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Einige Dutzend Blocks der Strecke hatten sie schweigend zurückgelegt. Die Straßen waren sehr glatt, und die großen Schneeflocken, die der Wind gegen die Schutzscheibe peitschte, erschwerten die Fahrt. Es war offensichtlich, daß Tubby die Gegenwart seines unwillkommenen Fahrgastes ignorieren wollte. Doch war ebenso offensichtlich, daß er sich ihrer immer mehr bewußt wurde. Als sie, zitternd vor Frost, den Pelzmantel über die Knie zog, brummte Tubby mürrisch, ohne sie anzublicken: »Hinter Ihnen ist ein Mantel. Wickeln Sie sich ihn um die Beine. Sie sind für diese Fahrt viel zu leicht angezogen.« Dann brummte er, verärgert über seinen Beweis der Teilnahme: »Sie hätten nicht mitkommen dürfen. Ich hab' es Ihnen ja gesagt. Sie werden unangenehme Dinge erleben und nur im Wege sein.«
»Wollen Sie auch ein Stück?« fragte Audrey und hielt ihm auch einen Teil des Mantels hin.
»Mit eingewickelten Beinen kann man kein Auto lenken. Das müßten Sie wissen!«
Audrey entschuldigte sich, wickelte den Mantel um ihre Beine und lehnte sich in ihre Ecke zurück. Nun hatten sie bereits die letzten Verkehrslichter der Stadt hinter sich gelassen und fuhren in rascherem Tempo. Der Zeiger des Geschwindigkeitsmessers stieg auf siebzig.
»Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte Tubby zu sich selbst, »was in aller Welt Beaven veranlaßt haben kann, sich in eine Rauferei mit Rowdies einzulassen.« Audrey sagte nichts, und dann fragte Tubby: »Sie wissen es wohl auch nicht?«
»Einiges weiß ich wohl«, gab sie zu. »Jack hat herausgefunden, daß einige Fälle von Kinderlähmung von einem infizierten Wasser verursacht worden sind, das einige Männer auf ungesetzliche Weise in ihre Häuser leiteten. Die Rohre haben sie gestohlen und selbst verlegt. Jack ist bedroht worden für den Fall, daß er darüber etwas sagen sollte.«
»Und wie kam Beaven dazu, das zu untersuchen?« fragte Tubby. »Wie ein Gesundheitsamt, dessen Aufgabe es ist, die Ursache von Epidemien auszuschnüffeln. – Merkwürdig, daß Beaven mir davon nichts gesagt hat.«
Audrey schwieg. Sie erweckte den Eindruck, als finde sie es gar nicht merkwürdig, und Tubby fuhr gereizt fort: »Sehr merkwürdig. Wenn er in der Patsche war, warum hat er sich dann nicht an mich gewandt? Ihnen hat er es gesagt; und dabei konnten doch Sie nichts tun! Vielleicht weiß es die ganze Stadt außer mir! Steckt er aber dann in der Tinte, so erfahre ich das Geheimnis! Dann hat er es eilig, nach mir zu schicken!«
»Hat er nach Ihnen geschickt?« fragte Audrey.
»Jedenfalls fahre ich los, um ihn zu retten. Es kommt auf dasselbe heraus, nicht wahr?«
Audrey wollte über dieses Problem nicht sprechen und schwieg. Tubby, der über die ihm zuteil gewordene Vernachlässigung empört war, zeigte sich von seiner ärgsten Seite. Aber unleugbar stak in seinen Worten ein Teil Wahrheit. Er tat Audrey aufrichtig leid. Freilich war es seine Schuld gewesen, daß Jack sich ihm nicht anvertraut hatte. Und schließlich konnte Jack nichts dafür, daß Tubby sich jetzt in Gefahr begeben mußte, um ihn zu retten. Und Tatsache war auch, daß Tubby nicht um Rat gefragt worden war und jetzt unterwegs war, um verspätete Hilfe zu leisten. Drei oder vier Meilen glitten unter den Rädern dahin. Tubby beobachtete mit wachen Augen die Straße. Audrey brach das Schweigen.
»Haben Sie Verbandszeug und ähnliche Dinge mitgenommen?«
»Selbstverständlich. – Oder haben Sie geglaubt, daß ich mich mit leeren Händen auf einen solchen Weg begebe?«
»Ich hätte es wissen müssen«, entschuldigte sich Audrey.
Tubby nahm dies mit grimmigem Knurren zur Kenntnis und ließ den Motor schneller laufen. Nach einer Weile stellte Audrey die Frage: »Glauben Sie denn, daß wir überfallen werden?«
»Es würde mich nicht im geringsten wundern.« Tubby sagte es so leichthin, als liege ihm nichts daran. »Diese Leute sind tollkühn«, fuhr er fort. »Sie fordern, daß man eine beträchtliche Summe an einer auffallenden Stelle, zu einer Stunde, da noch Menschen auf der Straße sind, hinterlegt. Ein Mann, der für zweihundert Dollar so etwas riskiert …« Er brach ab und fügte dann in gleichgültigem Ton hinzu: »Wahrscheinlich werden die Gauner Sie kidnappen. Haben Sie Angst?«
»Selbstverständlich«, gab Audrey zu.
»Sie setzen mich in Erstaunen!« Tubbys Stimme klang boshaft und ironisch. »Gerade da ich anfange, Sie für außergewöhnlich tapfer zu halten, sagen Sie mir, daß Sie Angst haben – ich hätte Ihnen doch nicht erlauben sollen, mitzukommen!«
»Wenn mir etwas zustößt, Dr. Forrester, so sind nicht Sie dafür verantwortlich. Ich bestand darauf, mitzukommen, und ich bin froh, daß ich es getan habe. Aber – Sie wollten wissen, ob ich Angst empfinde? Ja. Ich komme mir so unbeschützt vor.«
Tubby nahm die Bemerkung übel. »Hm«, brummte er. Nach einer kurzen Weile sagte er säuerlich: »Unbeschützt? Wie? Sie halten mich wohl für einen Feigling?« Er wandte sich mit einem herausfordernden Blick ihr zu, und als ihre Antwort auf sich warten ließ, schob er drohend das Kinn vor, als fordere er eine Antwort, und zwar eine aufrichtige.
»Mein chinesischer Pflegevater«, antwortete Audrey gelassen, »hat mich gelehrt, daß es nicht ratsam sei, sich in der Gesellschaft eines Mannes in Gefahr zu begeben, der gewohnt ist, die Rechte und Wünsche anderer zu mißachten.«
Tubby war dermaßen verblüfft, daß er nicht einmal wütend wurde. Er betrachtete das kühne Mädchen mit verwirrt starrenden Augen und sagte schließlich: »Sie wollen mir wohl zu verstehen geben, daß ich auf die Rechte anderer keine Rücksicht nehme, mit andern Worten: ich sei ein Tyrann. Außerdem nehmen Sie an, daß der Tyrann im gegebenen Fall nur auf die eigene Haut bedacht sein wird, das heißt: ich sei ein Feigling. Demnach halten Sie mich für einen Feigling?«
»Ich weiß es nicht, Sir«, erwiderte Audrey versonnen. »Aber – dieses Abenteuer interessiert mich sehr.«
»Ein Abenteuer mit einem Feigling«, meinte Tubby bitter.
»Mein chinesischer Pflegevater …«
»Der Teufel hol' Ihren chinesischen Pflegevater!« schrie Tubby außer sich vor Wut. Während der nächsten halben Meile zeigte der Geschwindigkeitsmesser achtzig, sank dann allmählich wieder auf sechzig. »Also«, bellte Tubby, »reden Sie weiter! Sagen Sie's doch! Was hat Ihr chinesischer Pflegevater gesagt?«
»Daß mehr als ein Mensch nie entdeckt, ob er im innersten Herzen feige oder tapfer sei. Er wird nie auf die Probe gestellt. Es vergehen viele, viele Jahre, und er hält sich für groß und stark, weil er andern seinen Willen aufzwingt. Dann ereignet sich etwas, über das nicht er zu bestimmen hat. Er ruft: ›Halt!‹ Aber der andere rast weiter, als habe er es nicht gehört. Mein Pflegevater sagt, es sei nicht ratsam …«
»Jaja«, unterbrach Tubby sie. »Das haben Sie schon einmal gesagt. Es sei nicht ratsam, sich in der Gesellschaft eines Tyrannen in Gefahr zu begeben. Er wird zweifellos davonlaufen und einen im Stich lassen. Ich bin ein Tyrann und ein Feigling, deshalb haben Sie Angst. Ich begreife Ihren Standpunkt. Es war ja sehr zartfühlend ausgedrückt, doch habe ich es trotzdem verstanden. – Wer aber hat Ihnen erzählt, daß ich ein Tyrann bin? Hat Beaven mich einen Tyrannen geheißen? Oder war es Cunningham? Bitte, fahren Sie fort! Sie sind ja so aufrichtig, heraus mit allem!«
»Ich hätte nicht so sprechen dürfen, Dr. Forrester.« Aus Audreys Stimme klang ehrliche Reue. »Ich fürchte, ich war sehr unhöflich. Bitte, verzeihen Sie.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage. Hat Beaven bei Ihnen den Eindruck erweckt, daß ich andere zwinge, meinen Willen zu tun?«
Audrey wich der Frage aus: »Weshalb sollte er das getan haben? Glauben Sie vielleicht, Jack habe dazu einen Grund?«
»Beaven mißversteht mich vollkommen!« brummte Tubby wütend. »Was ich getan habe, war stets zu seinem Besten. Das könnte er wirklich wissen.« Er wandte sich mit anklagender Miene an sie. »Sie sind imstande, zu glauben, daß ich durch den guten Rat, den ich Ihnen beim Dinner gab, Beavens Leben beherrschen will?«
»Ich habe doch versprochen, Ihren Rat zu befolgen, nicht wahr?«
»Damals«, gab Tubby zu, »erweckte es den Anschein, Sie seien bereit, auf ihn zu verzichten. Sie haben mir Ihr Versprechen gegeben. Und jetzt – jetzt sind Sie unterwegs zu ihm.«
»Ich werde mein Versprechen halten und nach China zurückkehren. Sie brauchen keine Angst zu haben. In diesem Fall jedoch mußte ich zu ihm. Es wäre von Ihnen sehr grausam gewesen, es mir nicht zu erlauben. Das müssen sogar Sie einsehen.«
Tubby zuckte zusammen und wollte gerade antworten, doch wurde der Asphalt unvermittelt von Steinpflaster abgelöst, und die Straßenlaternen der kleinen Stadt Wheaton rückten immer näher. Nun würden sie bald an Ort und Stelle sein. Es war keine Zeit mehr für Vorwürfe und Anklagen. Tubby verlangsamte das Tempo auf vierzig und hielt nach Marksteinen Ausschau.
»Da muß es sein«, brummte er und lenkte den Wagen zum rechten Bürgersteig. »Ich hoffe, Sie sind intelligent genug, sich zu verstecken, während ich zum Tor gehe.«
»Es wäre besser, ich ginge mit«, meinte Audrey. »Wenn die Leute sehen, daß eine Frau mitkommt, werden sie weniger mißtrauisch sein.«
»Blödsinn! Weshalb wollen wir den Eindruck erwecken, daß wir hilflos sind?«
»Woran uns liegt«, erwiderte Audrey fest, »ist eine Information, die uns ermöglicht, zu Jack zu gelangen. Das stimmt doch, nicht wahr? Sind die Leute sicher, daß wir nicht gekommen sind, um sie zu stellen, so werden sie vielleicht zurückkommen.«
»Kann sein«, gab Tubby zu. Er griff in seine Manteltasche und holte einen länglichen Briefumschlag hervor. »Da ist das Geld. Aber Sie wissen, daß Sie sich in Gefahr begeben?«
Sie antwortete nicht. Das Auto hielt. Tubby öffnete rasch den Schlag, und Audrey schritt zur Freitreppe der Bürgerschule. Ihr Herz pochte heftig, ihre Kehle war wie ausgetrocknet. Sie entdeckte im frischgefallenen Schnee Fußspuren, doch war die Arzttasche nirgends zu sehen. Die große offene Halle war dunkel und glich einer Höhle. Audrey zögerte einen Augenblick auf der obersten Stufe und nahm allen Mut zusammen. Dann schritt sie mit zitternden Knien ins Dunkel. Auf der Steinschwelle entdeckte sie die Tasche, atmete auf, legte den Umschlag hinein und kehrte auf die Straße zurück. Tubby stand neben dem Auto und hielt den Schlag offen.
»Gefunden?« fragte er, als sie an seine Seite trat.
»Ja. Und jetzt müssen wir rasch weiterfahren, wie uns gesagt worden ist.«
Tubby fuhr in die Mitte der Straße und schlug die Richtung nach dem Geschäftsviertel der Stadt ein.
»Ich würde nicht dorthin fahren«, meinte Audrey. »Wenn die Leute uns beobachten, könnten sie glauben, wir wollten die Polizei verständigen. Wäre es nicht besser, in die Straße da einzubiegen und zu warten?«
Ihr Rat erschien Tubby vernünftig, und zu Audreys Staunen befolgte er ihn wortlos. Sie fuhren mit geringer Geschwindigkeit einige Blocks entlang und machten vor einem nichterhellten Haus halt. Hier verharrten sie lange schweigend. Tubby konnte sich nicht entsinnen, jemals das Ticken der Autouhr vernommen zu haben. Sicherlich hörte man es immer, wenn man darauf achtete, doch hatte er dies bisher nie getan. Nach ungefähr fünf Minuten setzte Audrey sich näher zu ihm und legte den Mantel über seine Knie. Er nahm es automatisch hin. Der Mantel wärmte ihn sofort; es war eine wohlige Wärme, die von ihm ausströmte. Und auch ihre freundliche Geste erwärmte ihn, desgleichen das durch sie ausgedrückte Vertrauen. Audrey hatte behauptet, sie habe Angst, weil er sie nicht beschützen werde, weil er zu egoistisch sei, um an andere zu denken. Nun hatte er das Gefühl, sie glaube dies nicht länger. Und das tat ihm wohl.
»Glauben Sie, wir können ihn im Auto zurückbringen?« flüsterte Audrey.
»Das hängt von seinem Zustand ab.« Tubbys Stimme war höflich. »Ist er bei Bewußtsein, sind die Blutungen nicht stark und hat er keine Knochenbrüche erlitten dann können wir es vielleicht tun. Wir werden sehen.«
Abermals Schweigen.
»Dreizehn«, flüsterte Audrey.
Tubby warf den Mantel von seinen Knien.
»Jetzt können wir losfahren«, erklärte er. »Wir werden zwei Minuten brauchen, um die Schule zu erreichen. Und die Zeit kann kostbar sein.«
Sie hielten wieder am Bürgersteig vor der Schule. Audrey legte die Hand abermals auf den Drücker am Autoschlag, und diesmal erhob Tubby keinen Einwand. Sie lief zum Haus und die Treppe hinauf. Nun fürchtete sie sich nicht mehr, sie empfand nur große Besorgnis. Hoffentlich hatten die Leute den Zettel dagelassen. Jacks Tasche stand auf der Schwelle. Audrey fühlte, wie ihr Herzschlag aussetzte, während sie nach ihr griff. Der Umschlag lag noch immer in der Tasche, doch war er geöffnet worden. Er war zerknüllt, und das Geld war fort. Fast krank vor Enttäuschung und Sorge kehrte Audrey, die leere Tasche in der einen und den leeren Umschlag in der andern Hand, zum Wagen zurück.
Unter der Straßenlaterne blieb sie stehen und betrachtete den Umschlag. Ihr Herz pochte vor freudiger Erregung. Auf der Rückseite war mit Bleistift eine kurze Botschaft geschrieben. Die Schrift war schlecht, aber immerhin leserlich.
»Der Mann, den Sie suchen«, lautete die Botschaft, »befindet sich sieben Meilen von hier in einem Haus. Fahren Sie in westlicher Richtung durch die Stadt und dann anderthalb Meilen geradeaus. Bei Larsens Milchwirtschaft biegen Sie links ab. Das Haus steht abseits der Straße, am Ende eines Fußpfades. Sie werden im Licht Ihrer Laternen sehen, wo die Autos gewendet haben. Der Doktor ist am Kopf schwerverletzt, er blutet heftig. Sie müssen sich beeilen. Wir wollten ihn nicht so schwer verletzen. Es war ein unglücklicher Zufall. Versuchen Sie aber nicht, uns zu verfolgen, sonst könnte sich leicht ein zweiter unglücklicher Zufall ereignen.«
Tubby hielt den Schlag offen, und Audrey stieg ein.
»Fahren Sie geradeaus«, sagte sie, »ich lese Ihnen unterdessen die Botschaft vor.« Sie hielt das Blatt Papier an das Schalterlicht. Tubby sagte kein Wort. Er schaltete die höchste Geschwindigkeit ein. Sie fuhren mit 80 Kilometer durch Wheaton; es war eine stürmische Nacht, die Straße menschenleer, als das Auto dahinraste.
Tubby war von niemandem gewarnt worden, daß der Fußweg nicht befahrbar war. Das alte Holztor stand halb offen. Tubby ließ den Motor weiterlaufen und trat in den nassen Schnee, wo er neben den alten neue Fußspuren hinterließ. Er öffnete das Tor weit, fuhr durch und befand sich auf der schlechtesten Straße, auf der er je gefahren war. Er fuhr mit der geringsten Geschwindigkeit von Schlammloch zu Schlammloch. Endlich erblickten sie durch ein Fenster einen blassen Lichtschimmer. Audrey wartete nicht auf Tubby. Sobald das Auto hielt, sprang sie hinaus, lief an den ungepflegten Büschen vorbei zum Haus, öffnete die Tür, gelangte in eine kalte, finstere Halle und folgte dem blassen Licht. Dort fand Tubby sie einen Augenblick später auf den Knien, auf Jacks totenblasses Gesicht starrend.
Er reichte ihr die Taschenlampe, kniete ebenfalls nieder, legte für eine Sekunde die Finger gegen Jacks Wange, öffnete dessen Weste und behorchte das Herz.
Dann öffnete er die starrenden Augen und brummte: »Das Licht näher! Nicht so! Beleuchten Sie sein Gesicht, nicht meins! So! Ruhig halten, bitte!« Er stützte Jacks Nacken mit einer Hand, hob den Kopf ein wenig und betrachtete die Wunde. Sie blutete noch immer, aber nicht stark.
»Brauchen Sie heißes Wasser?« fragte Audrey. »Der Herd ist noch warm.«
Tubby suchte in seiner Tasche.
»Nein. Ich werde nur einen einfachen Verband anlegen. Es ist eine Gehirnerschütterung.«
Audrey beugte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vor, die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie suchte Tubbys Augen.
»Wird er – wird er sterben?« flüsterte sie erstickend.
Tubby gab keine Antwort. Einen Augenblick lang schien er nicht recht zu wissen, was er tun solle. Dann holte er das Stethoskop hervor und horchte mit geschlossenen Augen und offenem Mund. Audrey beobachtete den gespannten Zug um seine Lippen. Ihr Herz pochte so heftig, daß sie es im Halse spürte. Tubby seufzte tief und gepreßt. Er schüttelte den Kopf.
»Können wir ihn mitnehmen?« fragte Audrey.
»Ich rufe die Ambulanz. Wahrscheinlich gibt es hier kein Telefon. Nehmen Sie die Lampe und schauen Sie nach.«
Audrey gehorchte. Tubby hörte sie von einem Zimmer ins andere gehen und sah durch die offene Tür, daß sie sich anschickte, die Treppe hinaufzusteigen.
»Kommen Sie sofort zurück!« schrie er und fügte dann sanfter hinzu: »Sie wissen ja nicht, was Sie dort oben erwarten kann.« Sie trat wieder ins Zimmer, legte die Taschenlampe auf den Stuhl und kniete neben ihn hin. »Oben ist bestimmt kein Telefon«, sagte Tubby freundlich. »Sie sagten doch, Sie hätten Angst.«
»Jetzt habe ich nur noch Angst um ihn«, gab sie tonlos zurück. »Oh, könnte ich doch das Auto lenken! Ich ginge ein Telefon suchen!«
»Haben Sie Angst hierzubleiben, während ich es tue?«
»Nein, nein! Aber wenn – wenn Jack etwas geschieht während Sie fort sind – ich weiß nicht, was ich tun soll!«
»Es kann mit ihm nur eins geschehen«, sagte Tubby. »Und wenn das geschieht, können Sie für ihn ebensoviel tun wie jeder andere.« Er stand auf und knöpfte den Mantel zu. »Ich bin so rasch wie möglich wieder da. Bewegen Sie ihn nicht. Rühren Sie ihn nicht an.«
»Es ist entsetzlich«, klagte sie, »daß er mit seinem armen verletzten Kopf auf dem schmutzigen Fußboden liegen muß.«
»Ich weiß, aber in dieser Stellung ist er keinem Druck gegen den Kopf ausgesetzt. Die Wunde ist sehr empfindlich. Lassen Sie ihn, wie er ist.«
Audreys Augen folgten Tubby zur Tür.
»Und falls er aufwacht, kann ich dann gar nichts für ihn tun?« fragte sie und schüttelte leicht den Kopf, als erwartete sie eine verneinende Antwort.
»Er wird nicht aufwachen«, antwortete Tubby ernst.
»Nie mehr?« Audrey stellte die Frage mehr mit den Lippen als mit der Stimme.
»Nicht, bevor der Druck aufhört.«
»Dann aber – dann wird er bestimmt aufwachen?«
»Ich hoffe es.« Tubbys Stimme klang nicht besonders überzeugend. »Ich kann nichts Bestimmtes sagen, bevor wir ihn in der Klinik haben.« Er kam zu ihr zurück. »Da, behalten Sie die Taschenlampe. Die Lampe hier wird sogleich ausgehen, das Petroleum ist fast zu Ende.«
»Sie brauchen doch ein Licht, um den Weg zu finden«, wandte Audrey ein. »Vielleicht gibt es im Haus Petroleum.«
Sie durchsuchten das Zimmer und die kleine Speisekammer, entdeckten aber nur eine leere Petroleumkanne.
»Tut nichts«, sagte Audrey mit erschöpfter Stimme. »Es geht auch so. Nehmen Sie die Taschenlampe und beeilen Sie sich.«
Nun saß sie neben Jack auf dem Boden. Tubby blieb vor der Tür stehen und zog die Handschuhe an. Sie schaute über die Schulter hinweg zu ihm auf. Eine Sekunde blickte er ihr gerade in die Augen, schien etwas sagen zu wollen, vielleicht ein Wort des Bedauerns, weil er sie allein lassen mußte, vielleicht des Lobes, weil sie sich so tapfer hielt. Jedenfalls fühlte Audrey, daß er ihr seine Sympathie ausdrücken wollte. Sie nahm die unausgesprochenen Worte mit einem kleinen Nicken und einem winzigen Lächeln entgegen, als denke sie: Armer Tubby! – Er schloß die Tür, und sie hörte ihn die Treppe hinauf- und dann hinuntergehen. Dann vernahm sie das Rattern des Motors. Tubby fuhr los. Sie starrte in Jacks regloses Gesicht und fühlte, sie dürfe nicht hoffen, daß er am Leben bleibe. Einsamkeit und die Empfindung eines unsäglichen Verlustes überwältigten sie. Ihr Mut schwand. Sie vergrub das Gesicht in den Händen, schüttelte hoffnungslos den Kopf und schluchzte:
»O Jack, ich ertrage es nicht! O mein Geliebter!«
Nach einer Weile verstummte ihr Weinen. Sie saß da mit geschwollenen Augen, niedergeschlagen, erschöpft, in stummem Warten. Tubby hatte ihr eingeschärft, Jack nicht anzurühren; doch dachte sie, es könne ihm nicht schaden. Sie legte die Finger leicht in seine offene Hand. Es war seltsam, daß diese starke Hand nicht mit warmem Druck die ihre umschloß. Er war so weit weg. Vielleicht würde er nie zurückkommen.
Forrester hatte von ihr verlangt, daß sie nach China zurückkehre, damit Jack durch allerlei mit ihr im Zusammenhang stehende Sorgen von seiner Arbeit nicht abgelenkt werde. Sie hatte es ihm versprochen. Und nun würde nicht sie fortgehen müssen, sondern Jack. Sie wollte auf jeden Fall nach China reisen. Bliebe Jack am Leben, so würde sie es sehr bald tun – weil Tubby es verlangte. Stürbe er, so würde sie der ermutigenden Teilnahme der Pflegefamilie bedürfen.
Die übelriechende Lampe begann bedrohlich zu flackern. Audrey stand auf, schraubte den Docht niedriger, trug sie dann taumelnd ans Fenster, wo sie ursprünglich gestanden hatte. Vielleicht war es besser, sie stand dort. Verlosch sie nicht, ehe Tubby wiederkam, so würde er an dem Licht das Haus erkennen. Sie betrachtete das schmutzige, mit Spinnengewebe verklebte Fenster und fragte sich, wie sie es ein wenig putzen könne. Dann aber sah sie etwas, das sie vor Entsetzen erstarren ließ. Ihr Herzschlag setzte aus, und sie rang nach Atem.
Außer sich vor Angst, starrte sie in ein Augenpaar. So verharrte sie eine Weile, unfähig, sich zu rühren. Die Augen senkten sich nicht. Es waren müde, hoffnungslose, angstvolle, verzweifelte Augen.
Bald darauf verschwanden sie in der Finsternis. Audrey wandte sich schwindelnd vom Fenster ab und lehnte sich gegen den Tisch. Sie fürchtete ohnmächtig zu werden. Endlich verging das Schwindelgefühl, und nun wartete sie lange, unter Anspannung aller Sinne. Dann knarrte die Klinke der Haustür – ein Mann taumelte ins Zimmer und sank auf einen Stuhl. Er schien krank zu sein, war vielleicht auch nur erschöpft. Seine Kleidung war schäbig, vom Schnee durchnäßt, Füße und Beine starrten vor Schmutz. Er beachtete sie nicht, und sie hatte bereits nach wenigen Minuten erkannt, daß sie von ihm nichts zu fürchten habe. Sie fühlte sich schwach und zitterte noch, doch war ihre Angst völlig geschwunden.
»Was suchen Sie hier?« fragte sie ruhig. »Ist das Ihr Haus?«
Ohne aufzublicken, schüttelte er den Kopf.
»Sind Sie krank?«
»Müde.«
Der Mann tat einen tiefen Atemzug. Er seufzte und reckte sich ein wenig auf. »Ich bin gelaufen«, sagte er. »Haben Sie Whisky, Miss?«
Audrey bedauerte, sie habe keinen. Der Mann sackte abermals zusammen, saß mit hängendem Kopf und baumelnden Armen da. Wenige Fuß vor ihm lag Jack, doch verriet der Mann kein Erstaunen; zweifellos wußte er von allem, war vielleicht sogar bei dem Überfall zugegen gewesen. Nun war bereits offensichtlich, daß er ihr nichts tun wolle, und ihr Herz begann wieder ruhig zu schlagen. Sie kehrte zu Jack zurück, kniete neben ihm nieder und fuhr mit den Fingern sanft über seinen Arm. Der Fremde hustete heftig. Audrey sah zu ihm auf.
»Hat Billows doch telefoniert?« fragte der Mann. »Wo ist der alte Doc Forrester?«
»Er telefoniert nach der Ambulanz«, antwortete Audrey. »Was wissen Sie von der Sache?«
»Ich wurde von zwei Männern, die mich aus dem Weg haben wollten, damit ich gegen sie nicht aussagen kann, hierher verschleppt.«
»Wohl wegen des Wasserrohrs? Sie sind Mr. Buckley, nicht wahr?«
Thomas fuhr zusammen. Nach kurzem Zögern nickte er und begann, da er sich einmal zu erkennen gegeben hatte, zu erzählen:
»Die Männer wollten den Doc einschüchtern. Daß er sich nicht einschüchtern läßt, wissen Sie wohl?« Thomas Buckley warf Audrey einen prüfenden Blick zu. »Wahrscheinlich sind Sie seine Freundin. Zumindest sehen Sie nicht wie eine Pflegerin aus. Sie wissen bestimmt, daß der Doc sich nicht bluffen und nicht mit sich herumkommandieren läßt. Also, Billows und Rusty prahlten damit, was sie alles dem Doc antun wollten, aber noch ehe sie etwas tun konnten, war die Rauferei auch schon im Gang. Der Doc hat's ihnen tüchtig gegeben. Als er dann Rusty erledigen wollte, schlug Billows ihn mit einem Sessel auf den Kopf. Er fiel hin wie vom Blitz gefällt. Da sind die beiden erschrocken. Billows sagte, er wolle in die Stadt, um einen Arzt anzutelefonieren. Rusty und ich wollten eine Weile hier warten, doch entdeckten wir dann, daß Billows die Tasche des Doc gestohlen hatte. Da nahmen wir Reißaus. Es fiel mir schwer, den Doc allein zu lassen, aber Rusty wollte unbedingt fort, und ich konnte nicht allein hierbleiben. In Angus, ungefähr fünf Meilen von hier, machten wir halt, um zu tanken, und ich lief fort.«
»Sie sind den ganzen Weg hierhergekommen, um sich der Polizei zu stellen?« fragte Audrey. »Es muß doch etwas geschehen sein, das Sie dazu veranlaßt hat.«
»Ja, das stimmt. Etwas, das Rusty gesagt hat, bevor wir Angus erreicht haben.« Thomas zögerte, aber Audreys fragende, interessierte Augen ermutigten ihn fortzufahren.
»Ja?«
»Sehen Sie, Miss, es war so. Wir waren kaum fortgefahren, als es mir schon leid tat. Ich sagte Rusty, daß der Doc gut zu mir gewesen ist.«
»Weil er Ihre kleine Tochter behandelt hat?«
»Nicht nur das. Ich hatte mich viel über die Ärzte und Pflegerinnen beklagt, und eines Tages rief der Doc mich in seine Werkstatt und sprach mit mir. Wenn Sie seine Freundin sind, wissen Sie, daß er sehr vernünftig ist. Wir sprachen auch über diese Kinderlähmung, und er setzte mir mit Fragen arg zu. Als er ans Telefon gerufen wurde, machte ich mich aus dem Staub. Er holte mich erst im untern Stockwerk ein, dort packte er mich beim Kragen und schleppte mich wieder hinauf. Er ist sehr hart, nicht wahr? Wenn man ihn so anschaut, könnte man glauben, daß er sich nur dafür interessiert, Leute auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. – Also, er fuhr mit mir in die Stadt und zwang mich, mit ihm zu Abend zu essen. – Ich war sehr hungrig.«
Audreys Augen leuchteten auf. Sie saß mit geöffneten Lippen da, streichelte sanft Jacks Hand und lauschte aufmerksam Buckleys Bericht.
»Also, das bekümmerte mich, und ich erzählte es Rusty. Der sagte, daß er sich schäme, mit mir im gleichen Auto zu sitzen.«
»Und da beschlossen Sie«, fragte Audrey ihn, »zurückzukommen?«
»Ich dachte, wenn ich ein so gemeiner Kerl und Lump bin, daß Rusty sich meiner schämt, so muß ich dagegen etwas tun, sonst …«
»Ich glaube, Mr. Buckley«, sagte Audrey sanft, »Sie haben das Rechte getan. Sie hatten Angst, zurückzukommen, und kamen dennoch. Das war sehr tapfer.«
Thomas Buckley richtete sich gerade auf und grinste.
»Vielleicht kann ich das Feuer schüren«, sagte er. Er trat an den rußigen Ofen, schürte lärmend die Asche, ging hinaus und kehrte mit einigen Holzscheiten zurück. Nachdem er sie in Brand gesetzt hatte, setzte er sich nieder. Allein das Knistern des Holzes im Ofen durchbrach die Stille. Nach einer Weile fragte Thomas: »Sind Sie erschrocken, als Sie mich durchs Fenster sahen?«
»Furchtbar«, gestand Audrey mit einem Schauder.
»Dann sind auch Sie tapfer«, meinte Buckley, bereit, den Ruhm zu teilen.
»Nicht so tapfer wie Sie, Mr. Buckley. Ich lief nicht fort, weil ich hierbleiben muß. Aber Sie waren der Gefahr entronnen und begaben sich freiwillig in sie. Wenn Dr. Beaven das erfährt, wird er sich freuen, daß er einen so guten Freund hat.«
Getröstet stand Buckley auf und beugte sich, die Hände auf den Knien, über Jack, um dessen Gesicht zu betrachten. Die Lampe, die bereits heftig geflackert hatte, ging nun völlig aus. Audrey sagte gelassen: »Vorsicht. Er darf nicht angerührt werden. Setzen Sie sich lieber.«
Plötzlich erhellte ein Strahl das nach Osten gehende Fenster. Sie sprachen kein Wort. Alsbald hörten sie das Auto näher kommen.
»Vielleicht sollte ich ihm öffnen«, meinte Thomas.
»Bleiben Sie, wo Sie sind! Das ist sicherer.«
Tubby öffnete eben die Haustür, dann fiel das Licht der Taschenlampe ins Zimmer.
»Ist alles in Ordnung?« rief er nervös. »Wie geht es Beaven? Wer ist der Mann da?«
Er blickte zornig auf Buckley. »Sind Sie der Kerl, der telefoniert hat?«
»Mr. Buckley ist den Leuten entkommen, die Jack verletzt haben. Er ist zu Fuß fünf Meilen zurückgegangen, um zu sehen, was er tun kann.«
»Hm«, brummte Tubby. Er warf noch einen grimmigen, forschenden Blick auf Buckley und kniete neben Audrey nieder. »Die Ambulanz kann jeden Augenblick hier sein«, berichtete er befriedigt. Er holte das Stethoskop hervor. »Halten Sie mal«, und er reichte Audrey die Taschenlampe. Lange horchte er Jacks Herz ab. Dann setzte er sich bequemer auf den Boden und erklärte: »Er hält noch durch.«
»Sind Sie – haben Sie Hoffnung?« fragte Audrey flehend, das Gesicht zu Tubby erhoben.
»Solange ein Mensch noch lebt …«
Sie klammerte sich an Tubbys Worte, deutete sie als einen Hoffnungsschimmer. – Jack hielt noch durch! – Ein seltsames Gefühl der Erschöpfung bemächtigte sich ihrer plötzlich. Jetzt erst merkte sie, wie müde sie war. Die lange, qualvolle Spannung, die Angst vor der Dunkelheit, der lähmende Schrecken beim Anblick des Gesichtes vor dem Fenster, Sorge und Kummer – es war zuviel gewesen. Nun erlahmte die Spannung. Sie hatte das Gefühl, als treibe sie ins Leere. Jack hielt durch – aber sie nicht! Langsam sank ihr Kopf nach vorn, und sie brach zusammen – sie brachte nicht mehr die Energie auf, ihrer Schwäche Herr zu werden.
Tubby erkannte sofort, was mit ihr geschah. Er fing sie mit einem Arm auf und fuhr sie grob an:
»He, das geht nicht!« Womit er hoffte, sie durch einen Schock ins Bewußtsein zurückzurufen. Doch Audrey hatte sich bereits völlig gehenlassen. Sie noch immer mit einem Arm festhaltend, suchte Tubby in seiner Tasche nach einem Kräftigungsmittel. Da bemerkte er plötzlich, daß Buckley aufgestanden war und sich mit drohender Miene über ihn beugte. Tubby erkannte, daß der Mann die grobe Aufforderung an das ohnmächtige Mädchen mißverstanden hatte, beachtete ihn jedoch gar nicht. Er benetzte sein Taschentuch mit Ammoniak und hielt es gegen das bleiche Gesicht, das an seiner Brust lag. Buckley sah nun, daß er das Mädchen nicht zu verteidigen brauchte, und humpelte zu seinem Stuhl zurück.
Nach einem tiefen Atemzug regte sich Audrey und versuchte sich aufzurichten. Tubby hielt sie fest und zog sie näher an sich.
»Nur Ruhe!« flüsterte er. »Es geht bald wieder vorüber!«
»Entschuldigen Sie«, flüsterte sie, hob den Kopf und seufzte tief auf.
»Geht es jetzt besser?« fragte Tubby.
Audrey rieb mit dem Handrücken die Stirn, blickte verwirrt umher, setzte sich auf und sah Tubby um Entschuldigung bittend an.
»Sie hatten recht«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Ich bin nur im Wege.«
Tubby räusperte sich geräuschvoll.
»Im Weg? Unsinn! Wer behauptet, daß Sie im Wege sind?«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Audrey streichelte Jacks unbewegliche Finger.
»Brauchen Sie das Taschentuch noch?« brummte Tubby. Sie reichte es ihm, ohne die Augen von Jacks eingefallenem Gesicht zu wenden.
»Ich bin nicht ganz zufrieden mit dem Burschen, der den Nachtdienst für dringende Fälle hat«, sagte Tubby. »Er heißt Abbott. Ich will gern glauben, daß er ein guter Arzt ist, aber er ist ein Chinese. Ich hätte lieber einen Weißen gehabt.«
»Ich glaube aber, es wäre Jack recht, wenn er wüßte, daß Dr. Abbott zu ihm kommt«, entgegnete Audrey. »Er ist mit ihm befreundet. Auch glaube ich nicht, daß Abbott als Chinese Jack stören würde.«
»Vielleicht nicht«, antwortete Tubby steif. »Besonders nicht, wenn er bewußtlos ist. Dennoch – ich sagte Abbott, er solle einen Chirurgen mitbringen.«
Audrey nickte, als wäre sie mit allem einverstanden, was Tubby für richtig hielt. Dann setzte sie sich unvermittelt gerade auf, lauschte und hob die Hand.
Nun vernahm auch Tubby das kurze scharfe Tuten. Ein greller Lichtschein fiel gegen das Fenster. Buckley eilte hinaus, von Tubby gefolgt. Audrey saß mit pochendem Herzen sehr still. Sie waren gekommen, um ihn zu holen. Nun wird es nicht mehr lange währen, bis sie wüßte, wer von ihnen beiden fortmußte – sie oder Jack?
Tubby kehrte als erster in das Zimmer zurück, er hielt die Tür offen. Hinter ihm kamen mit einer Tragbahre ein junger Mann, wahrscheinlich der Fahrer, sowie im weißen Arztkittel Abbott und dahinter – zu Audreys großer Freude und Erleichterung – Dr. Cunningham. Dieser war sehr erstaunt, sie hier anzutreffen. Zwar sagte er kein Wort, doch weiteten sich seine Augen vor Verwunderung.
Sie stellten die Tragbahre neben Jack nieder, und der Fahrer legte eine große Taschenlampe auf einen Sessel.
»Willst du ihn untersuchen?« fragte Tubby.
»Nein, nein«, antwortete Cunningham. »Du hast es ja schon getan. Ist der Puls einigermaßen? Wird er die Fahrt aushalten?«
»Es geht«, antwortete Tubby. »Wir müssen sehr vorsichtig sein. – Ein schwerer Schädelbruch.«
»Gut. Los!« Cunningham warf einen Blick auf die andern. »Ich schlage vor, daß Dr. Abbott und Miss Hilton in der Ambulanz mitfahren. Ich benutze Dr. Forresters Auto, wenn es ihm recht ist. Wer ist dieser Mann?« fragte er mit gedämpfter Stimme.
»Um den brauchen wir uns nicht zu kümmern, es ist einer, den die Rowdies, die Dr. Beaven überfallen haben, hier gefangenhielten.«
»Wir wollen ihn mitnehmen«, meinte Cunningham. Thomas lehnte an der Mauer und wartete, was mit ihm geschehen werde. »Wie heißen Sie?« Cunningham trat näher zu ihm.
»Buckley, Sir.«
»Ich habe von Ihnen schon gehört. Dr. Beaven hat mir erzählt …
Ich glaube, es gibt in deinem Auto Platz für drei, wie?« wandte er sich an Dr. Forrester.
Tubby stimmte zu, doch klang die Aufforderung an Buckley, mitzukommen, nicht besonders freundlich.
»Nachher werden Sie mich wohl der Polizei ausliefern«, brummte Buckley.
»Nicht unbedingt. Höchstens, wenn die Polizei es fordert, Freund Thomas. Wir sind Ihre Freunde. Es wird besser sein, Sie bleiben bei uns. Müssen Sie die bittere Medizin schlucken, so werden Sie dies, glaube ich, gutwillig tun. Die Tatsache, daß Sie hier sind, obgleich Sie hätten weglaufen können, spricht für Sie. Spielen Sie weiter fair. – Okay?«
Audrey war zur Seite getreten. Sie hatte erwartet, daß Tubby Anordnungen treffen und Anweisungen geben werde, doch übernahm Cunningham alles, ohne sich vorzudrängen. Es schien auch richtig, daß er es tat. Tubby nahm es nicht übel; im Gegenteil, er schien es zu begrüßen.
Die Männer legten Jack vorsichtig auf die Bahre und trugen ihn aus dem Zimmer. Tubby und Audrey folgten als letzte.
»Sie sind wohl sehr froh«, meinte Tubby, »daß Dr. Cunningham gekommen ist.«
»O ja!« flüsterte Audrey erfreut. »Sehr froh. Er ist wundervoll. – So gütig.«
Tubby hob die große Taschenlampe vom Sessel auf. Er versperrte Audrey den Weg und hielt sie mit ausgestreckter Hand auf.
»Eigentlich geht es Sie nichts an, Miss Hilton, und wir können es selbst beschließen, aber ich wüßte trotzdem gern, ob es Ihnen lieber wäre, wenn Dr. Cunningham, der so wundervoll und so gütig ist, die Operation ausführen würde?«
»O nein!« Audrey blickte erschrocken zu Tubby empor. »Sie müssen die Operation ausführen! Bitte!« Heiße Tränen rannen über ihre Wangen. Sie legte ihre Hand bittend auf Tubbys Arm. »Sie müssen ihn retten! Ich weiß, Jack würde sagen, daß niemand auf der Welt die Operation so gut ausführen kann wie Sie! O bitte!«
»Knöpfen Sie Ihren Mantel zu«, brummte Tubby. »Sie haben bestimmt patschnasse Füße. Sobald wir in der Klinik sind, stecke ich Sie sofort ins Bett.«
»Nicht, bevor ich weiß, wie die Operation ausgefallen ist«, erklärte Audrey fest.
Tubby runzelte die Stirn und deutete durch eine Geste an, Audrey möge vorangehen. Sie zögerte noch einen Augenblick und sagte mit tiefem Ernst: »Dr. Forrester. Ich glaube fest, daß Sie durch Ihre Geschicklichkeit ihn retten werden. Und dann werde ich mein Versprechen halten. Sie brauchen da nichts zu befürchten. Retten Sie ihn – dann gehe ich fort.«
Wäre sie eine Prinzessin gewesen, Tubbys Verbeugung hätte nicht ehrfurchtsvoller ausfallen können. Er nahm sogar den steifen Hut ab. Dann schritt er gemessen hinter ihr her, hochgereckt, und beleuchtete mit der Taschenlaterne den Weg.