand um den Jüngling kümmern. Und wenn im Frühling das Tauwetter kam, würde ein Bernhardiner ihn ausgraben und ein frommer Mönch rufen: »Seht! Excelsior!«

Doch verbarg Beaven aufs sorgfältigste diese Gefühle, die ihn meist im Frühsommer und während der Weihnachtsferien für ein bis zwei Tage bedrängten; sie sanken auf ihn nieder wie ein plötzlicher Nebel und erweckten in ihm verzweifelte Unruhe und wildes Bedauern.

Zum Glück hatten ihn all diese Jahre hindurch – bis heute – keine unidentifizierten, durch ein bestimmtes Fenster schimmernden Lichter verlockt. Das glückliche Heim, an dem er vorbeischritt, war ein bloßes Phantom gewesen. Die Jungfrau, die ihm zurief: »Oh, bleib bei mir!«, besaß weder Namen noch Adresse. Kein Mädchen war hübsch genug gewesen, um ihn zu beunruhigen, geschweige denn, ihn aufzuhalten. Freilich kam dies daher, daß er entschlossen war, sich nicht verlocken zu lassen. Er ahnte, daß man gegen die Liebe nur dann immun bleibe, wenn man sich von dem weiblichen Geschlecht überhaupt fernhalte. Und – er wollte ja nicht prahlen – er hatte es immer verstanden, Mädchen und Frauen auszuweichen.

Um dies zu erreichen, hatte er eine ganz eigene Technik entwickelt, deren er sich wohl ein wenig schämte und die er um nichts auf der Welt einem in dieser Beziehung noch so bedürftigen Freund anvertraut hätte. Sah er sich einem bezaubernden Lippenpaar gegenüber, so schützte er sich vor Gefahr, indem er die genaue Stelle suchte, wo der Quadratus labii superioris sich in die drei Muskelkontrollen spaltete, die bei dem reizenden Lächeln in Aktion traten. Schmollte das Mädchen unter dem abschätzenden Blick, so betrachtete er das leichte Zucken des Mentalis-Muskels an seiner Ausgangsstelle bei der Incisorengrube. Durch eine derartige geistige Sezierung wurde es ihm erleichtert, sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Jack wandte diese Maßnahme stets sehr respektvoll an und war allen Ernstes der Ansicht, daß er dem Mädchen damit einen Gefallen tue. Bemerkte er, daß es für ihn zärtliche Gefühle hegte, so bewies er ihm auf der Stelle, es vergeude seine Reize an ihn. Er mochte es nicht, daß andere seine Zeit in Anspruch nahmen, und fand, diese andern sollten ihm für die Achtung vor der ihren dankbar sein.

Diese Sezierungen stellten eine Art Versicherung dar. War man vom Schicksal dazu bestimmt worden, der Wissenschaft zuliebe Junggeselle zu bleiben, so hatte man das Recht, sich gegen Impulse zu wehren, durch die man abgelenkt werden konnte. Jack wußte genau, wie die Erinnerungen an verführerische Formen zu behandeln waren. Er stellte sie sich sofort im Operationssaal vor. »Skalpell«, flüsterte er im Geist zu der neben ihm stehenden Pflegerin. »Schwamm, Retractor, Zange, Nadeln …« In der Regel wirkte diese sichere Methode in der kürzesten Zeit.

Am Sonntagabend, nach dem zufälligen Zusammentreffen mit dem Mädchen, das Jack nicht grundlos für Audrey Hilton hielt, entdeckte er, daß er viel an sie dachte. Um sechs war er in Teddys Zimmer gegangen, um den kleinen Buben, den er den ganzen Tag nicht gesehen hatte, zu begrüßen.

»Ich hatte mir so sehr gewünscht, daß Sie heute nachmittag gekommen wären«, sagte Teddy in einem kläglichen Ton, der verriet, er fühlte sich vernachlässigt. »Lan Ying hat mich besucht.«

»Es tut mir leid, Teddy, aber ich hatte viel zu tun. Vielleicht kann ich morgen Ihre Tante kennenlernen.«

»Ich habe ihr von Ihnen erzählt.«

»Und sie hat wahrscheinlich gelacht, wie Ihre Mutter es getan hat.«

Teddy blickte ihn verständnislos an.

»Weil ich zu Ihnen Mr. King sagte«, erklärte der Arzt lächelnd.

Teddy schüttelte den Kopf.

»Nein. Das findet Lan Ying nicht komisch.«

»Sie haben es ihr also nicht erzählt?« fragte der Arzt zerstreut, während er den Arm des Kindes untersuchte.

»Er hat Ihnen den Ruf eines leidenschaftlichen Arbeiters zugelegt, Dr. Beaven«, sagte Miss McFey. »Ich glaube, Miss Hilton hat daraufhin das Gefühl, daß Sie überhaupt nie schlafen.«

»Sagen Sie ihr, Teddy, sie solle sich darüber keine Sorgen machen«, meinte der Arzt beruhigend. »Ich schlafe genug.«

Diese Nacht jedoch tat er es nicht. Er war um elf in sein Zimmer gegangen, hatte es sich in Schlafrock und Pantoffeln bequem gemacht und sich in eine Anamnese vertieft: die Krankengeschichte eines Gehirntumors, der morgen früh Punkt neun Uhr auf dem Operationstisch liegen sollte.

Er konzentrierte sich mit gerunzelter Stirn auf die Worte, die er las, und fühlte Ärger in sich aufsteigen, sooft er auf Einschiebesätze stieß, in denen Dr. Rogers von einer früheren mißlungenen Operation berichtete. »Daraufhin entfernte ich einen andern Teil der Schädeldecke an der Einschnittstelle. (Vielleicht haben sie etwas dagegen, daß man die Klinik verläßt.) Als ich die harte Hirnhaut öffnete, erblickte ich auf der linken Seite der Höhle eine runde dunkelblaue Masse, etwa 3 Millimeter im Durchschnitt – (Oh! Vielleicht darf ich das dann gar nicht! Es tut mir sehr leid.) –, die auf der linken Seitensäule und hinteren Wurzelgegend des Rückenmarks ruhte. (Ich dürfte Ihre Zeit wirklich nicht so in Anspruch nehmen, Sir.)«

Das stimmte. Jack mußte einsehen, daß diese hochgezogenen Brauen und vollen roten Lippen ihn die morgigen Pflichten vergessen ließen. Er beschloß, dem Eindringling zu Leibe zu rücken und ihm ein für alle Male den Garaus zu machen. Er warf den dicken Stoß Papiere auf den Tisch, stopfte seine Pfeife, zündete sie an und lehnte sich mit halb geschlossenen Augen weit zurück.

Jack befand sich im Operationssaal. Er nickte in die Richtung der Tür zum Zeichen, daß er bereit sei. Audrey Hilton wurde hereingefahren. Der junge Linquist befand sich am Fußende und betrat, rückwärts schreitend, den Saal. Harvey schob den Krankenwagen am andern Ende. Die Gummiräder rollten geräuschlos. Flagler folgte ihnen mit dem tragbaren Narkoseapparat. Miss Terry holte mit in Handschuhen steckenden Fingern zimperlich die Instrumente aus dem viel zu heißen Handtuch hervor. Das einzige Geräusch im ganzen Raum war das Zischen des aus dem Ventil der Autoklaven entweichenden Dampfes. Jack nickte Harvey zu, der die Narkosemaske vom Haken zu Häupten der Patientin nahm und sich anschickte, sie an deren Gesicht zu befestigen. Das Bild war lebendig und getreu.

Jack wehrte einen Augenbück ab und betrachtete, vergeblich gegen ein Gefühl der Zärtlichkeit ankämpfend, besorgt das beinahe kindliche Gesicht. Sein Blick weckte die Patientin auf, sie öffnete langsam die Augen und sah mit einem leichtverwirrten, ihn allmählich erkennenden Lächeln zu ihm auf. »Oh!« sagte sie. »Fehlt mir etwas?« Während sie die Frage stellte, schüttelte sie den Kopf und hoffte auf eine Verneinung. »Nein«, hörte Jack sich selbst sagen. »Mir fehlt etwas. Ich operiere Sie, um mich zu heilen. Verstehen Sie?« – »Vielleicht«, gab sie versonnen zurück.

Jack riß sich aus dieser unangenehmen Träumerei, schritt ein paarmal im Zimmer auf und ab, zog den Schlafrock aus und den Anzug an und eilte in die warme Juninacht hinaus. Der Polizist an der Ecke begrüßte ihn: »Sie sind spät dran, Doktor.« – Gegen drei Uhr kehrte Jack, wieder völlig bei klarem Verstand, heim. Er hat einfach zuviel gearbeitet, hat in Tubbys Abwesenheit zuviel Verantwortung aufgebürdet bekommen. Morgen wird alles wieder in Ordnung sein. Eines war gewiß: er wird einem rätselhaften Lächeln nicht gestatten, aus ihm – nach der ganzen schweren, kostspieligen Selbstbeherrschung, mit der er das einzig wertvolle Ziel der Welt verfolgt hat einen Narren zu machen. Dieser in ein Mädchen verschossene Beaven, der eine unselige Stunde lang geträumt hatte und von Sehnsucht erfüllt gewesen war, durfte auf keinen Fall dem tüchtigen Beaven, der seit acht Jahren seiner Arbeit treu war, in die Quere kommen. Er griff nach der Anamnese des Gehirntumors, las sie aufmerksam durch, machte sich Notizen, ersuchte, um neun Uhr dreißig geweckt zu werden, ging zu Bett und – schlief.

 

Am Montag versuchte er gar nicht, die geheimnisvolle Lan Ying zu treffen. Gegen Mittag sah er den kleinen Buben für einen Augenblick und versprach, später wiederzukommen; doch tat er es nicht.

Die Zeit verstand sich darauf, Krankheiten zu heilen. Wußte man nicht, was man anfangen sollte, so war es am klügsten, überhaupt nichts zu tun. Während man überlegte, was zu unternehmen sei, konnte das Problem sich von selbst lösen. Tubby war ein leidenschaftlicher Verfechter dieser Ansicht. – Legen Sie den Mann ins Bett und beobachten Sie ihn eine Zeitlang. Stürzen Sie sich nicht mit Pillen und medizinischen Instrumenten auf ihn, ehe Sie Ihrer Diagnose gewiß sind. Und gewähren Sie der Zeit die Möglichkeit, für ihn etwas zu tun.

Die Sehnsucht, Audrey Hilton wiederzusehen, war wahrscheinlich ein gänzlich ephemerer Wunsch, ein Irrlicht, das im Operationssaal in dem grellen weißen Licht der Arbeit verblassen würde.

Als Jack am Dienstagmorgen bemerkte, daß Teddy gekränkt war, versuchte er aus einem gewissen Schuldbewußtsein heraus freundschaftliches Interesse zu bezeigen. Auf dem Bett des kleinen Buben lagen Bleistiftskizzen.

»Teddy wollte Ihnen gern einige Bilder zeigen, die seine Tante gestern für ihn gezeichnet hat«, sagte Miss McFey.

Der Arzt hob einige der Zeichnungen in die Höhe, um sie genauer zu betrachten; es waren gekonnte Skizzen von Zwergbäumen, deren Äste sinnvolle Stellungen einnahmen.

»Das hier«, erklärte Teddy, den Kopf auf den Vorderarm des Arztes gebettet, »ist ein sehr müder Baum. Er hat die ganze Nacht gearbeitet und ist erschöpft.«

»Ja, das sehe ich«, meinte der Arzt zustimmend.

»Er scheint etwas zu brauchen«, sagte Miss McFey.

»Wahrscheinlich Ferien«, brummte Jack, doch beachteten die beiden seine Worte nicht.

»Dieser da«, fuhr Teddy fort, der seine Rolle als Interpret genoß, »ist Miss McFey, die mit dem Orangensaft kommt. Und das bin ich mit dem Schmetterlingsnetz. Ich finde, dieses Bild ist das beste.«

»Das finde auch ich.« Der Arzt schmunzelte über die groteske, aber lebenswahre Darstellung. Er legte die Bäume zurück und griff nach einem andern Blatt.

»Gesichter«, erklärte Teddy. »Nicht wirkliche Gesichter, nur Teile davon. Lan Ying zeichnet gern Augen und Nasen und Ohren und Kinne, ein jedes für sich. Dieses sind lauter Münder.«

»Ihrer ist leicht zu erkennen, Teddy.«

»Ich sagte Miss Hilton«, meinte Miss McFey, »es könnte ebensogut Ihr Mund sein wie der Teddys.«

Dr. Beaven nickte kurz und regte dadurch McFey zu allerlei Überlegungen an. Er gewahrte in ihren Augen einen neugierigen Ausdruck.

»Es wäre nur natürlich, wenn die beiden einander ähnlich sähen«, bemerkte er und hoffte, diese Erklärung werde genügen.

»Das ist Miss McFey«, sagte Teddy.

»Hm«, der Arzt nickte. »Da ist noch ein anderer Mund, der aussieht, als wolle er beißen. Recht erschreckend.«

Teddy fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und grinste verlegen.

»Das ist schlecht«, sagte er und griff nach dem Blatt. »Lan Ying zeichnet manchmal gar nicht gut.«

Miss McFey legte die Skizzen eifrig zusammen.

»Wir dürfen den Doktor nicht zu lange aufhalten, Teddy. Ich bringe das Bett in Ordnung, damit er dich untersuchen kann.«

Unvermittelt faßte das Kind den Entschluß, um jeden Preis aufrichtig zu sein. Es nahm das Blatt mit den Mündern und zeigte auf den strengen Mund.

»Lan Ying glaubt, daß Sie so ausschauen«, erklärte er mit einem entschuldigenden Kichern. »Aber das kommt daher, daß sie Sie nie gesehen hat.«

»Und du hast ihr erzählt, daß Dr. Beaven so schwer arbeitet«, sagte die taktlose Miss McFey in dem Wahn, taktvoll zu sein. »Deshalb hat sie versucht, einen müden Mund zu zeichnen.«

»Das ist kein müder Mund«, widersprach der Arzt. »Das ist ein eiserner Mund.« Er beschloß, die Sache als Witz aufzufassen. »Dieser Mund, Teddy, könnte eine Handvoll Murmeln wie Hafergrütze zerbeißen.«

»Spielen Sie gern Murmel?« fragte das Kind erleichtert, weil sich das Gespräch auf einem weniger peinlichen Geleise zu bewegen begann.

Ja, er spiele gern Murmel, das heißt, er habe es vor langer Zeit gern getan, und jetzt wolle er sich den Arm ansehen und dann weitergehen.

Ein recht belangloser Vorfall, aber Jack wünschte dennoch, er hätte sich nicht ereignet. Offensichtlich hatte diese Audrey Hilton sowohl dem Neffen als auch der Pflegerin zu verstehen gegeben, sie seien einander noch nicht begegnet. Aber Miss McFey mochte Verdacht geschöpft haben. Die Zeichnung seines Mundes war wenig schmeichelhaft, doch leicht zu erkennen. Man konnte es Miss McFey nicht verübeln, wenn sie Erkundigungen einzog. Und vielleicht wird sie auch andern das kleine Geheimnis anvertrauen. Ein peinlicher Gedanke. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie die üppige McFey, deren rothaariger Kopf so voller romantischer Ideen war, daß sie sogar den Spitaldienern schöne Augen machte, Dummheiten daherschwätzte, etwa: »Sie tat, als hätte sie ihn nie gesehen, und er tut das gleiche, aber da lag die Zeichnung – sein Mund, ganz getreu. Was sagst du dazu?«

Jack ging in den Operationssaal, um sich für die Zehn-Uhr-Gallenblase vorzubereiten, schlüpfte in seinen Kittel und begann mit der üblichen Säuberungsprozedur. Dabei bückte er in den Spiegel und betrachtete seinen Mund von der Seite; er war weder mürrisch noch grausam noch pessimistisch, auch nicht jämmerlich oder ungeduldig. Das Ärgste, was man über ihn sagen konnte, war, daß er einen energischen Eindruck machte. Jack preßte den Ellenbogen gegen den Hebel, der den Wärmegrad des Wassers im Waschbecken steigerte, und fuhr in seiner Säuberung fort. Ja, er sieht energisch aus. Eine verdammt gute Sache. Es wäre besser, es sähen mehr Menschen so aus. Vielleicht kämen sie dann weiter.

Die Chinesen teilten diese Ansicht vielleicht nicht – aber wer sind schon die Chinesen? Sie hatten zur Wohlfahrt der Welt wenig beigetragen, wußten verdammt wenig von wissenschaftlichen Dingen. In China sah man wahrscheinlich nur selten einen solchen Mund, doch bedeutete das noch lange nicht, daß er verurteilungswürdig war. Vielleicht gefiel ihr ein fester, gerader, unermüdlich aussehender Mund. – Aber was machte es schon aus, welche Art von Mund ihr gefiel? Übermorgen wird sie fortreisen. Er wird sie für immer aus seinem Geist verbannen, Jack hat es ja schon jetzt getan. Jack begegnete im Spiegel seinen Augen und verlangte von ihnen die Bestätigung dieser Behauptung, worauf ihm sofort mitgeteilt wurde, daß er ein Lügner sei.

Und sein Spiegelbild teilte ihm nicht nur mit, er rede sich ein, Audrey Hilton aus seinen Gedanken vertrieben zu haben, sondern auch, daß er sich bezüglich seines Mundes zum Narren halte. »Energisch« – habe er selbstgefällig gesagt, doch war das auf keinen Fall das richtige Wort. »Abgesondert« – ja, das stimmte eher. Abgesehen von der unermüdlichen Tätigkeit in seiner kleinen Welt der Proberöhren und Retorten, der Mikroskope und Fluoroskope, der Sezierungen und Operationen, lebte er von allen abgesondert. Es war eine erschreckende, von gepökelten Leichen und kranken Kaninchen bevölkerte Welt. Mit der wirklichen Welt hatte er vor so langer Zeit gebrochen, daß er bereits ganz vergessen hatte, wie sie war. Mit älteren Männern hatte er seit Jahren nur dann gesprochen, wenn es sich um ihre Krankheitsgeschichte handelte. Von Kindern wußte er so wenig, daß er in ihrer Gegenwart verlegen wurde. Sein Verständnis für Frauen beschränkte sich auf eine genaue Kenntnis ihrer Knochen und Organe. Seine wenigen Freunde bewegten sich in einer Welt, die nicht viel größer war als die seine. Sie redeten in wissenschaftlichen Ausdrücken und rochen nach Desinfektion und Äther.

Jawohl, ein abgesonderter Mund, der im Kampf um diese Absonderung hart geworden war. Kein Wunder, daß niemand Jack Beaven auf den Rücken klopfte, ihn mit einer komischen Geschichte aufhielt oder ihn aufforderte, zu einer Unterhaltung mitzukommen. Audrey Hilton hatte mit ein paar Bleistiftstrichen diesen Mund festgehalten. Sie wußte von Jack mehr als er selbst.

Er streckte die Arme aus, um den Kittel anzuziehen; Miss Warren half ihm in die Ärmel. Für eine Sekunde begegneten ihre Augen einander. Ihr unpersönlicher Blick schien zu sagen, hätte sie Talent zum Zeichnen, sie würde ungefähr das gleiche Bild gemacht haben, wie jenes war, das ihn dermaßen beunruhigte. Vielleicht sahen ihn alle so.

 

Am nächsten Morgen teilte er Teddy mit, daß er Donnerstag heimfahren dürfe. Das war für den kleinen Buben keine Überraschung, denn sie hatten bereits vor einigen Tagen darüber gesprochen.

»Wenn Miss Hilton heute nachmittag kommt«, sagte er zu Miss McFey, »so sagen Sie ihr, ich sähe sie gerne, bevor Teddy entlassen wird. Rufen Sie mich bitte.«

An diesem Vormittag ging er zerstreut seiner Arbeit nach, blickte häufig auf die Uhr, fragte sich bisweilen, warum die Zeit so langsam vergehe, wünschte dann wiederum, er habe die Begegnung schon hinter sich. Um drei Uhr ertappte er sich dabei, daß er zusammenfuhr, als das Haustelefon klingelte. Um drei Uhr fünfundvierzig befand er sich im chirurgischen Saal für Männer und richtete gerade etwas an einem Apparat für eine gebrochene Hüfte, als die Pflegerin ihn ans Telefon rief.

»Beaven«, sagte Dr. Shane hastig, »kommen Sie sofort in den Operationssaal C. Eben wurden zwei Leute nach einem Autounfall eingeliefert. Die Frau scheint in einem üblen Zustand zu sein. Ich konnte sie noch nicht richtig untersuchen, doch fürchte ich, daß das Genick gebrochen ist.«

»Okay, Shane. Ich komme sofort.«

Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob er sich über den Zwischenfall freute oder ärgerte. Auf dem Weg zum Operationssaal beschloß er, durch eine der Pflegerinnen Miss Hilton von der dringenden Operation zu benachrichtigen. Er wolle sie, wenn möglich, nachher sehen.

Im Operationssaal stellte er sofort fest, daß es sich hier, wie Shane geahnt hatte, tatsächlich um einen Genickbruch handelte. Die junge Frau, sie mochte etwa zweiundzwanzig Jahre zählen, war halb bei Bewußtsein, und als ihr gesagt wurde, sie möge den Arm bewegen, konnte sie dies nicht tun. Einige Röntgenaufnahmen wurden gemacht, und es stellte sich heraus, daß das Rückgrat ziemlich schwer verletzt sei. Jack sprach sich gegen einen Eingriff aus, doch folgte er der Patientin in ihr Zimmer, um festzustellen, ob eine rasch steigende Temperatur eine sofortige Operation notwendig erscheinen lasse.

Er sprach kurz und trocken mit der jungen Frau.

»Wie heißen Sie?«

»Prentiss. Nancy Prentiss.«

»Miss Prentiss«, begann Jack sehr ernst.

»Mrs. Prentiss«, unterbrach sie ihn.

»Oh! Dann ist der zweite Patient, der mit Ihnen eingeliefert wurde, Ihr Mann?«

»Nein. Mein Mann ist verreist; er sucht Arbeit.«

»Hören Sie zu, Mrs. Prentiss. Ihre Genesung hängt von Ihnen selbst ab, Sie dürfen nicht den Kopf verlieren und müssen gehorchen. Ihr Genick ist schwer verletzt, doch glaube ich, daß Sie wieder gesund werden, wenn Sie still liegen – möge dies für Sie noch so unbequem sein – und die Bruchstelle nicht noch mehr schädigen. Ich bleibe bei Ihnen, und auch die Pflegerin bleibt hier. Denken Sie daran, daß Weinen oder jede Aufregung Ihr Fieber erhöht und wir in diesem Fall etwas Ernstliches unternehmen müßten. Bleiben Sie dagegen ruhig und gelassen, so haben Sie eine Chance. Werden Sie uns helfen?«

»Ja, Doktor. Darf ich meine Mutter sehen?«

»Morgen.«

»Sie wird mich sehen wollen.«

»Wir werden ihr alles erklären.«

»Wenn sie mich nicht sehen darf, wird sie sich schrecklich aufregen.«

»Gut, daß Sie es mir gesagt haben. Danke. Wenn Ihre Mutter sich leicht aufregt, werden wir die nächsten zwei Tage ohne sie auskommen müssen. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden ihr alles mitteilen.«

»Mein Baby ist bei ihr.«

»Dann ist es in guten Händen. Sie brauchen sich um Ihr Kind keine Sorgen zu machen. So, jetzt wird nicht mehr gesprochen.«

Um neun Uhr zeigte das Thermometer 39°. Die Patientin hatte ein starkes Beruhigungsmittel bekommen und schlief.

»Ich gehe jetzt für eine Stunde fort«, erklärte Jack der Pflegerin. »Sollten Sie mich brauchen, so weiß das Informationsbüro, wo ich bin.«

Er hatte seit dem Morgen außer einem Sandwich und einem Glas Milch am Vormittag nichts zu sich genommen, doch hatte die Spannung der letzten Stunden ihn nicht ans Essen denken lassen. Jack begab sich ins Büro und rief im »Livingstone« an. In wenigen Sekunden erkannte er die leise Stimme mit dem ausländischen Akzent und der sorgfältigen Aussprache.

»Es tut mir leid, Miss Hilton, daß ich Sie heute nicht sehen konnte. Wir hatten einen schweren Fall, und es war mir unmöglich, mich frei zu machen. Man wird es Ihnen gesagt haben. Ich hätte gerne mit Ihnen gesprochen, ehe Sie Ihren Neffen heimbringen. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

»Nein, danke, Doktor«, antwortete sie, jedes Wort einzeln betonend. »Es tut mir leid, daß ich nicht Ihre Instruktionen für Teddy haben kann, für seine Übungen und …«

»Wie wäre es, wenn ich zu Ihnen käme? Ich habe jetzt eine Weile frei.«

»Ja, kommen Sie. Danke.«

Jack kleidete sich rasch an und fuhr mit einem Taxi zum Hotel. Als er in der Halle nach Miss Hilton fragte, erhielt er die Auskunft, sie wohne im Luxusappartement A und habe hinterlassen, er möge heraufkommen. Er folgte dem Pagen zum Lift, fuhr ins oberste Stockwerk, drückte auf die Klingel und wartete neugierig auf den Empfang, der ihm bevorstand.

Miss Hilton öffnete die Tür, und Jack verharrte einen Augenblick verblüfft. Teddy hatte ihn nicht zum Narren gehalten; seine Tante Audrey war wirklich eine Chinesin.

Sie forderte ihn mit einer höflichen Verbeugung auf, einzutreten, und er folgte ihr ins Zimmer. Sie trug eine am Halse geschlossene schwarze Seidenbluse mit langen Ärmeln, schwarze Seidenhosen und winzige schwarze Seidenpantoffeln.

Audrey nahm ihm den Hut ab, nickte in die Richtung eines Stuhles und setzte sich Jack gegenüber.

»Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte sie.

Fünf Minuten benahm Jack sich rein beruflich, er notierte für sie einige einfache Übungen, die den Arm des kleinen Buben wieder normal und gebrauchsfähig machen sollten. Audrey Hilton hörte aufmerksam zu; verstand sie den einen oder anderen medizinischen Ausdruck nicht, so stellte sie Fragen.

Dann trat eine kurze Pause ein. Beaven hatte alles Nötige gesagt, doch wollte er noch nicht gehen. Er zögerte und vermochte nicht dem Wunsch zu widerstehen, persönlicher zu werden.

»Teddy sagte, daß Sie Chinesin seien, aber ich glaubte, er scherze.«

»Es stimmt nicht ganz, Doktor«, meinte sie in kameradschaftlichem Ton. »Sie wußten doch schon am Sonntag, daß ich nicht – ganz – ganz orthodox bin. Ihre Augen warfen mir vor, daß ich so ausländisch sei.«

Jack nickte lächelnd.

»Mein Mund auch, fürchte ich. Ich gestehe, daß ich mich bei Ihnen nicht recht auskannte. Freilich ging es mich nichts an, es war nicht meine Sache …«

»… das Rätsel zu lösen. Bestimmt nicht. Falls es Sie aber auch nur im geringsten interessiert, so kann ich es Ihnen erklären.«

»Erzählen Sie, bitte«, sagte Jack ermutigend.

»Danke. Wollen Sie nicht rauchen, Dr. Beaven? Vielleicht eine Pfeife?« Sie stand auf von dem steifen Stuhl, auf dem sie artig gesessen hatte, und setzte sich auf einen niedrigen Hocker, kreuzte die Arme über der Brust und beobachtete voller Interesse, wie Jack seine Pfeife stopfte.

»Es ist für ein amerikanisches Kind nichts Ungewöhnliches, in Hongkong geboren zu werden«, begann sie. »Das kommt bei Missionars- oder Botschaftskindern häufig vor. Doch geschieht es nur selten, daß ein amerikanisches Kind lange im Ausland bleibt. Es wird meist nach Hause geschickt, um dort die Schule zu besuchen, vergißt gar bald sein Geburtsland und fühlt sich in seinem Vaterland heimisch.«

»Sie aber blieben dort, bis Sie selbst chinesisch wurden, nicht wahr?« fragte Jack.

»Mein Vater war der Kapitän eines Dampfers. Er fuhr zwölf Jahre lang zwischen Amerika und China hin und her und hatte Gelegenheit, viele gebildete Chinesen aus guter Familie kennenzulernen, die teils geschäftliche, teils politische Reisen nach Amerika machten. Sie hatten es nicht immer leicht, wurden bisweilen von den Amerikanern, deren Kenntnis der Chinesen sich auf Dienstboten beschränkte, sehr von oben herab behandelt.

Mein Vater schien für ihre peinliche Lage Verständnis zu haben, und sie ahnten seine Teilnahme. Vielleicht sagte einer dem andern, daß Kapitän Hilton ein kosmopolitischer Gentleman sei. Man weiß ja nicht, was in China bekannt ist. Die Chinesen verstehen sich darauf, ihre Angelegenheiten für sich zu behalten; andererseits geben sie alles weiter, was für die Allgemeinheit von Nutzen sein könnte.

In Hongkong lebte ein chinesischer Kaufmann namens Sen Ling …«

Jacks Augen wurden groß.

»Wie nennt Teddy Sie? – ›Lan Ying‹?«

Sie nickte lächelnd. Auf sein offenkundiges Interesse eingehend, schien sie mit Freude die Gelegenheit einer Aussprache zu ergreifen.

»Sen Ling wurde auf seiner ersten Reise nach Amerika dermaßen tief gekränkt, daß er halb krank vor Demütigung auf das Schiff meines Vaters kam. Vielleicht war er selbst schuld daran. Er hatte gesehen, wieviel die amerikanischen Christen in Spitälern und Schulen für seine Dienerschaft getan hatten, und glaubte, unsere Landsleute empfänden den Chinesen gegenüber ein brüderliches Gefühl. Er hätte es wirklich besser wissen können. Hätten dem Elend der unwissenden und abergläubischen Amerikaner er und andere Chinesen seiner Kaste gegenübergestanden, sie würden aus reinem Mitleid für sie gesorgt haben; doch hätten sie nie erwartet, daß Amerikaner ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung für diese philanthropischen Taten viel Dankbarkeit bezeigten. Eigentlich hätte er weit eher erwarten können, daß diese Amerikaner durch eine Wohltätigkeit, die sie selbst unterlassen hatten, verärgert und verlegen geworden wären. Als Folge würden sie sich dann steif zurückgehalten haben, was er nie begreifen, sondern nur als verächtlichen Hochmut hätte auslegen können. So kam es, daß Sen Ling, der bei den Amerikanern auf Herzenswärme und Freundschaft gerechnet hatte, tief gekränkt war. Als er dann beschämt und verletzt an Bord ging, befanden sich auf dem Schiff obendrein noch einige Amerikaner, die ihm unverhüllt ihre Verachtung zeigten. Mein Vater erfuhr durch den Schiffsarzt, daß Sen Ling krank sei, und besuchte ihn in seiner Kabine. Sie sprachen lange miteinander. Mein Vater gab Sen Ling eine Kabine neben der seinen, gestattete ihm, auf die Kommandobrücke zu kommen, und erklärte ihm die Geheimnisse des Steuerhauses. Nach der Landung vergaß er wahrscheinlich die ganze Sache. Sen Ling jedoch vergaß sie nie. Sooft das Schiff meines Vaters in Hongkong anlief, stand Sen Ling auf dem Kai, um ihn zu begrüßen; er sandte ihm Geschenke und lud ihn zu sich ein. Anfangs entschuldigte mein Vater sich mit Geschäften, nachdem er jedoch einmal bei Sen Ling gewesen war, ging er in Hongkong nie an Land, ohne Sen Ling zu besuchen, der ihn wie einen lieben Freund aufnahm. Sen Ling wohnte in einem palastähnlichen Gebäude.« Sie verstummte und versank in Gedanken.

»Sie haben das Haus bestimmt gesehen«, warf Jack ein, in der Hoffnung, sie werde ihm Einzelheiten berichten.

»Ja, ich habe bis vor drei Jahren immer dort gelebt. Es fiel mir sehr schwer, mein chinesisches Heim zu verlassen. Die erste Zeit in Amerika fühlte ich mich so einsam, daß ich glaubte, ich müsse nach China zurück. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel Dank ich Dr. und Mrs. Cunningham für ihre Freundschaft während dieser traurigen Tage schulde. Sie nahmen mich häufig auf kurze Reisen mit. Das erste Mal – ich war erst seit ein paar Tagen in Amerika – begleitete ich sie zur Eröffnungsfeier der hiesigen Universität.« Sie blickte auf und lächelte. »Dr. Cunningham hielt vor seinen Semesterkollegen eine Ansprache.«

»Ja«, erwiderte Jack. »Ich erinnere mich.«

»Die Rede gefiel Ihnen nicht.« Der Ton in ihrer Stimme forderte ihn auf, zu sagen, weshalb sie ihm nicht gefallen hatte.

»Ich fürchte, ich habe von ihr nicht viel gehört. Wo wir standen, war ein ziemliches Durcheinander, und meine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. – Es war ein ereignisvoller Tag«, fügte er hastig hinzu. »Ich hatte promoviert, und es waren auch noch andere ungewöhnliche Dinge vorgefallen.« Er sagte impulsiv: »Ich wollte Sie an jenem Abend nicht kränken, es hat mir später leid getan.«

Ihr Lächeln drang ihm geradeswegs ins Herz.

»Sie haben ein gutes Gedächtnis«, meinte sie.

»Bisweilen.« Jack fand, die drei Jahre alte Episode sei nun genügend besprochen worden. Er hoffte, Miss Hilton würde sich wieder dem früheren Thema zuwenden. »Sie haben also fast Ihr ganzes Leben in China verbracht? Möchten Sie mir nicht davon erzählen?«

»Gern, wenn ich Sie nicht aufhalte.«

Das Telefon klingelte. Sie stand auf und ging an den Apparat.

»Für Sie«, sagte sie und reichte ihm den Hörer.

»Ja, Miss Warren – sofort!«

Er hängte den Hörer zurück und wandte sich ihr kopfschüttelnd zu.

»So ist das immer«, brummte er. »Das hier«, er zeigte auf das Telefon, als wäre es ein Symbol der Fesseln, durch die sein Leben eingeengt wurde, »das hier ist das Halsband, das ich mein Lebtag werde tragen müssen.« Er hielt ihr die Hand hin.

»Es tut mir leid«, sagte sie.


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