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Drittes Kapitel

Mitte Februar, als Beaven das letzte Jahr absolvierte, befanden sich die besten Hörer seines Semesters in einem leichten Angstzustand.

Alle Prüfungen an der Medizinischen Fakultät wurden stets mit Hochachtung, wenn nicht sogar mit Furcht verfolgt; die jetzigen aber waren von besonderer Wichtigkeit, denn es hing zum größten Teil von ihrem Ausgang ab, wer dazu auserwählt werden würde, das klinische Jahr zu machen. Es bestand nur für einige wenige des letzten Jahrgangs die Möglichkeit, unter dem fachkundigen Auge der Fakultät an der Klinik weiterzuarbeiten. Die Klinik konnte nur etwa zehn aufnehmen. Die übrigen mußten sich anderswo umsehen.

Einige, deren Heimatort in großer Entfernung lag, zogen es vor, unabhängig vom Ausgang der Prüfungen ihr klinisches Jahr an dem Ort zu machen, wo sie schließlich zu praktizieren gedachten. In vielen Fällen hatte der junge Arzt in seinem Beruf einen Vater oder Onkel oder einflußreichen Freund, der ihm die gewünschte Stellung verschaffte.

Jene, die die Prüfungen mit dem größten Erfolg bestanden, genossen den Vorzug, zwei bis vier Jahre an der Universitätsklinik arbeiten zu dürfen, wo sie unter der Leitung von Männern standen, die auf ihrem Spezialgebiet als Mentoren galten. Aus dieser glücklichen Gruppe wurden alljährlich zwei oder drei noch größerer Vergünstigungen teilhaftig, indem sie bestimmten Professoren, für deren Fach sie besonderes Interesse und Talent bewiesen hatten, gewissermaßen als Assistenten beigegeben wurden.

Aber diese Verleihung von Ehre und Ruhm wirkte sich nicht immer endgültig zugunsten der Betreffenden aus, mochten sie den Prüflingen auch noch so begehrenswert erscheinen.

So wurde vielleicht Jones, der seine Prüfungen glänzend bestanden hatte, von Professor Smith, dem großen Mann auf dem Gebiete der Ohrenheilkunde, unter die schützenden Fittiche genommen. Der junge Jones hatte freien Zutritt zu Professor Smiths eigenem Laboratorium, wo er vom Topfwäscher bis zum Forscher in allen Eigenschaften verwendet wurde. Bei schwierigen Operationen stand er neben seinem Professor; in gewissen kritischen Augenblicken durfte er behilflich sein. Er schuftete mit der ganzen Demut eines Lakaien für Dr. Smith, fuhr in dessen Wohnung, um die vergessene Brille zu holen, telefonierte, was gesellschaftliche Einladungen betraf, bedauerte Absagen, wenn es sich um geschickte Lügen handelte, die der harmlosen Sekretärin, Miss Wonderley, nicht anvertraut werden konnten.

Nachdem der rührend eifrige junge Jones ungefähr zwei Jahre lang Smiths Bleistifte gespitzt, dessen Notizen verwahrt und dessen Auto zum Reinigen in die Stadt gefahren hatte, durfte er, wenn eines Nachts das Wetter besonders schlecht war, vielleicht losziehen, um die chronischen Ohrenschmerzen der Großmama Perkins zu behandeln, einer von Smiths Privatpatientinnen, die ihm, seinen Erben und Assistenten für immer von dem verstorbenen Professor Brown, Smiths Vorgänger auf dem Lehrstuhl der Ohrenheilkunde, hinterlassen worden war.

Von da an war es unmöglich, die Zukunft des jungen Jones vorauszusagen. Er konnte Smiths Assistent bleiben und immer mehr von jener Arbeit zugeschoben bekommen, die seinem Chef nicht zusagte. In diesem Fall gewann er eine reichliche Erfahrung sowohl auf dem Gebiet der Ohrenheilkunde als auch des geheimen Hungerns. War Smith rücksichtsvoll genug, zu sterben, ehe Jones selbst zu gebrechlich geworden war, um etwas leisten zu können, so war es möglich, daß er, falls die Mächtigen der Universität auf seiner Seite standen, Smiths Lehrstuhl erhielt. Doch hatte er es auch jetzt nicht leicht. Die Fakultät schrie häufig nach frischem Blut, und einer der Direktoren schien den Ausspruch »Ein Prophet gilt nirgendwo weniger denn im eigenen Vaterland« für eines der Zehn Gebote zu halten, nicht aber für einen betrüblichen Kommentar zu der auf geographischer Basis beruhenden Wertung.

Mit dreiunddreißig der Verzweiflung nahe, würde Jones vielleicht versuchen, sich für eine Privatpraxis frei zu machen, in der er dann gut weiterkommen könnte, falls seine Persönlichkeit durch die Arbeit als Smiths Kammerdiener, Ausläufer und Stiefelputzer nicht zu sehr gelitten haben würde. Die Assistentstelle galt für eine besonders große Gunst, doch war sie gefährlich wie Dynamit und kostete jungen Männern eher den Kragen, als daß sie sie förderte.

Tubby Forrester hatte seit dem ersten Januar keinen Assistenten gehabt. Der junge Royce, der fünf Jahre lang diesen Posten bekleidet hatte, war nach einem der südlichsten Staaten gegangen, um dort Anatomie zu lehren. Tubby war wütend. Als er jedoch sah, daß Royce auf seinem Beschluß beharrte, verhalf er ihm zu einem guten Posten.

Alle waren neugierig, ob Tubby einen Hörer des letzten Semesters für den freien Posten wählen werde. Er benötigte tatsächlich einen fähigen Assistenten, denn er stak bis über die Ohren in einigen Privatexperimenten auf dem Gebiet der Neuropathologie; die Inkubationsarbeiten erforderten viel Fleiß und erfahrene Aufmerksamkeit. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen war Tubby gezwungen, sein Laboratorium zu den seltsamsten Stunden aufzusuchen – in den Ferien, um Mitternacht, während der Mahlzeiten –, um die sukzessiven Phänomene zu notieren, die durch sein chemisches Gebräu hervorgerufen wurden.

Selbstverständlich wäre Jack Beaven der gegebene Kandidat für diesen Posten gewesen, das wußte ein jeder. Beaven kannte sich bei den physikalischen Aspekten der Neurologie um so vieles besser aus als seine Kollegen, daß ein Vergleich einfach lächerlich gewesen wäre. Er legte eine fast geniale Fähigkeit an den Tag. Wäre nicht die persönliche Feindschaft zwischen den beiden gewesen, Tubby hätte sich bestimmt für ihn entschieden. Die Tatsache dieser Feindschaft jedoch erschwerte die Lösung des Problems. Keiner konnte sich vorstellen, daß Tubby sich zu einer dermaßen stetigen und intimen Beziehung zu einem Mann verurteilen würde, den er immer wieder verhöhnt und beleidigt hatte. Und es war auch nicht wahrscheinlich, daß Beaven, falls das Überraschende geschehen und ihm der Posten angeboten werden sollte, zusagen würde. Unter normalen Umständen wäre er selbstverständlich gerade das gewesen, was Jack brauchte und sich wünschte. Aber die täglichen Demütigungen, die er hätte erdulden müssen, da er ihnen nicht ausweichen und sie auch nicht heimzahlen konnte, bedeuteten einen zu hohen Preis.

Während des letzten Jahres hatte Jack Tubbys Nadelstiche und Grobheiten während der Vorlesungen einfach hingenommen und sich nicht verteidigt. Bei einer Gelegenheit jedoch – eine Woche vor den Prüfungen – hatte er bewiesen, daß seine Geduld nicht der Furcht, sondern andern Gründen entsprang. Diese Episode hatte sein Verhältnis zu Forrester keineswegs gebessert.

Dr. Maxwell, die glänzende alte Leuchte auf dem Gebiet der Unterleibschirurgie, hatte eine äußerst interessante Operation eines Geschwürs vorgenommen, bei der ein kleiner Teil des Dünndarms entfernt werden mußte. Die Demonstration wurde vor den Hörern des letzten Jahres ausgeführt, die ihr mit verzückter Aufmerksamkeit folgten. Während der Operation hatte Dr. Maxwell erklärt, die natürliche Heilkraft wirke in diesem Fall so rasch, daß im Verlauf von vier Stunden die Naht geschlossen sein und der Darm seine natürliche Funktion wieder ausüben werde.

Außerdem erklärte er, daß der Schließmuskel des Pförtners sich sofort bei Beginn der Operation zusammenzöge und fünf Stunden hindurch straff bliebe. Dies geschähe, um das Eindringen des Mageninhalts in die Gedärme zu verhindern. Auf diese Art würde dem verletzten Organ genügend Zeit zur Heilung gegeben, ehe es sich von neuem an die Arbeit mache.

Nachdem der noch bewußtlose Patient aus dem Saal gefahren worden war, sagte der Arzt: »Dieses Verhalten des Pförtnerschließmuskels, durch das die Operation ermöglicht wird, gehört zwecks eingehenden Studiums ins Bereich der Neurologie. Wollen Sie über diese Phase mehr erfahren, so wenden Sie sich an Dr. Forrester. Erklärt er sie Ihnen so, daß Sie alles verstehen, so werden Sie über sie weit mehr wissen, als ich selbst weiß.«

Anscheinend hatte sich jemand mit einer diesbezüglichen Frage an Tubby gewandt, denn während der Vormittagsvorlesung – es wurde gerade die Chirurgie des vegetativen Nervensystems behandelt – erwähnte Tubby den Fall.

»Ehe ich Ihnen die konventionellen Theorien der Neurologie erläutere, würde es mich interessieren, Ihre eigenen Folgerungen zu hören. Es wäre mir lieb, wollte jeder von Ihnen über die Frage eine schriftliche Arbeit abfassen und mir diese am nächsten Donnerstag einreichen. Dieses Thema«, fügte er mit schlauem Lächeln hinzu, »gewährt jenen von Ihnen, die noch an Wunder glauben, Gelegenheit, sich auszuleben und uns die gute Botschaft zu verkünden. Vielleicht werde ich Bruder Beaven bitten, seine Predigt vorzulesen. Wir würden uns freuen, fände er, auf diesem Text basierend, eine moralische Lehre.«

Allgemein wurde angenommen, daß Tubby seine Drohung nicht wahrmachen werde. Bis Donnerstag hatte er sie bestimmt vergessen. Jack jedoch hatte beschlossen, vorbereitet zu sein, falls er seine Arbeit vorlesen mußte.

Nachdem Tubby seine Donnerstag-Vorlesung beendet hatte, sagte er: »Und jetzt wollen wir Mr. Beaven anhören. Er ist gebeten worden, uns einige Bemerkungen über die Weisheit des Pförtners mitzuteilen. Wir hoffen, daß er dem über dieses Thema bereits gesammelten Wissen noch etwas hinzuzufügen haben wird.«

Jack hatte die Arbeit Freude bereitet. Das Thema interessierte ihn brennend. Er hatte keine Mühe gescheut, sich mit den bisherigen Ergebnissen der einschlägigen Forschung vertraut zu machen. Seine Arbeit war ein gelehrtes Essay, und die Studenten lauschten ihm mit großer Aufmerksamkeit.

Nachdem Jack Dr. Maxwells Diagnose und die verschiedenen Phasen der Operation kurz rekapituliert hatte, begann er den seltsamen Dringlichkeitsakt des Schließmuskels zu erläutern.

»Dr. Maxwell hat uns gezeigt«, führte er aus, »daß sich der Schließmuskel in dem Augenblick, da der Darm abgetrennt wird, fest schließt und eine Stunde länger geschlossen bleibt, als die Natur benötigt, um den Schaden wiedergutzumachen. Es ist klar, daß das vegetative System über ein Signal verfügt, das sich im Augenblick der Verletzung dem Schließmuskel übermittelt. Doch genügt diese Erklärung nicht. Der Darm war durch ein Geschwür bereits verletzt gewesen, diese Verletzung war ernst genug, um die Annahme zu gestatten, daß der Säuregehalt des Magens, der weiter über den verletzten Teil floß, eine noch gefährlichere Verletzung herbeiführen würde. In diesem Fall hatte der Schließmuskel kein Signal gegeben, oder es blieb, falls es gegeben wurde, unbeachtet. Der Schließmuskel schien der Ansicht zu sein, daß die Arbeit der Verdauung, ungeachtet der ungünstigen Umstände, weiterzugehen habe. Im Augenblick jedoch, da die Operation begann, die dem verletzten Teil Heilung verhieß, war der Schließmuskel zur Mitarbeit bereit. Er hatte gewußt, daß es bis dahin keinen Sinn gehabt hätte, irgend etwas zu tun.«

Die Hörer bemerkten belustigt, daß Jack sich anschicke, auf das Gebiet der Ethik abzuschweifen. Alle blickten von Tubby auf Jack und wieder zurück. Tubbys Gesicht war interessant. Er saß mit abgewandten Augen, spielte mit seinem kleinen Schnurrbart und lauschte mit achtungsvoller Aufmerksamkeit.

»Es war vorgeschlagen worden«, fuhr Jack fort, »die moralischen Folgerungen dieses Problems in Betracht zu ziehen. In meiner Eigenschaft als Semesterprediger wage ich es, liebe Brüder und Schwestern, eure Aufmerksamkeit auf den merkwürdig gesunden Menschenverstand des Schließmuskels zu lenken. Er wird durch das vegetative Nervensystem davon benachrichtigt, daß sich in einem der Eingeweide etwas abspielt, das, ließe man es längere Zeit gewähren, die ganze Institution ruinieren würde. Ein unkluger, ungeduldiger, labiler Schließmuskel würde geneigt sein, dem beschädigten Darm zu sagen: ›Offensichtlich taugst du nichts. Du bist da, um zur Ernährung des Körpers deinen Teil an der Verdauung zu leisten. Aber du kümmerst dich nicht um deine Aufgabe. Im Gegenteil: Bei jeder Aufgabe, die man dir stellt, wird es dir immer schwerer, dich zusammenzunehmen und durchzuhalten. Da dies der Fall ist, werde ich mich fest schließen, und du wirst überhaupt nicht arbeiten können. Wir nehmen deinen Rücktritt an. Das Begräbnis ist für Montag angesetzt. Freunde können entweder Blumen schicken oder es auf Wunsch der Hinterbliebenen unterlassen, um dann insgeheim ob ihrer Unhöflichkeit verflucht zu werden.‹«

Tubby grinste entgegen jeder Erwartung, und die Hörer zollten Jack den Tribut anerkennenden Gelächters.

»Weil jedoch der Schließmuskel klug ist, weil er über eine Weisheit verfügt, die jene übersteigt, die für gewöhnlich zwischen Schopf und Kragenknopf erwartet wird, gestattet er dem Mageninhalt, durchzuströmen. Er tut es widerstrebend und von dem Wunsche beseelt, die Dinge möchten anders sein; doch will er aus einer gereizten Stimmung heraus nicht die ganze Geschichte kaputtmachen. Wie wunderbar auch immer uns das Vorgehen des Schließmuskels erscheinen möge, der sich für eine Periode von fünf Stunden schließt, sobald es ihm klar wird, daß eine Kraft von außen her sich an die Reparatur des verletzten Darmes gemacht hat, so ist, meiner Ansicht nach, geliebte Gemeinde, dieses Phänomen lange nicht so schwer zu begreifen wie die Geduld des Schließmuskels, der sich in den Tagen, da die Dinge keineswegs in Ordnung sind, weigert, drastisch vorzugehen. Man hat das Gefühl, daß es in einem solchen Fall für den Schließmuskel das einfachste wäre, sich zu schließen; er aber beweist gerade durch Nachsicht und Zurückhaltung angesichts der Unfähigkeit eines andern Organs seine große Weisheit.«

Eine kurze Pause trat ein, dann sagte Beaven in ernstem Ton, von dem man nicht recht wußte, ob er ehrlich oder spöttisch gemeint sei: »Gott gebe uns allen diese Eigenschaften!«

Während die Hörer Beifall klatschten, stand Tubby auf. Als im Saal wieder Stille eingetreten war, sagte er: »Bruder Beavens Auslassung über das milde, von dem kleinen weisen Schließmuskel bewiesene Erbarmen war ungemein anregend. Fürchtete ich nicht, unsere nächsten Nachbarn zu stören, ich schlüge vor, diese Versammlung mit der großen Doxologie zu schließen: die Gemeinde ist, ohne Beihilfe des Klerus, entlassen.«

 

Am Tage nach den Halbsemesterferien wurden die Senioren zusammengerufen. Die Liste der neuen Assistenten sollte zur Verlesung gelangen. Tubby hielt bei derartigen Anlässen als Vorsitzender der Fakultät eine kurze Ansprache und erklärte bedauernd, daß die Universitätsklinik leider nicht Raum für mehr junge Ärzte habe.

Tiefe, gespannte Stille herrschte. Jene, die fühlten, daß nur ein bloßer Bruchteil einer Sekunde sie von der Erlangung oder Nichterlangung des ersehnten Postens trennte, lauschten mit starren Gesichtern und heftig pochenden Herzen. Tubby setzte den goldgefaßten Zwicker auf und griff nach einem Papierblatt.

Jack Beavens Name stand als erster auf der Liste. Ein Aufatmen der Verblüffung wurde vernehmbar, gefolgt von spontanem Beifallsklatschen. Tubby errötete leicht und hob, Ruhe gebietend, die Hand. Einen Augenblick verharrte er schweigend, blinzelte und erweckte den Eindruck, als wolle er etwas hinzufügen. Dann jedoch schien er es sich anders überlegt zu haben, und er las weiter. Da das Auditorium nun bereits einmal applaudiert hatte, blieb es dabei und klatschte bei jedem Namen. Tony Wollason versuchte gar nicht, seine Freude zu verbergen, als er unter den Namen der Unsterblichen als letzten den seinen vernahm.

Für die Bekleidung besonderer Posten führte Tubby aus, seien in diesem Jahr nur zwei vorgesehen, Mr. Thomas, dessen Arbeiten über Blut und Haut vielversprechend waren, erhalte die Aufforderung, Dr. Meekers Assistent zu werden. Ein kurzes Beifallsklatschen begrüßte Thomas, den niemand gut kannte; er war ein büffelnder Maulwurf.

Tubby legte die Papiere gerade übereinander. Dies war das Zeichen für den Schluß der Sitzung. Er nahm den Zwicker ab und schien ungewiß, in welche Form er die letzte Ankündigung kleiden solle.

»Jetzt«, erklärte er mit leicht spöttischem Lächeln, »werde ich die geheimnisvolle Weisheit des Pförtnerschließmuskels nachahmen.«

Das Semester, das den Sinn der Worte sofort begriff, brach in Applaus aus. Man konnte über den alten Teufel sagen, was man wollte, eigentlich war er ja doch ein famoser Kerl! Tubbys Aktien stiegen unerhört.

Jack errötete leicht; er wußte, daß die andern gern seine Gedanken erraten hätten.

Tubby fuhr ruhig fort:

»Ich lade Bruder Beaven ein, im kommenden Jahr in meinem Laboratorium zu predigen. Er soll mir als Privatkaplan dienen. Die übrige Zeit wird er mit einem Auge auf den Reagenzgläsern und dem andern auf der Uhr verbringen oder, wenn es sich um langwierigere Experimente handelt, auf dem Kalender.« Er verstummte nachdenklich. »Diese Wahl«, tastete er sich mit zusammengekniffenen Augen vor, »dürfte allgemeines Erstaunen hervorrufen. Sollte Ihnen jemals jemand sagen, daß an der Medizinischen Fakultät die Wahl für spezielle Posten auf persönlicher Kongenialität oder Bevorzugung beruhe oder daß sie durch private Antipathie oder Vorurteile vereitelt werde, so hoffe ich, Sie werden sich daran erinnern, daß Beaven und ich nur im Interesse der neurologischen Forschung zusammenarbeiten.«

Das war ein dramatischer Augenblick. Das Semester hatte die Empfindung, es sei ihm vergönnt, einer ungewöhnlichen Szene beizuwohnen. Die analytisch Veranlagten, die sich schmeichelten, viel von Psychologie zu verstehen, hatten den Eindruck, daß Tubby, der vor einer Aussprache mit Jack über ihr gegenseitiges Verhältnis zurückscheute, seine Einstellung vor der ganzen Hörerschaft kundgetan hatte. Ein etwas merkwürdiges Vorgehen, aber nicht merkwürdiger als viele andere impulsive Handlungen des launenhaften Neurologen.

Tubby deutete mit einer Gebärde an, daß er nichts mehr zu sagen habe, und machte eine betont ehrfurchtsvolle Verbeugung vor seinem neuen Assistenten. Plötzlich wurde es totenstill im Saal. Jack war aufgestanden. Er verbeugte sich respektvoll vor Tubby und sagte mit fester Stimme: »Ich werde mein möglichstes tun, Sir. Auch ich bin der Überzeugung, daß ›das Schiff mehr wert ist als die Bemannung‹.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie dem Kapitän gehorchen werden, auch wenn Sie ihn nicht leiden können?«

Jack nickte.

»Ja, Sir, genau das«, erwiderte er und setzte sich.

»Dies«, meinte Tubby, »ist ein Schulbeispiel wissenschaftlichen Geistes. – Das ist alles. Sie können gehen.«

Von den in alle Richtungen verstreuten Medizinern, die als Studenten und während des klinischen Jahres unter Dr. Forresters gemeiner Behandlung gelitten hatten, gab es nur wenige, die ihm auf die Dauer etwas nachtrugen.

Meist sprachen sie von ihm wie über jene höheren Semester, von denen sie bei der Aufnahme in die Burschenschaft unbarmherzig gequält worden waren; das Ganze war etwas, worüber man nach einigen Jahren lachte.

Doch gab es auch eine kleine Zahl, für die Tubbys Roheit kein Witz gewesen war und es auch nie sein würde, selbst wenn sie bis hundert lebten. Das waren jene Männer, die verhöhnt, gequält und bisweilen von der Universität fortgeekelt worden waren, weil sie, vielleicht ganz unabsichtlich, den alten Kater gegen den Strich gestreichelt hatten.

Im Laufe der Jahre kam es ziemlich häufig vor, daß ein Student, der weitere Demütigungen nicht zu ertragen vermochte, seine Sachen packte und die Universität oder die Klinik verließ. In solchen Fällen sprach er seinen Vertrauten gegenüber einen Fluch über Tubby und schwor bei allen Göttern, es ihm einmal – irgendwie, irgendwo, irgendwann – heimzuzahlen. Doch pflegte sich, wie das von einer solchen tobenden Wut nicht anders zu erwarten ist, diese zu verflüchtigen, sobald die Aufmerksamkeit des Beleidigten durch andere Sorgen oder nutzbringende Posten abgelenkt wurde.

Unter den Studenten der Medizin und auch unter den jüngeren Ärzten herrschte allgemein die Ansicht, daß Tubby einmal der Kopf abgebissen werde. Doch entsprang diese Ansicht dem Wunsch, daß jemand es tun möge. Denn es wäre keinem von ihnen eingefallen, Tubby, wie sehr er es auch verdienen möchte, körperlich zu züchtigen.

Dr. Lawrence Carpenter, Student der Medizin, Semester 1920, hatte weder geschimpft noch gedroht, als er im dritten Jahr die Universität verließ. Er hatte nur für Dr. Forrester einen Brief hinterlassen, in dem er kurz und geschäftlich mitteilte, er habe das Gefühl, daß er sich an einer andern Universität wohler fühlen werde. In einem Postskriptum stand: »Hoffentlich treffe ich Sie eines Tages.«

Der Hauptfehler des jungen Carpenter war eigentlich völlig harmlos. Er kam aus einer reichen Familie und war gewohnt, sein Monatsgeld hinauszuwerfen; er trug teure und etwas auffallende Anzüge, lebte in einem eleganten Appartement und fuhr in einem Stromlinien-Auto, das über genügend Pferdekräfte verfügte, um mit gesetzwidriger Geschwindigkeit das zehnfache Gewicht des jungen Mannes fortzubewegen.

Anscheinend war Larry Carpenter nie auf die Idee gekommen, daß seine gedankenlose Verschwendungssucht in einer Umgebung, wo fast alle bescheiden, wenn nicht gar dürftig lebten, unangenehm auffallen könnte.

Zum Glück machte er sie durch sein kameradschaftliches, demokratisches, herzliches Wesen ein wenig gut. Mußte das Semester zu irgend etwas beisteuern, so gab er, auf bescheidene Art, mehr als seinen Anteil her. Er lud die Kollegen häufig ein und wählte seinen Verkehr keineswegs nach dem irdischen Besitz der jungen Männer. Zweifellos beneideten einige seiner Kollegen ihn um seine Anzüge, aber es war dies ein gutmütiger Neid. Sie neckten ihn mit seiner Riesengarderobe, doch versuchte, mit einer einzigen Ausnahme, keiner, ihm das Leben schwerzumachen. Diese Ausnahme war: Tubby Forrester.

Tubby hatte vom ersten Augenblick an gegen Carpenter eine wilde Abneigung empfunden. Allgemein wurde angenommen, diese Antipathie entstamme der einfachen Tatsache, daß Carpenter kein besonders fleißiger Student war, sich die Arbeit leichtmachte – und sich von Tubbys ironischem Tadel nicht unterkriegen ließ. Die schärfer Sehenden jedoch glaubten, es sei der Reichtum des jungen Mannes, der Tubby reizte. Dieser Reichtum verlieh Carpenter eine gewisse Unabhängigkeit. Wollte Tubby jemanden tadeln, so ging er mit wissenschaftlicher Genauigkeit an die Arbeit; er erforschte die schwachen Stellen seines Opfers und zielte mit sicherer Hand dorthin, wo es am wehesten tat. Doch gelang es ihm, soweit es sich um Larry handelte, nie, ins Schwarze zu treffen. Larry pflegte zu grinsen, als wolle er sagen: »Unterhalten Sie sich auf meine Kosten, Doc, aber vergessen Sie nicht, daß ich keineswegs gezwungen bin, hierzubleiben.« Bisweilen deutete einer der Studenten im Vertrauen an, daß Tubby neidisch sei. – An seiner Vorliebe für die guten Dinge des Lebens war nicht zu zweifeln. Tubby kleidete sich gut, und im Vergleich mit seinem Auto sahen die meisten wie altes Gerümpel aus. Reiste er im Sommer nach Europa, so fuhr er mit einem Fünftageschiff in einer Luxuskabine auf Sonnendeck. Tubby war vermögend, und es störte ihn nicht, wenn andere dies wußten.

Vielleicht hatte diese Tatsache etwas mit seinen Gefühlen für Larry Carpenter zu tun, vielleicht auch nicht. Jedenfalls begann Tubby sehr bald, Larry zu schikanieren. Hatte der unselige junge Mann eine schwierige oder absichtlich kompliziert gestellte Frage falsch beantwortet, so deutete Tubby an, Carpenters Chancen würden sich bei dem Examen bessern, wollte er nicht soviel Zeit auf die körperliche und mehr auf die geistige Verschönerung verwenden. Konnte ein anderer eine Frage nicht beantworten, so blickte Tubby fast immer mit einem Ausdruck des Abscheus auf Larry und meinte: »Sie wissen es auch nicht, wie?«, bis Larry dieser unangenehmen Fragerei ein Ende bereitete, indem er eines Tages frech erwiderte: »Bestimmt nicht!«

Schließlich jedoch wurde es so arg, daß Carpenter es nicht mehr aushielt und die Universität verließ. Vielleicht wäre damit die Angelegenheit beendet gewesen, hätte Tubby nicht bei seiner Feindseligkeit beharrt. Als der Dekan einer am Meer gelegenen Universität über Larry Erkundigungen einzog, gab Tubby eine Auskunft, die die Ablehnung des jungen Mannes zur Folge hatte. Vielleicht glaubte er selbst, nur aufrichtig gewesen zu sein. Er schrieb, Carpenter sei ein schlechter Schüler, was schließlich auch stimmte, und fügte hinzu, es sei zu dessen Vorteil, wenn er weniger Geld und mehr Verstand besäße.

Larry war zwar etwas aus der Fassung gebracht, doch keineswegs bereit, sich geschlagen zu geben. Er beriet sich mit dem Hausarzt der Carpenter, der eine prompte und umfassende Untersuchung anstellte, die den Erfolg hatte, daß Larry, nach einer großen Verspätung, zum Studium an der Universität zugelassen wurde. Doch sprach sich herum, daß er wegen Unannehmlichkeiten an seiner alten Universität zu dieser seltsamen Zeit – einen Monat vor Semesterende – inskribiert habe, und er wurde auch nur vorübergehend zugelassen.

Larry zog aus diesem peinlichen Erlebnis keinerlei Nutzen; er führte sein altes Leben weiter, was ihn bei einer Institution, wo er ohnehin mit Mißtrauen betrachtet wurde, noch verdächtiger machen mußte. Er hatte es auch hier schwer und sah sich nach Ablegung der Prüfungen gezwungen, in einem Spital zu arbeiten, wo es nur wenig klinisches Material gab. Seiner Überzeugung nach wurde er von allen schlecht behandelt.

Eine nüchterne Überprüfung seiner Kümmernisse hätte ergeben, daß er selbst an ihnen schuld sei. Sogar seine intimen Freunde wußten, daß es nicht möglich sei, das Leben zu genießen und zugleich eine gute Behandlung von ernsten, gleich Sklaven schuftenden Menschen zu erwarten, die sich jeden Bissen vom Mund absparen mußten. Larry jedoch war überzeugt, daß an allem einzig und allein Forrester schuld sei. Und je mehr er darüber grübelte, desto fester wurde sein Entschluß, es ihm heimzuzahlen.

Das Problem, eine Privatpraxis zu eröffnen – etwas, das selbst unter den günstigsten Verhältnissen schwierig genug war –, erwies sich als unlösbar. Larry ließ sich an einer besseren Privatklinik anstellen und hoffte auf diese Weise durch seine gesellschaftlichen Verbindungen bemittelte Patienten zu finden. Aber anscheinend hatten seine Bekannten aus der Gesellschaft zu ihm mehr Vertrauen am Karten- als am Operationstisch. Sie mieden sein prunkvolles Ordinationszimmer, als sei dies von einer tödlichen Infektionskrankheit verseucht.

Larry unternahm zusammen mit einem halben Dutzend reicher und müßiger Freunde eine Reise in die Südsee, die sich gleich von Anfang an in ein ununterbrochenes Trinkgelage verwandelte. Bis dahin war Larry, wenngleich er ganz gern trank, mäßiger gewesen als die meisten seiner Bekannten. Jetzt jedoch, seelisch und körperlich ohne festen Boden unter den Füßen, verlor er alle Hemmungen. Wenn er sich elend fühlte und Reue und jämmerliches Selbstbedauern empfand, schob er die ganze Schuld an seinen Exzessen Tubby in die Schuhe und schmiedete Rachepläne.

Bisweilen, wenn er mit sich nichts anzufangen wußte – hatte er versucht, sich sinnlos zu betrinken, so war er nachher immer roh und streitlustig –, sprach er unentwegt von dem ihm angetanen Unrecht und von seinen Racheabsichten; doch kümmerte sich niemand darum. Höchstens daß der eine oder andere ihm sagte, er sei ein verdammter, total besoffener Narr. Damit jedoch war nicht alles erledigt, denn Larry nahm, ob er nun nüchtern oder betrunken war, seine Rachegelüste ernst.

Das Jahr ging zu Ende, und die Medizinische Fakultät hatte ihre Arbeit abgeschlossen. Die Senioren, die hier blieben, verbrachten die ersten Ferientage müßig, während jene, die endgültig fortgingen, ihre Sachen packten. Das neue Semester nahte. Die Stadt war voll von Besuchern, Eltern, Alumni und weisen Männern von andern Universitäten.

Carpenter, dessen Semester eine Feier veranstaltete, hatte intimen Freunden mitgeteilt, daß er am Dienstagabend im Hotel Livingstone ein Fest gebe. Sie sollten sofort nach dem Baseballmatch in die für ihn reservierten Zimmer kommen. Das Fest entwickelte sich zu einer wilden Orgie. Die Hotelleitung bekundete nachher, daß das Haus wohl an Lärm und zerbrochene Gegenstände gewöhnt war, doch sei in dieser Beziehung diesmal ein Rekord aufgestellt worden. Als der Morgen dämmerte, brachte Larry seine Gäste in ihre Zimmer, doch ging er selbst nicht zu Bett. Zum Frühstück aß er einen großen Teller Zwiebelsuppe, nahm Sodabikarbon ein und trank zwei schottische Highballs. Dann nahm er ein heißes Bad, rasierte sich mit nervösen Händen, schnitt sich dabei mehr als einmal und verlangte sein Auto.

Gegen acht erreichte er die Medizinische Fakultät und begab sich nach Tubbys Zimmer. Er hoffte ihn zu dieser frühen Stunde anzutreffen. Larry trug keine Waffe bei sich, doch glänzten seine Augen kriegerisch.

Als er ohne Anklopfen das Zimmer betrat, saß Tubby an seinem Schreibtisch. In wenigen Minuten mußte er sich in die Quästur begeben, wo die Fakultäten sich zu dem üblichen Umzug nach der Aula versammelten. Dort würde Tubby in Vertretung des Dekans Emery die Namen jener Studenten verlesen, die die Aufnahmeprüfung bestanden hatten. Sein feierliches schwarzes Gewand, auf den Ärmeln die symbolischen grünen Schlangen, die sich um einen Stab ringelten, hing über einer Stuhllehne, die goldgrünschwarze Seidenkapuze war zusammengelegt über den Schreibtisch gebreitet, daneben die viereckige Kopfbedeckung mit der goldenen Quaste. All dies hatte Tubby seit sechzehn Jahren zu Semesterbeginn getragen – heute jedoch würde er es nicht tun. Der Rektor teilte später bedauernd mit, daß Dr. Forrester durch einen Unfall am Erscheinen verhindert sei, Dr. Osgood werde die Kandidaten der Medizin vorstellen.

Tubby sah den Eindringling an, den er nicht sofort erkannte, zwinkerte ein paarmal und legte die Feder beiseite.

»Ich sehe, Sie erinnern sich meiner nicht, Tubby«, sagte Carpenter herausfordernd. »Sie haben mich vor sechs Jahren hinausgeschmissen und nachher durch einen dreckigen Brief diskreditiert.«

»Sie sind betrunken«, entgegnete Tubby. »Ich rate Ihnen, irgendwo Ihren Rausch auszuschlafen. Wenn Sie nachher mit mir reden wollen, bin ich bereit, Sie anzuhören.«

Larry torkelte nach vorn, stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und brummte: »Wenn ich besoffen bin, so ist das Ihre Schuld. Und was ich Ihnen sagen will, werde ich Ihnen jetzt sofort sagen.«

»Versuchen Sie sich wie ein Gentleman zu benehmen«, meinte Tubby von oben herab. »Wenn Sie darauf bestehen, mit mir zu sprechen, so nehmen Sie den Hut ab und setzen Sie sich. Fassen Sie sich kurz.«

»Ich nehme«, sagte Carpenter undeutlich, »den Hut nur an Orten ab, die die Achtung eines anständigen Menschen verdienen. Und ich bin auch nicht gekommen, um Ihnen einen Besuch abzustatten und mich zu setzen. Ich habe mir vor langer Zeit geschworen, hierher zurückzukehren und Ihnen eine herunterzuhauen. Heute ist gerade der rechte Tag dafür. Vielleicht ist es Ihnen etwas peinlich, daß ich in dem Augenblick auftauche, da Sie sich anschicken, in vollem Ornat zur Aula zu gehen. Aber das ist Ihre Sache, nicht die meine. Wenn Sie nun einmal bunte Kleider lieben, so können Sie dazu noch eine rote Nase und ein blaues Auge bekommen. So – wollen Sie dazu sitzen bleiben, oder ziehen Sie vor, aufzustehen?«

»Danke, ich werde aufstehen«, erwiderte Tubby und schob seinen Stuhl zurück. »Ich bin im Raufen nicht besonders bewandert, habe das immer meinem Hund überlassen.«

Larry schritt um den Schreibtisch herum und spreizte die Beine.

»Es wäre besser, den Zwicker abzunehmen«, warnte er.

Tubby schien der gleichen Ansicht und legte den Zwicker langsam, gelassen fort.

»Schade, die Fratze zu ruinieren«, höhnte Carpenter und trat einen Schritt vor.

In diesem Augenblick nahm Tubby mutig den Kampf auf. Was er über seine Unerfahrenheit gesagt hatte, stimmte. Er schlug mit beiden Händen zu, wobei er die Augen geschlossen hielt. Carpenter trat ein wenig zurück, überlegte und ging los. Tubbys Mut war bewundernswert, doch hatte er eine schlechte Technik. Er ließ den Bauch ungedeckt. Als ihm der Atem ausging, begann er mit dem Kinn zu arbeiten. Sein Fleisch war weich, und Carpenters Knöchel waren hart. Es währte nicht lange, und sie befanden sich in der Mitte des Zimmers. Tubby hatte das Gefühl, er brauche mehr Platz, und Larry war gern bereit, diesem Wunsch nachzukommen. Über Tubbys linkem Auge klaffte eine Wunde, und seine Nase blutete. Beide waren überzeugt, der Kampf werde bald beendet sein.

Da wurde die Tür geöffnet.

Beaven war in Tubbys Laboratorium gewesen, um die Temperatur einer Inkubation zu prüfen. Auf dem Weg hinaus hörte er in Tubbys Zimmer Lärm. Einen Augenblick lauschte er gespannt – dann öffnete er die Tür. Die Kämpfenden hielten inne, um zu sehen, wer gekommen sei. Tubby keuchte heftig. Sein Gesicht war kalkweiß, er blutete aus einem halben Dutzend Wunden.

»Hinaus!« brüllte Carpenter, als Beaven zwischen die beiden trat. »Ich will meine Arbeit beenden!«

Tubby lehnte erschöpft gegen den Rand des Schreibtisches, hielt sich an ihm fest und wankte. Carpenter stieß Beaven beiseite und hob den Arm zum letzten Schlag. – Noch ehe er ihn führen konnte, wurde er plötzlich im Kreis herumgewirbelt.

»So«, schnappte er, dem neuen Feind ins Gesicht bückend. »Sie wollen auch dabeisein? Da haben Sie!« Er schlug wild zu, doch er traf in die Luft.

Jack war keineswegs über die ihm zugefallene Aufgabe erfreut, es war offensichtlich, daß der große Kerl sich in einem Zustand trunkener Wut befand; doch war es nicht an der Zeit, Rücksicht zu üben. Es hatte keinen Sinn, den Kampf zu verlängern. Der andere war wie tobsüchtig und mußte rasch erledigt werden. Jack wählte bedacht eine Stelle des Kiefers unter dem zweiten Vorderzahn, wo der Kanal in das Gewebe des fünften Nervs ausläuft, und landete dort einen Schlag, der das bronzene Standbild eines Generalmajors aus dem Sattel gehoben hätte. Carpenters Knie knickten ein, und er sank weich zu Boden.

Jack trat ans Telefon und verlangte die Medizinische Bibliothek. Dort hatte er vor zehn Minuten Wollason verlassen, der einige Bücher zurückgebracht hatte und warten wollte, bis Jack seine Arbeit im Laboratorium beendet haben würde.

»Kommen Sie in Dr. Forresters Zimmer«, sagte Jack gelassen. »Ein kleiner Zwischenfall. Sagen Sie nichts, kommen Sie rasch!«

Tubby hatte sich auf die andere Seite des Schreibtisches getastet und war auf einen Stuhl gesunken. Er raffte sich mühsam auf und beobachtete Beaven, der auf einem Knie den gefallenen Krieger untersuchte.

»Ist er schwerverletzt?« fragte Tubby heiser.

Jack klappte das Lid zurück, fühlte den Puls, knöpfte den Kragen auf.

»Er wird sich bald erholen«, sagte er. »Wer ist er?«

»Ein einstiger Student«, brummte Tubby. »Ein Säufer.«

»Hm.« Jack nickte verständnisvoll.

»Ich hoffe, die Angelegenheit läßt sich geheimhalten«, meinte Tubby mit ausgetrocknetem Hals.

»Ja, Sir.«

Tony Wollason öffnete die Tür und betrachtete den sich ihm bietenden Anblick mit weitaufgerissenen Augen.

»Großer Gott!« rief er. »Was ist geschehen?«

»Schließ die Tür, Tony. Dieser besoffene Boxer drang hier ein und überfiel Dr. Forrester. Die Sache darf nicht bekanntwerden. Gib ihm irgendein Mittel ein und bleib bei ihm, bis er wieder auf den Füßen stehen kann. Dann bring ihn in einem Taxi zu Mutter Doyle und leg ihn in mein Bett. Aber warte, bis niemand mehr im Haus ist. Es werden ohnehin bald alle in der Aula sein.«

»Aber, Teufel, Jack, was ist mit der Feier?«

»Wir werden noch rechtzeitig hinkommen, um unsere Diplome zu erhalten.« Dann wandte er sich an seinen verletzten Chef. »Wenn Sie soweit sind, Doktor, gehen wir ins Laboratorium hinüber, und ich werde versuchen, Sie zusammenzuflicken.« Er nahm Tubby beim Arm, führte ihn durch den Vorlesungssaal ins kleine Laboratorium, wo er ihn sanft auf einen Sessel sinken ließ. Tubby war blaß und wacklig.

»Ist Ihnen übel?« fragte Jack mit berufsmäßiger Kälte. Er zündete unter einem kleinen Sterilisator das Gas an.

»Ein wenig«, stöhnte Tubby schwach.

»Wollen Sie erbrechen oder sich hinlegen – oder beides?« Jacks Stimme klang völlig gleichgültig. Er trat zu einem Glasschrank, entnahm diesem eine Schere, antiseptisches Verbandszeug, Heftpflaster und einige klinische Nadeln.

Tubby reckte sich bedrohlich, und Jack kam mit einer Schüssel. Dann ging er in den Seziersaal hinüber, rollte einen Seziertisch ins Laboratorium und half seinem vornehmen Patienten, sich daraufzulegen. Tubby sank mit einem Aufstöhnen zurück. Jack begann die blutigen Wunden zu reinigen.

»Ein Segen, daß Sie kamen«, flüsterte Tubby schließlich. »Der Kerl hätte mich totgeschlagen.«

»Wahrscheinlich«, meinte Jack, während er die offenen Wunden mit einer starken antiseptischen Flüssigkeit säuberte. »Deshalb schlug ich ihn nieder, ich konnte nicht zulassen, daß Sie umgebracht wurden.«

»Er kam, um eine alte Rechnung zu begleichen«, erklärte Tubby und ballte, da die antiseptische Flüssigkeit einen heftig brennenden Schmerz hervorrief, die Hände zur Faust.

»Ich weiß nicht, wieviel er Ihnen schuldig war«, Jack hielt inne, um eine Nadel zu desinfizieren, »jedenfalls scheint er ziemlich viel abgezahlt zu haben.«

Tubby grinste säuerlich und schloß, als Jack zu nähen begann, die Augen. Doch zuckte er kein einziges Mal zusammen.

»Er hat mich überrascht«, brummte Tubby.

»Ich verstehe nicht ganz, weshalb Sie überrascht waren, Sir«, sagte Jack, in seine heikle Arbeit vertieft. »Wenn Sie es erlauben, so kann ich nur sagen, daß Sie schon lange für eine tüchtige Tracht Prügel reif waren.«

»Sie sind vielleicht der Meinung, auch von Ihrer Seite?« fragte Tubby mühselig. »Wenn ja, weshalb haben Sie sich dann eingemischt?«

»Einerseits, weil Sie für die Gehirnchirurgie von großer Wichtigkeit sind. Andererseits, weil ich eine Menge Dinge erfahren will, die außer Ihnen niemand weiß.« Jack griff gelassen nach der Schere und schnitt die von einer Naht herabhängenden Fäden ab.

Tubby öffnete die Augen und starrte in Jacks ungerührtes Gesicht.

»Das«, meinte er nachdrücklich, »ist die herzloseste Bemerkung, die jemals von einem Mann einem anderen gegenüber gemacht wurde.«

Jack fädelte die Nadel abermals ein und begann seine Arbeit an einer anderen Stelle.

»Da ich weiß, wie Sie zu Teilnahme und Gefühlen stehen«, sagte er, »so danke ich Ihnen. Wäre die Sache umgekehrt, Sie hätten keine Ursache gehabt, mein Leben zu retten.«

»Sie tun sich selbst Unrecht, Bruder Beaven«, erwiderte Tubby und schielte nach dem nächsten Stich. »Ich kann Sie gut gebrauchen.«

Jack betrachtete seinen Patienten mit neuem Interesse.

»Nach der Begebenheit von heute nahm ich an, Sie würden mich nie mehr sehen wollen.«

»Würden Sie all dies aus persönlichen Gründen getan haben, so hätten Sie mit Ihrer Annahme vielleicht recht behalten. Denn dann wäre ich Ihnen gegenüber im Nachteil gewesen. Aber Sie haben es ja nur als Berufspflicht aufgefaßt. Sie wollten nicht müßig zusehen, wie ich getötet würde, weil ich Dinge weiß, die Sie erfahren wollen. Aus dem gleichen Grund nähen Sie jetzt meine Wunden. Ich schulde Ihnen also nichts. Wäre, wie Sie bemerkten, die Sache umgekehrt, ich glaube, ich hätte mich Ihnen gegenüber ähnlich verhalten. Sie werden mir im Laboratorium als Assistent große Dienste leisten. Ich verlöre Sie ungern.«

Jack schnitt ein Stück Heftpflaster von der Rolle ab und klebte es auf Tubbys Wange.

»Es freut mich, Sir, von Ihnen zu erfahren, daß unser Verhältnis rein beruflich bleiben wird. Jetzt, da wir beide es wissen, können wir mit mehr Nutzen zusammen arbeiten.«

»Warum mit mehr Nutzen?« brummte Tubby.

»Als wenn Sie fürchten müßten, daß ich durch das stete Zusammensein eine Zuneigung zu Ihnen fassen könnte! Sie können getrost jede derartige Besorgnis verbannen.« Jack strich mit fester Hand das letzte Stück Heftpflaster glatt. »Wollen Sie sich aufsetzen? Wie fühlen Sie sich?«

»Gute Arbeit«, gab Tubby zu.

»Steht Ihr Auto draußen?«

»Ja.«

»Ich werde Sie heimfahren. Sie wohnen im Universitätsklub, nicht wahr? Wir werden versuchen, Sie ohne Aufsehen in Ihre Wohnung zu bringen.«

»Danke, Bruder Beaven, aber ich möchte von Ihnen ungern weitere Gefälligkeiten annehmen. Sie können jetzt Ihren eigenen Geschäften nachgehen.«

»Ich machte Ihnen diesen Vorschlag, Sir, weil diese Geschichte doch geheimgehalten werden soll und weil ich glaube, daß Sie es allein nicht können. Ich möchte nicht, daß Sie durch das Geschwätz, das unvermeidlich wäre, wenn die Sache bekannt würde, belästigt werden.«

Tubby zeigte die Zähne:

»Es geht Sie einen Dreck an, ob ich belästigt werde oder nicht!«

»Verzeihen Sie«, widersprach Jack, »es ist auch meine Angelegenheit. Es wäre für mich nachteilig, wenn Sie durch demütigenden Klatsch schikaniert würden. In diesem Falle könnten Sie nicht Ihr Bestes hergeben, Sie würden abgelenkt. Sie sind ein bedeutender Wissenschaftler, und ich will von Ihnen das Beste bekommen. Sonst …«, er machte eine wegwerfende Gebärde, »läge mir nicht das geringste daran, wenn die ganze Welt über Ihre Rauferei mit dem Kerl erführe und – über Sie lachte. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Tubby blinzelte einen Augenblick gedankenvoll und erwiderte dann grimmig: »In diesem Fall dürfen Sie mich heimfahren.« Er zog mit noch zitternden Händen die Schlüssel aus der Tasche. »Ich werde unten auf Sie warten.«

»Glauben Sie, daß Sie allein hinuntergehen können, Sir?« fragte Jack zweifelnd. »Vielleicht wäre es besser, ich käme mit Ihnen und stützte Sie ein wenig. Sie haben eine arge Erschütterung hinter sich.«

»Tun Sie, was ich Ihnen sage!« bellte Tubby.

»Zigarette?« Jack bot ihm eine an.

»Ich rauche meine eigenen«, brummte Tubby und suchte in seiner Manteltasche.

»Feuer?« Jack zündete ein Streichholz an.

Tubby schüttelte den Kopf.

Jack grinste und verließ das Zimmer.

Das Problem, Tubby in den Universitätsklub zu schaffen, ohne Neugier und Aufsehen zu erregen, erwies sich als erfreulich einfach. Fast zu jeder andern Zeit wäre es unlösbar gewesen. Heute jedoch hatten sich alle Einwohner und Gäste in Erwartung des Umzuges entweder im Gebäude der Quästur eingefunden, oder sie befanden sich, auf den Umzug wartend, bereits in der Aula. Dem Portier und Liftboy brauchte man nur zu sagen, daß es sich bloß um einen kleinen Unfall handle, nichts von Bedeutung.

»Nein, nein, nein!« wehrte Tubby ab, als der Klubdiener ihn in sein Zimmer begleiten und ihm helfen wollte. »Es ist nichts, es geht mir ganz gut. Sollte jemand nachfragen, so sagen Sie – sagen Sie, daß es mir gut geht. Aber ich will weder Besuche noch telefonische Anfragen noch sonst etwas, bevor ich es Sie wissen lasse.«

Nachdem er sich seiner Verantwortung entledigt hatte, wußte Jack nicht recht, was mit dem Auto geschehen sollte, wo Tubby es einzustellen pflegte, und es war ihm peinlich, danach zu fragen. Dies hätte eine Flut von Erkundigungen heraufbeschwören können.

Er zog es vor, weiterzufahren, bog um die Ecke und schlug die Richtung seiner Pension ein, wo Tony wahrscheinlich auf weitere Instruktionen wartete.

Er parkte das Auto vor dem Haus, stieg ins Stockwerk hinauf und traf Tony im Vorzimmer.

»Wie geht's deinem rauflustigen Freund?« fragte Jack.

»Er schläft«, antwortete Tony. »Er hat einen solchen Lärm gemacht, daß ich ihn betäuben mußte. Schließlich promovieren wir heute, und der Zug formiert sich schon. Ich habe nicht jahrelang gehungert und geschuftet, um mich durch einen besoffenen Kerl abhalten zu lassen …«

»Wir beide …«, pflichtete Jack ihm bei. »Wieviel hast du ihm gegeben? Wird die Wirkung anhalten, bis wir zurück sind?«

»Darauf kannst du Gift nehmen. Ich hab' ihm eine Spritze verabreicht. Er müßte bis zwei Uhr Ruhe geben.«

»Hoffentlich hast du es nicht übertrieben?«

»Nein, nur ein zehntel Gramm – und ein bißchen darüber, um auf Nummer Sicher zu gehen.«

»Dann los! Hast du Mutter Doyle verständigt?«

Tony nickte.

Sie gingen zum Auto. Jack setzte den Wagen in Bewegung, und sie fuhren zur Aula.

»Wir müssen uns für Osgood irgendeine Botschaft ausdenken, um Tubbys Fernbleiben zu erklären«, sagte Jack. »Was meinst du? Ich hatte Tubby gefragt, was er als Erklärung angegeben haben wolle, doch war er noch zu konfus, um selbst etwas auszudenken.«

»Sag, daß er bei einer Explosion leicht verletzt wurde«, meinte Tony hilfsbereit. »Das kommt der Wahrheit am nächsten.« Beide lachten, und Jack meinte, dies sei eine gute Idee.

»Ich werde einen Zettel schreiben und diesen Osgood oder Shane oder sonst jemand übergeben lassen«, sagte Jack erleichtert. »Das wird uns vor Fragen und Antworten bewahren.«

»Gut – und der alte Geier kann selbst die Details mitteilen, wenn er wieder soweit ist, Herrgott, ist der verprügelt worden! Wieviel Stiche hat er kriegen müssen?«

»Ich hab' sie nicht gezählt«, erwiderte Jack ernst. Er konnte Tonys Schadenfreude nicht teilen. »Etwa ein Dutzend.«

»Du bist doch nicht zart mit ihm umgegangen?«

»Das könnte ich nicht behaupten. Freilich hab' ich mich nicht angestrengt, um ihm die Sache zu erleichtern. Tubby hat sich famos benommen. Er ist ja eine Bestie, aber er hat Haltung.« Und nach einem nachdenklichen Schweigen fügte er hinzu: »Es ist komisch, Tony. Ich hasse den alten Tubby wie den Teufel, dennoch …«

»Ja, ich weiß«, brummte Tony. »Du hassest ihn wie den Teufel, aber du findest ihn bewundernswert. Du hassest ihn wie den Teufel, aber du läufst ihm nach wie ein Hund. Und du bist ihm so ähnlich, daß du sein Sohn sein könntest. An deiner Stelle hätte ich für die Nähte ein Seil genommen, und nachher hätte ich ihm den Mund zugenäht.«

»Er ist der wichtigste Mund der ganzen Universität«, erklärte Jack. »Wenn man Tubby auch ganz und gar nicht leiden kann, so muß man doch zugeben, daß er ein großer Mann ist – in allem und jedem, durch und durch. Ich bin für alles, was er verkörpert. Und die Art und Weise, wie er die Prügel und das Vernähen hingenommen hat, gefiel mir.«

Sie parkten Tubbys großes Auto einen Block vor dem Gebäude der Quästur. Jack schrieb etwas auf einen Zettel, und sie gingen zum Haupteingang, wo sich die Fakultäten, buntgekleidet und in den schwarzen Roben schwitzend, bereits versammelten. Die Gruppe der Mediziner erblickend, drängte Jack sich bis zu dieser durch und reichte seinen Zettel Shane. Dann eilte er weiter, um sich Tony und seinem Semester anzuschließen, das am untersten Ende der Halle Aufstellung genommen hatte. Die neugebackenen Doktoren wimmelten umher, strichen sich halb wichtigtuerisch, halb verlegen die Seidenquasten aus den Augen und sehnten sich nach einer Zigarette.

In Jacks Vorstellung war die Promotion immer wie ein Leuchtturm erschienen. Er hatte gedacht, es müsse ein erhebendes Gefühl sein, den Worten des guten alten Rektors zu gehorchen, aufzustehen und der feierlichen Verkündigung zu lauschen: »Kraft meines Amtes verleihe ich Ihnen den Titel eines Doktors der Medizin.« Ein eindrucksvoller Augenblick, den man mit der Ehrfurcht eines Kandidaten der Theologie bei der Priesterweihe erleben sollte. Nun war es eine leise Enttäuschung, auf den langen Tischen in den billigen schwarzen Roben zu wühlen und nach einer zu suchen, die einem wenigstens bis zu den Knien reichen würde, sowie nach einer viereckigen Kopfbedeckung, die auf einen erwachsenen Schädel paßte. Tony sah in seiner Kopfbedeckung Größe 6 so drollig aus, daß Jack lachen mußte.

»Ich weiß nicht, wie das verdammte Zeug auf dem Kopf bleiben soll«, schimpfte Tony.

»Vakuumsauger«, meinte Jack trocken. »Es wird schon halten.«

In dieser Stimmung reihten sie sich ein und marschierten ziemlich an der Spitze des langen, tausend promovierende Studenten der verschiedenen Fakultäten umfassenden Zuges nach der Aula. Von der großen Orgel dröhnte Elgars »Pomp and Circumstance«. Jemand sprach ein Gebet. Dann begann die Diplommühle zu mahlen. Punkt zwölf erschien Shane auf der Plattform und sagte: »Die promovierenden Kandidaten der Medizin werden gebeten, sich zu erheben.« Sie standen auf. Der Rektor, leicht rührselig gestimmt, leistete sich vor der Verleihung des Doktortitels eine kurze unformelle Ansprache. »Sie stehen im Begriff, den edelsten, aufreibendsten und opfervollsten aller Berufe zu ergreifen. Ich muß zu meinem Bedauern mitteilen, daß Dr. Forrester, der hier hätte zugegen sein sollen, bei einer Laboratoriumsexplosion verletzt worden ist. Sogar heute, an diesem wichtigen Tag, da man hätte annehmen dürfen, daß der Doktor sich von seinen Berufspflichten ausruhe, ging er schon zeitig am Morgen in sein Laboratorium, um dort wichtige Experimente anzustellen, wobei er seine Verletzungen erlitt. Dies möchte ich Ihnen allen als Beispiel der Pflichttreue hinstellen. Sie wagen sich jetzt an ein großes Abenteuer im Dienste der menschlichen Wohlfahrt und sind um Ihr Privileg zu beneiden. – Vergessen Sie nicht, daß es in diesem Krieg keine Befreiung vom Militärdienst gibt. – Und jetzt, kraft meines Amtes …«

Nun waren sie Doktoren der Medizin. Als der Rektor Tubby in absentia lobte, versetzte Tony Jack einen Rippenstoß; doch verriet Jack durch nichts, daß er die Situation belustigend fand.

Nachdem sie ihren abgetragenen Staat in die Quästur zurückgebracht hatten, meinte Jack, sie müßten jetzt Tubbys Auto einstellen. Sie telefonierten um Auskunft an den Universitätsklub, fuhren das Auto in die öffentliche Garage, wohin es gehörte, aßen in einem Drugstore ein Sandwich, tranken ein Glas Milch und fuhren mit der Straßenbahn zur Medizinischen Fakultät. Es war halb zwei.

»Hör, Tony«, sagte Jack, »dieser Carpenter hat heute morgen sein Auto dort stehengelassen. Wir müßten nachsehen, was daraus geworden ist.«

»Glaubst du, daß wir es erkennen werden?«

»Wahrscheinlich. Er kommt aus Philadelphia und hat wahrscheinlich eine pennsylvanische Nummerntafel. Ist es abgeschlossen, so können wir den Schlüssel holen.«

Es war nicht abgeschlossen. Carpenter war von seinem Vorhaben anscheinend dermaßen in Anspruch genommen gewesen, daß er jegliche Vorsicht außer acht ließ. Es war ein schöner Wagen. Tony erklärte, daß er jetzt chauffieren werde. Als sie vorfuhren, saß Mrs. Doyle auf der Veranda im Schaukelstuhl. Sie lächelte leicht und meinte, ihre Mieter zögen heute anscheinend das Fahren dem Gehen vor. Tony erklärte ihr, sie hätten das erste Auto gestohlen und gegen dieses eingetauscht. Er fügte hinzu, sie möge, wenn die Polizei komme, sagen, die Räuber seien zu Fuß fortgegangen.

»Sie sind mir der Rechte«, erklärte Mrs. Doyle freundlich.

Die beiden begaben sich nach Jacks Zimmer und traten ein, ohne anzuklopfen. Carpenter gähnte eben mit weitaufgerissenem Mund. Er stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete seine Besucher. Er erkannte Jack, und sein Gesicht verdüsterte sich. Es war offensichtlich, daß er Unannehmlichkeiten erwartete.

»Wo bin ich?« fragte er gepreßt.

Tony zeigte sich bereit, es ihm zu erklären.

»Sie befinden sich im Hause einer Mrs. Doyle, die ihren Lebensunterhalt durch Zimmervermieten an Studenten der Medizin verdient. Mein junger Freund, in dessen Bett Sie sich breitmachen, ist Doktor Jack Beaven, ein kräftiger, energischer, famoser Bursche, dessen Bekanntschaft Sie heute morgen gemacht haben, als Sie Ihrem einstigen Lehrer eins auf die Nase gaben. Erinnern Sie sich daran?«

Carpenter nickte, grinste unsicher und blickte auf Jack – er wußte nicht, welche Rolle er spielen sollte.

»Es tut mir leid«, brummte er. »Ich war betrunken.«

»Weiß Gott, Sie waren es«, bestätigte Tony. »Aber ich finde, unoffiziell und rein persönlich, daß Sie eine gute Tat vollbracht haben. Wenn Sie im Zustand der Trunkenheit derartige Taten vollbringen, so müssen Sie in einer normalen geistigen Verfassung ein sehr nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein.«

»Lassen Sie das Hänseln«, sagte Carpenter bissig. »Die Sache ist gar nicht komisch.«

»Sie haben recht«, meinte Jack ernst. »Sie haben Dr. Forrester etwas heimgezahlt, und jetzt wäre Ihnen lieber, Sie hätten es nicht getan. Sie haben ihn nicht besonders arg zugerichtet, und wir haben die ganze Angelegenheit geheimgehalten. Falls Sie sich nicht wieder betrinken und alles ausschwätzen, wird niemand davon erfahren.«

Er lehnte sich gegen das Fußende des Bettes und wies mit warnendem Finger auf Carpenters schwere Lider. »Tun Sie es, so werden Sie mit mir zu rechnen haben. Zweifellos sind Sie, wie Wollason angedeutet hat, provoziert worden, und man kann es Ihnen nicht verübeln, daß Sie sich gerächt haben. Sie haben es getan, und jetzt lassen Sie's dabei bewenden. Merken Sie sich, was ich Ihnen in dieser Stunde gelobe: Wenn ich, einerlei ob nächste Woche oder in zehn Jahren, erfahre, daß Sie über das, was sich heute früh ereignet hat, geplaudert haben, so mache ich Sie ausfindig und breche Ihnen das Genick.«

»Das stimmt, Mr. Carpenter«, warnte Tony, tiefen Ernst mimend. »Der kleine Klaps, den er Ihnen heute gegeben hat, ist nur eine winzige Kostprobe von der großen Tracht Prügel, die er zu verabreichen pflegt, wenn er wild wird.«

»Halt's Maul!« brummte Jack. »Es ist nicht der Augenblick, Witze zu machen. Mr. Carpenter, Ihr Auto steht vor dem Haus. Wollen Sie fortfahren, so liegt kein Hindernis vor. Wollen Sie telefonieren – oder können wir Ihnen irgendwie behilflich sein, so stehen wir Ihnen gern zu Diensten.«

»Danke«, erwiderte Carpenter aufrichtig. »Sie waren sehr freundlich. Haben Sie keine Angst, daß ich etwas ausschwatzen werde. Ich schäme mich viel zu sehr.«

»Ich würde mir an Ihrer Stelle keine zu großen Gewissensbisse machen«, sagte Jack lässig. »Kann ich Ihnen beim Anziehen helfen?«

 

Nach einem erquickenden zweistündigen Schlaf erwachte Tony am Nachmittag, kleidete sich mit ungewohnter Sorgfalt an und schlenderte zu der verödeten Universität. Er betrat den schmutzigen widerhallenden unteren Vorraum von Lister Hall und stieg die ausgetretenen knarrenden Stufen hinauf, die zu Tubbys Laboratorium führten. Er wußte, daß er den Freund hier finden werde, Jack mußte wichtige Kulturen, die eine häufige Beobachtung erforderten, beaufsichtigen.

Die Tür stand halb offen, Tony trat ein und schritt geradeswegs zu dem Tisch hin, an dem Jack über ein Zeiss-Mikroskop gebeugt saß. Hier blieb er stehen und versetzte Jack einen unerwarteten Rippenstoß. Jack riß sich von seiner Beobachtung los, blickte auf, betrachtete neugierig den Ankömmling und wandte sich wieder dem Mikroskop zu.

»Was gibt's?« fragte er zerstreut. »Warum das Festgewand, Dr. Wollason? Sind Sie zur Maienkönigin gewählt worden?«

»Mir kam, Professor, der Gedanke, daß angesichts des hinter uns liegenden langen und anstrengenden Tages ein Dinner im eleganten Teil der Stadt angemessen wäre. Gefällt Ihnen diese Idee, und gestattet Ihr Gewissen Ihnen, den duftenden Rosengarten, in dem wir uns jetzt befinden, für kurze Zeit zu verlassen?«

»Wohin wollen Sie gehen, Doktor?« fragte Jack, ohne aufzublicken.

»Wie wäre es mit dem Livingstone? Es schmeichelt meiner Persönlichkeit, dort in der Halle umherzuschlendern und mich in den Lederfauteuils breitzumachen.«

»Du meinst jene, die als ›Für Hotelgäste reserviert‹ bezeichnet sind? Ich sitze nie in ihnen, bin ein stolzer und zurückhaltender Mensch.«

»Heute werden wir nicht in Versuchung kommen, in der Halle umherzuschlendern. Das Hotel wird überfüllt sein. Lauter kleine Feiern. Herden von Alumnen. Allgemeine Aufregung. Fröhlicher Lärm. Komm, gehen wir hin. Es wird uns guttun.«

Tony hatte nicht gehofft, daß Jack auf seinen Vorschlag eingehen werde. Sein Gesicht erhellte sich, da sein Freund erklärte, der Gedanke sei – besonders, wenn man den Quell berücksichtige, dem er entspringe – erstaunlich vernünftig. Er werde, fügte er hinzu, in fünf Minuten bereit sein.

»Du siehst hoffentlich ein«, sagte er zu Tony, »daß ich heimgehen und ein passendes Kostüm anziehen muß? Wenn es im Livingstone vornehme Gesellschaft gibt, so wird es unserer Persönlichkeit nützen, in Abendkleidung zu erscheinen.«

»Es tut mir leid, aber ich habe kein reines steifes Hemd.«

»Du kannst eins von den meinen haben«, sagte Jack salbungsvoll, »das gefaltete. Ich versuche jeden Tag eine gute Tat zu tun und im Himmel Schätze anzuhäufen.« Er klappte das Notizbuch zu, warf es in die Schreibtischlade und holte seinen Rock aus dem Vorzimmer.

»Deine Redeweise, Dr. Beaven«, bemerkte Tony, »verrät immer mehr den Einfluß deines gottlosen Lehrers.« Dann fügte er mit plötzlichem Ernst hinzu: »Tatsache, Jack, weißt du, daß du dem alten Tubby mit jedem Tag ähnlicher wirst? Ich kann mich einer Zeit erinnern, da Tubbys Frivolität und gottlose Aussprüche dich furchtbar gereizt haben.«

»Danke für die Predigt, Padre«, sagte Jack gedehnt und griff nach seinem Hut. »Wenn du jetzt noch den Segen sprichst, können wir gleich nachher gehen und für dich ein Hemd suchen.«

»Das ist es gerade, was ich meine!« fauchte Tony »Hör damit auf, mein Alter, ehe es zur Gewohnheit wird. Du wirst nun bald mit allerlei Patienten sprechen müssen, auch mit Menschen, die außer ihrer Religion und außer ihren Gefühlen nichts besitzen – denen wird deine Art nicht gefallen. Ich wollte es dir nur sagen«, schloß er befangen »Die Leute mögen Tubby nicht. Sie haben Angst vor ihm, und das ist einer der Gründe. Sei vorsichtig!«

Während sie der Tür zustrebten, klopfte Jack dem Freund kameradschaftlich auf die Schulter. »Weißt du was, Tony«, sagte er neckend. »Wir sollten Partner werden. Ich werde die Diagnosen stellen und die Kranken behandeln, und du kommst mit, um sie aufzuheitern.«

Tony verharrte schweigend, bis sie auf die Straße traten. Offensichtlich hatte die Neckerei ihn verletzt.

»Reden wir nicht mehr darüber«, meinte er mürrisch. »Wenn du ein zweiter Tubby werden willst oder noch mehr Tubby als er selbst – gut, wohl bekomm's!«

»Wie es wohl dem alten Knaben geht?« fragte Jack. Er war froh, das peinliche Thema fallenzulassen, das zwischen ihnen eine vorübergehende Spannung erzeugt hatte.

»Geh doch zu ihm und erkundige dich«, schlug Tony vor.

Jack lachte.

»Er würde mich höchstwahrscheinlich zum Teufel jagen.«

»Eine angenehme Freundschaft, das muß ich schon sagen.«

»Ich will nicht seine Freundschaft«, brummte Jack. »Ich will seine Geschicklichkeit, sein Wissen, seine chirurgische Technik. Wenn du mir erlaubst, einen Augenblick mein eigenes Lob zu singen, so muß ich zugeben, daß ich stolz darauf bin, von einem mir verhaßten Menschen wertvolle Dinge zu lernen.«

Tony schwieg einen Augenblick gedankenvoll, dann meinte er:

»Hm. Ehe du dich deiner Großzügigkeit wegen heiligsprichst, solltest du dich vergewissern, ob er dir wirklich verhaßt ist. Ich habe so das Gefühl, daß die Antipathie zwischen euch zwei Eseln recht oberflächlich ist.«

»Reden wir über etwas anderes«, schlug Jack vor. »Worüber kannst du noch sprechen?« –

Im »Livingstone« herrschte, wie Tony vorausgesagt hatte, ein reges Leben und Treiben. Sie kamen um sieben Uhr dreißig hin, schritten langsam durch die Halle, in der Alte Herren, die früh diniert hatten, dicke Zigarren rauchten und einander Geschichten erzählten. Im überfüllten Wintergarten zwitscherten Frauenstimmen, zweifellos die von ihren gelehrten Männern vorübergehend allein gelassenen Gattinnen. Der große Speisesaal hatte sich bereits ein wenig geleert, Jack und Tony nahmen an einem Tisch für zwei Personen Platz.

»Kennst du die beiden?« fragte Tony und wies mit einer unmerklichen Gebärde auf die beiden Männer am Nebentisch. Jack sah hinüber und betrachtete kurz die Nachbarn, die eben das Dessert aßen: liebenswürdige, leichtergraute, über vierzig Jahre alte Männer. Er schüttelte den Kopf.

»Kennst du sie? Sie sehen wie Ärzte aus.«

»Der auf unserer Seite ist Woodbine«, erklärte Tony. »Buffalo. Lungen.«

Jack nickte. »Ich kenne ihn dem Namen nach. Ein guter Arzt. Wie hast du ihn erkannt?«

»Man hat ihn mir heute früh gezeigt. – Ich glaube, sie reden von Berufsangelegenheiten.«

Jack griff nach der Menükarte.

»In dem bescheidenen Heim, wo ich herangewachsen bin«, bemerkte er, »wurde uns beigebracht, daß es unmanierlich ist, zu horchen oder durchs Schlüsselloch zu spähen. Hör du zu – und erzähl mir, was sie sagen. Ich sehe unterdessen nach, was es zu essen gibt.«

Der Kellner kam an den Tisch und nahm ihre Bestellung entgegen. Der Mann, der Dr. Woodbine gegenübersaß, redete eifrig auf diesen ein.

»Und eines Tages, Jimmy, wird im Lager eine Bombe platzen. Du wirst schon sehen. Bisweilen kommt es mir vor, als sei die Medizinische Fakultät ebenso trübselig wie eine Besserungsanstalt. Schau dir doch so eine Anstalt an. Die Theorie ist zweifellos richtig. Der Staat gründet eine Institution zur Besserung und Weiterentwicklung schlechtgeratener Burschen. Er bestimmt über ihren Unterricht, ihren Sport, ihre Gesundheit, er liefert die Läden, die Unterhaltungen, die Kinos. Aber das Ganze muß zusammenbrechen, weil die Wärter, die Lehrer und Aufseher alles mit zynischen Augen betrachten. Und von ihnen lernen es die Burschen. Einer verdirbt den andern. Das gleiche gilt für die Medizinische Fakultät. Lauter vertrocknete alte Kerle, jeder einzelne von seinem Spezialfach besessen. Keiner, der sich für die humanitäre Seite des Berufs interessiert. Mit der Zeit bilden die Ärzte sich ein, es sei vornehm, keine Gefühle zu haben. Nimm zum Beispiel hier …« Er beugte sich vor und flüsterte etwas, das die aufmerksam horchenden jungen Tischnachbarn nicht aufzufangen vermochten.

Tony begegnete Jacks Augen und grinste.

»Hast du jemals mit Cunningham darüber gesprochen?« fragte Woodbine. »Er hat strenge Prinzipien, er kennt auch keine Furcht. – Übrigens hält er heute die Hauptrede bei der Zusammenkunft des Neunundneunziger Semesters.«

»Ich weiß es und wollte, wir könnten hingehen.«

Woodbine schmunzelte, nahm die Rechnung vom Tisch und holte seine Brieftasche hervor.

»Schade, daß der alte Tubby nicht aufstehen kann«, meinte er. »Die beiden sind das gleiche Semester. Es wäre eine belustigende Debatte gewesen.«

Die Suppe wurde aufgetragen. Jack wandte sich ihr sofort zu. Die älteren Männer schoben die Sessel zurück, erhoben sich und verließen den Speisesaal. Tony wagte eine Bemerkung über das Erlauschte: »Äußerst interessant«, erklärte er.

»Oh!« entgegnete Jack gleichgültig. »Das finde ich nicht. Er hat überhaupt nichts Neues gesagt. Es war die gleiche alte Klage. Gewesene Leute, die zu träge sind, mit dem Fortschritt der Wissenschaft Schritt zu halten, die versuchen, die eigene Faulheit dadurch zu verteidigen, daß sie gegen die ihnen Überlegenen kämpfen. – Nimmst du Oliven?« –

 

Als Jack und Tony den Speisesaal verließen, war der Wintergarten fast leer; nur an dem einen Ende staute sich eine dichtgedrängte Menge, die anscheinend etwas sehr Interessantem lauschte.

»Laß uns sehen, was es dort gibt«, schlug Jack vor. Sie schlenderten in Richtung der Menge, die bis in die halbgeöffnete Tür stand und lauschte. Nun erwies es sich für die beiden von Vorteil, hochgewachsen zu sein. Fünfundzwanzig oder dreißig ältliche ergraute Männer, denen man auf den ersten Blick den Arzt ansah, lauschten einer Rede. Das wird – Jack und Tony verständigten sich darüber durch ein Nicken – das medizinische Semester des Jahres neunundneunzig sein: der Redner war zweifellos Cunningham.

»Willst du bleiben?« fragte Tony flüsternd.

»Für einen Augenblick.« Jack wandte den Kopf dem Redner zu, um besser zu hören; seine zusammengekniffenen Augen schweiften über die Zuhörer, von denen etwa die Hälfte Frauen waren. Das war begreiflich, denn Frauen mochte eine derartige Rede gefallen. Ein paar Schritt von Jack entfernt stand ein hübsches, in Schwarz gekleidetes Mädchen, das seine Aufmerksamkeit erweckte. Das Mädchen konnte den Redner nicht sehen, weil andere vor ihm standen; doch lauschte es gespannt. Es hatte den Kopf leicht zurückgeworfen, die Augen blickten nach oben, die Lippen waren geöffnet. – Das ist zweifellos der schönste Mädchenkopf, dachte Jack, den ich je gesehen habe: das Haar blauschwarz wie die Mitternacht, kurzgeschnitten, eine gerade Franse, die eine ungewöhnlich weiße Stirn halb verdeckte. Ohrringe aus Jaspis. Schöngeformte Ohren. Jack schämte sich seines unverhohlenen Hinstarrens, aber das Mädchen bemerkte Jacks neugierige Blicke nicht. Es machte einen ausländischen Eindruck und schien nicht recht hierherzupassen. Jack hatte noch nie so lange Wimpern gesehen; die umgebogenen Enden berührten fast die anmutig geschwungenen Brauen. Er hörte kein Wort von dem, was Dr. Cunningham sagte, schielte zu Tony hinüber und sah, daß dieser aufmerksam und begeistert der Rede lauschte. Jack beschloß, das gleiche zu tun, und konzentrierte sich auf die Stimme, die offensichtlich mit echtem Gefühl sprach. Nun begann er bestimmte Worte zu erhaschen:

»Bedroht von der Gefahr der Hyperklugheit …«

Jacks Augen kehrten langsam wieder zu dem reizenden Mädchen zurück. Er neigte von Natur nicht dazu, weibliche Proportionen abzuschätzen, doch dachte er, daß ein Mann, der dieses Mädchen betrachten und dabei die Existenz eines gütigen Schöpfers leugnen konnte, wirklich ein verhärteter Atheist sein müsse. Er sagte sich, er habe kein Recht, das Mädchen so anzustarren, doch war es ja ungefähr das gleiche, als ob er ein schönes Bild betrachtet hätte.

Neben dem Mädchen stand eine Frau, die dem Alter nach seine Mutter hätte sein können; eine vornehm wirkende Gestalt, blond, intelligent, selbstsicher. Die beiden schienen zusammenzugehören. Jack fragte sich, ob sie wohl verwandt seien, und suchte in den Gesichtern nach einer Ähnlichkeit!

Plötzlich wandte das Mädchen den Kopf und blickte ihm gerade in die Augen. Es überraschte ihn dabei, wie er es mit unverhohlener Bewunderung anblickte. Jack wußte selbst, daß der Ausdruck seines Gesichtes seine Gedanken verriet. Es war, als sagte er: »Hoffentlich beleidige ich Sie nicht – aber Sie sind das anbetungswürdigste Geschöpf, das ich je gesehen habe.«

Einen Augenblick schaute es ihn mit geweiteten Augen an, er las in ihnen die kindliche Frage: »Warum starren Sie mich so an?«, und konnte sie dem Mädchen nicht verargen. Wahrscheinlich glaubte es, daß sie einander schon einmal begegnet waren. Er konnte sich von den fragenden Augen nicht mit dem Eingeständnis abwenden, daß er es nur angestarrt habe. Darum wagte er ein Lächeln und wurde dafür sofort belohnt. Ohne die geringste Verlegenheit oder Schüchternheit, ohne eine Spur von Überheblichkeit erwiderte das Mädchen sein Lächeln und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder der Rede zu.

Jacks Herzschlag hatte für einen Augenblick ausgesetzt. Nun fühlte er, daß es an der Zeit sei, sich mit der Versammlung zu befassen. Offensichtlich hatte ein Ausspruch des Redners das Mädchen dermaßen interessiert, daß es dachte, auch Jack müsse von der Feststellung gepackt worden sein. Zweifellos hatte es mit Bestimmtheit angenommen, er habe aus dem gleichen Grund gelächelt. Also hörte auch er zu.

Man mußte zugeben, daß der Mann ein überzeugender Redner war und jedes seiner Worte ehrlich meinte. Aber – es war eben doch immer das gleiche: der Appell an das Gefühl. Ärzte müßten Altruisten sein. Ärzte dürften nicht vergessen, daß auf ihnen die Verantwortung liege, ihre Patienten in ein gesundes und sicheres Leben zu leiten. Jack runzelte die Stirn. Tony beugte sich vor und flüsterte: »Willst du gehen?«

Jack wollte nicht, doch wußte er genau, Tony würde wissen wollen, was ihn zum Bleiben veranlasse. Er nickte, rührte sich aber nicht.

»Wie zutreffend auch immer unsere Diagnose, wie hervorragend auch immer unsere chirurgischen Leistungen, wie scharf auch immer unsere Beurteilung der Röntgenaufnahmen und wie gründlich auch immer unsere Kenntnis der Pathologie sein mögen: unsere Bedeutung für unsere Generation dreht sich immer um eine Achse. Sobald das Laboratorium die wichtigste Stelle einnimmt und die körperliche Heilung alles bedeutet, werden wir unserer größten Kraft beraubt, weigern wir uns, unsere höchste Aufgabe zu erfüllen. Wir leben in einer Zeit erstaunlicher wissenschaftlicher Fortschritte. Keiner, der unserem Beruf angehört, darf wagen, auch nur einen Fußbreit dieses äußerlichen Fortschrittes außer acht zu lassen, aber meiner tiefsten Überzeugung nach bleibt unsere Aufgabe trotz der Anerkennung, daß es unsere Pflicht sei, mit der modernen Forschung und mit den neuesten Experimenten Schritt zu halten, auch weiterhin im höchsten Grade Herzenssache. Es mag banal und abgedroschen klingen, wenn ich sage, die Liebe zur Menschheit sei das Größte auf der Welt und daß ohne sie das ganze moderne Gerede der Wissenschaft nur tönendes Erz und Wortgeklingel ist. Ich kann zutiefst an den unglaublichen Fortschritt unseres ehrenhaften Berufs, an unsere klugen Erfindungen, unsere tauglichen Vorrichtungen, unsere Präzisionsinstrumente glauben – habe ich aber die Liebe nicht, dann bin ich ein Nichts.«

Das war wirklich zu arg. Jack wandte sich zu Tony und flüsterte laut genug, um von dem Mädchen gehört zu werden: »Gehen wir. Ich habe das Turteln dieser Liebe satt!«

Das Mädchen blickte ihn mit einem so bestürzten, erschrockenen Ausdruck an, als habe er ihm ins Gesicht geschlagen. Jack bereute auch schon seine impulsive Äußerung. Wie, wenn das Mädchen mit Cunningham verwandt war? Er hätte sich gern entschuldigt, aber Tony drängte sich bereits durch die Menge, und er folgte ihm.

Sie fielen in Schritt.

»Was sagst du zu dem Mädchen?« erkundigte sich Tony.

»Welchem Mädchen?« brummte Jack.

»Schon gut«, meinte Tony gedehnt. »Es muß einen Rieseneindruck auf dich gemacht haben, wenn du nicht einmal mit deinem besten Kameraden über dieses Mädchen reden kannst.«

»Entschuldige, Tony. Ich habe noch an die süßliche Rede gedacht. – Hast du jemals in deinem ganzen Leben …«

Tony winkte ab, schob den Arm unter den des Freundes und verlangsamte den Schritt.

»Heute nachmittag hast du mir gesagt, es sei eine große Sache, wenn man von Menschen, die einem verhaßt sind, zu lernen vermag. Von Menschen, denen man feindselig voller Abneigung gegenübersteht. Ich schlage vor, daß du es einmal auch bei einem andern als dem alten Tubby ausprobierst – vielleicht könntest du auch von Cunningham etwas lernen.«


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