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Als Jack am Mittwochmorgen Tubbys herrischem Telefonruf Folge leistete, diktierte dieser soeben Miss Romney knurrend ein Schreiben in die Maschine. Zu Jacks Staunen sollte Tubbys Zimmer bald abgeschlossen werden. Angestellte der Quästur kamen in den Raum und hasteten wieder fort. Reisetaschen standen neben der Tür. Jack schritt durch den Raum, lehnte sich gegen das Fensterbrett und wartete.
»Das ist alles«, schloß Tubby sein Diktat. »Sie können gehen. Ich will mit Dr. Beaven sprechen. Rufen Sie ein Taxi. Ich komme in zehn Minuten. Und schicken Sie einen Diener um mein Gepäck.« Tubby schien ins Ausland zu reisen, sonst hätte er nicht von Gepäck gesprochen.
»Adieu«, empfahl sich das Mädchen und ging.
»Also, Beaven …«
Jack nahm auf der Anklagebank Platz, während Tubby den steifen Hut aufsetzte, um seinen Bemerkungen etwas Endgültiges zu verleihen. »Wie Sie sehen, stehe ich im Begriff, abzureisen. Ein plötzlicher Entschluß. Das Kuratorium besteht darauf, daß ich am Neurologenkongreß in Wien teilnehme.«
»Es freut mich, daß Sie hinfahren können, Sir.«
»Eigentlich habe ich keine besondere Lust dazu«, brummte Tubby. »Es ist für mich eine ungeeignete Zeit, die Universität zu verlassen.«
»Ich werde während Ihrer Abwesenheit mein möglichstes tun, Sir«, versprach Jack.
»Diesmal steht mehr auf dem Spiel als sonst. Sie wissen vielleicht, was ich meine.« Tubby blickte forschend in Jacks erstaunte Augen.
»Ich fürchte, nein, Sir.«
»Merkwürdig. Wollen Sie etwa behaupten, daß Sie zusammen mit Cunningham geangelt haben und er Ihnen nichts von seinen Vorlesungen hier gesagt hat?«
»Er hat mir kein Wort gesagt, Sir.«
Tubby zündete sich eine Zigarette an und schien nicht recht zu wissen, wo er mit seiner Erklärung beginnen solle.
»Sie werden jetzt mit Cunningham mehr zu tun haben«, brummte er.
»Das ist gut, Sir.«
»Im Gegenteil. Es ist schlecht, Sir«, höhnte Tubby. »Es ist ausgeschlossen, daß Sie mit Cunningham in engere Beziehung getreten sind, ohne sich irgendwie von seinen idiotischen Ideen anstecken zu lassen. Diese klingen, von ihm selbst vorgebracht, äußerst vernünftig und wären lange nicht so gefährlich, wenn Cunningham zu den Zweitklassigen gehörte. Aber gerade das ist ja das Unglück. Cunningham ist kein bloßer Evangelist. Er ist ein erfahrener Pathologe und ein ausgezeichneter Chirurg. Aber – und hierin liegt die Schwierigkeit – es gibt, soweit mir bekannt ist, nur einen Bill Cunningham. Für den Durchschnittsarzt würde seine Sentimentalität den Ruin bedeuten.« Tubby schob seinen Sessel zurück und schritt im Zimmer auf und ab. »Den Ruin!« wiederholte er.
»Ja, Sir«, gab Jack aufrichtig zu.
»Wir stehen folgendem Problem gegenüber. Sie werden sich erinnern, daß in unserem Kuratorium ein neues Mitglied sitzt, Mr. Denham aus Chikago. Er wurde ins Komitee für medizinische Angelegenheiten gewählt. Ich meinerseits sehe freilich nicht ein, warum ihn die Spende von hunderttausend Dollar – aus einer Oklahoma-Petroleum-Quelle gepumpt – berechtigen soll, über die Vorlesungen an unserer Universität zu bestimmen. Und ich kann auch nicht begreifen, weshalb die andern Kuratoren ihm nachgegeben haben. Vielleicht bekennen auch die sich zu der Ansicht: wer den Trompeter bezahlt, der bestimmt die Musik. Meiner Ansicht nach ist dieser Denham, mag er auch noch so großmütig sein, ungefähr ebenso geeignet, die Einstellung der Medizinischen Fakultät zu beeinflussen, wie ich …«, Tubby suchte nach einem passenden Vergleich, »… mich zum Maharadscha von Lickpoo eigne!«
Jack fühlte sich verlockt zu sagen: »Sie würden ganz gut in diese Rolle passen, Sir«, schluckte es aber vorsichtshalber herunter.
»Denham fing ganz harmlos an«, fuhr Tubby fort, »indem er eine Reihe von Vorlesungen vorschlug. Sie sollten von einem Mann, der als praktizierender Arzt einen besonders guten Ruf genoß, gehalten werden, von jemandem, der direkt von der Front kam. Damit waren alle einverstanden. Der neue Kurator mußte zart angefaßt werden. Er hatte eine Menge Geld hergegeben. Vielleicht würde er dies wiederholen.« Tubbys Ton war bitter. »Dann, allgemein ermutigt, erweiterte der Kerl seinen Vorschlag: der Vortragende möge hin und wieder im Operationssaal arbeiten und ein bis zwei Wochen mit den Ärzten und Assistenten in der Klinik herumgehen und zeigen, wie man Patienten behandelt und wie man mit ihnen spricht. Das klang schon unangenehmer, doch erhob niemand Einspruch. Alle glaubten, die Wahl des Vortragenden würde der Fakultät überlassen bleiben. Das hätte nur der elementarsten Höflichkeit entsprochen.«
Jack fuhr sich über das Kinn, um ein Lächeln zu verbergen. Der Fakultät! Selbstverständlich hatte Tubby erwartet, daß die Wahl von ihm getroffen würde.
»Und dann«, schrie Tubby, »dann, nachdem wir auf alles eingegangen waren, schlägt der Kerl Cunningham ausgerechnet Cunningham! – vor, um die Ärzte herumzuführen und ihnen zu zeigen, wie man die Hände der Patienten hält und turtelt!«
»Und die Fakultät ging darauf ein?« fragte Jack, obgleich er die Antwort ahnte.
»Die Professoren gingen darauf ein, die Esel! Und Cunningham wird natürlich annehmen. Warum sollte er auch nicht? Anscheinend ist dieser Denham vor ungefähr einem Jahr mit einem Gallenblasenleiden oder etwas Ähnlichem in das Spital dort oben gebracht worden. Cunningham hat ihn operiert. Er hat gute Arbeit geleistet, wie das nicht anders zu erwarten war. Es ist nur natürlich, daß Denham ihn gern mag, das kann man ihm nicht übelnehmen. Alle mögen Cunningham. Auch ich mag ihn. Es wird erzählt, daß Denham Cunningham ein Riesenhonorar schickte, daß dieser es zusammen mit einer bescheidenen Rechnung zurücksandte sowie mit dem Vorschlag, der Rest des Geldes solle dem Spital zugute kommen. Die Geschichte klingt wahrscheinlich. Das sieht Cunningham ähnlich. Ein anständiger Mensch. Aber – nicht der Richtige für diese Vorlesungen.«
»Konnten Sie das nicht sagen, Sir?«
»Nein. Dieser Denham ist ein geriebener Fuchs. Er führte aus, Cunningham und ich seien alte Freunde und Universitätskollegen, und es brauche wohl kaum gesagt zu werden – und dann sagte er es –, wie sehr mich die einem Jugendfreund erwiesene Ehre freuen würde. Hätte er mich geknebelt, er hätte meine Einwände nicht gründlicher ersticken können.« Nachdem Tubby so seiner Wut Luft gemacht hatte, setzte er sich wieder. Sein Ton wurde fast vertraulich:
»Sie, Beaven, werden Ihr möglichstes tun müssen, um dem Einfluß dieses gutherzigen Pfadfinders von der Saginaw-Bucht entgegenzuarbeiten. Aber beleidigen Sie ihn nicht. Verspotten Sie ihn nicht. Führen Sie keinen offenen Kampf gegen ihn. Sorgen Sie nur dafür, daß unsere jungen Ärzte nicht eingefangen werden.« Tubby blickte wütend drein. »Hoffentlich muß ich bei meiner Rückkehr nicht feststehen, daß das ganze Semester sich aufs Gesundbeten geworfen hat.«
»Ich werde versuchen, Ihren Wünschen nachzukommen, Sir«, versprach Jack.
»Das möchte ich Ihnen auch dringend empfehlen. Sie bekleiden eine verantwortungsvolle Stellung, und Sie wissen ja auch, auf welche Weise Sie sie bekommen haben. Als das Direktorium seinerzeit die Ansicht äußerte, Sie seien zu jung, um der Fakultät anzugehören, habe ich mich gewissermaßen für Sie verbürgt. – Enttäuschen Sie mich nicht! – Und noch eins …«
Ein ältlicher Diener trat ein. Tubby wies auf die Reisetaschen, der Mann nahm sie und ging.
»Und noch eins. Ich hörte, daß gestern wieder ein Fall von Polio eingeliefert wurde. Es ist etwas spät dafür, er wird für dieses Jahr der letzte sein. Wir wollen es hoffen.«
»Aber damit habe ich doch nichts zu tun?«
»Nur, wenn es Sie interessiert, es ist an sich nicht Ihre Arbeit. Aber es gibt auf fünfhundert Meilen niemand, der für diese wertvolle Forschung bessere Vorbedingungen hätte. Wüßte ich mit Bestimmtheit, daß wir noch einige Fälle bekommen – genügend für das notwendige klinische Material –, ich dächte nicht daran, fortzufahren.«
Diese kalte Feststellung erschütterte Jack. Wohl war er gelehrt worden, Gefühlen gegenüber mißtrauisch und voll Verachtung zu sein, aber diese Bemerkung dünkte sogar ihn zu herzlos.
»Sie haben einen überfüllten Stundenplan«, sagte Tubby, der Jacks Reaktion offensichtlich nicht bemerkt hatte, »wenn Sie jedoch Gelegenheit finden, eine Laboratoriumsforschung über Polio zu machen, so lassen Sie sich diese unter keinen Umständen entgehen. Nicht einmal dann, wenn Sie deshalb etwas anderes vernachlässigen müßten. Strengen Sie sich an!« Er blickte auf seine Uhr. »Jetzt muß ich gehen. Sagen Sie der Romney, sie soll meinen Schreibtisch zusperren und Ihnen die Schlüssel geben.« Mit einem kurzen Nicken in Jacks Richtung griff er nach seinem Kamelhaarmantel und nach seiner Ledermappe und marschierte hinaus, hinter sich die Tür offenlassend.
Jack warf ein Bein über die Stuhllehne und wartete auf die Rückkehr der Sekretärin. Er war froh über diese Aussprache, die seinen Geist geklärt und ihn in seiner gefährlichen Lage gefestigt hatte. Nun wußte er wieder, was seine Pflicht war. Cunningham hatte ihn verwirrt, war auf erschreckende Weise in seine Gewohnheiten eingedrungen und hatte dabei einiges über den Haufen geworfen. Nun aber war Tubby zur Rettung des wissenschaftlichen Standpunktes eingeschritten. Bill Cunningham, der an der Küste der Saginaw-Bucht allerlei gute Taten und liebevolle Handlungen vollbrachte, war ein bewundernswerter Freund und wertvoller Staatsbürger; Cunningham aber, der leicht beeinflußbare junge Ärzte seine sentimentale Behandlung der Kranken lehrte, war etwas ganz anderes. Damit hatte Tubby – der Teufel soll ihn holen! – vollkommen recht.
Was aber die Laboratoriumsarbeit an Kinderlähmung betraf, so würde es da nicht viel zu tun geben. Nach der Sommermitte kamen nur wenige Fälle vor.
Die kleine blasse Romney kam auf hohen Stöckeln herein. Jack beobachtete sie uninteressiert, während sie Tubbys Schreibtisch aufräumte.
»Dr. Forrester sagte mir, daß ich während seiner Abwesenheit Ihre Sekretärin sein werde«, berichtete sie mit einem nervösen Lächeln.
»So?« sagte Jack zerstreut. »Sie können jetzt gehen und sich bis Montag ausruhen.«
»Danke, Sir«, sagte sie verwirrt. »Glauben Sie, daß das so in Ordnung sein wird?« Ihre Augen verrieten leisen Zweifel. »Muß ich noch jemanden fragen?«
»Wenn es Ihnen Spaß macht«, antwortete Jack trocken. »Fragen Sie, wen Sie wollen. Die Telefonistin, die Diener. Aber Sie sagten doch selbst, daß Sie jetzt meine Sekretärin sind, und ich sagte, daß Sie bis Montag Ferien haben.«
Sie schnitt eine kleine Grimasse, als wollte sie in Tränen ausbrechen. Irgendwie paßte dies so gar nicht zu ihren steifen Dauerwellen, ihrem modernen grauen Kleid, ihrem eleganten Äußeren. Jack setzte sich gerade auf und sah sie interessiert an.
»Was fehlt Ihnen?« fragte er. »Hat man Sie geärgert?«
Miss Romney kniff hinter dem Taschentuch ihre Nasenspitze zusammen.
»Ich hab' mich fast zwei Jahre lang nicht ärgern dürfen«, erwiderte sie, ein Schluchzen herabwürgend.
»Seit wann arbeiten Sie hier? Ich hab's vergessen.«
»Seit fast zwei Jahren!«
»Ein merkwürdiges Zusammentreffen«, bemerkte Jack gedehnt.
Miss Romney leistete sich ein halb hysterisches Kichern.
»Ihnen brauche ich ja nichts zu erklären«, meinte sie. »Ihnen liegt an nichts etwas. Sie haben Ihre Meerschweinchen und Affen.« Die zerbrechlich wirkende Miss Romney nahm Stellung und Stimmung jener an, die geschlagen worden sind, sich aber an die Wand pressen und sich nicht ergeben wollen. Jack empfand Belustigung, doch bewunderte er das Mädchen auch. Sobald ihr Zorn verflogen war, sank sie auf Tubbys Sessel. »Jetzt können Sie mich entlassen, wenn Sie wollen«, flüsterte sie reuig.
»Romney«, sagte Jack ernst, »Sie haben einen schweren Tag hinter sich und sind verstimmt. Mir ist es lieber, Sie blasen den Dampf aus, als daß Sie explodieren und das Haus in die Luft sprengen. Was Sie gesagt haben, ist auch schon vergessen. Gehen Sie jetzt und kommen Sie erst am Montagmorgen wieder. Und erholen Sie sich. Ein paar Tage frische Luft und eine andere Umgebung werden Ihnen guttun.«
»Ich schicke lieber meine Schwester fort«, meinte das Mädchen, »die hat es notwendiger als ich.«
Jack wollte schon sagen: »Ganz, wie Sie wollen«, als Cunninghams Einfluß ihn zu der Frage veranlaßte: »Was fehlt der?«
»Unsere Mutter hat Krebs, Dr. Beaven, und braucht ununterbrochen Pflege. Lou lebt wie eine Gefangene. Ich bin den ganzen Tag nicht daheim, und alles lastet auf ihr.«
»Das bedeutet – Lou hat die Pflege Ihrer Mutter übernommen, und Sie erhalten die Familie?«
Miss Romney nickte.
»Das ist hart«, sagte Jack. »Sie haben wohl nicht viel Freuden im Leben?«
»Manche Menschen sind nicht zur Freude bestimmt. Diesen wird ihre Arbeit zugewiesen.«
»Aber die Erfüllung der Pflicht bedeutet doch eine gewisse Befriedigung, finden Sie nicht?« Jack erinnerte sich, was Edith Cunningham ihm über den Wert eines Ansporns gesagt hatte.
»Für Sie vielleicht«, sagte Miss Romney mit einem Seufzer. »Sie arbeiten zwar die ganze Zeit und unterhalten sich nie – aber Sie müssen es nicht tun. Muß man es tun, so fühlt man keine Befriedigung über die eigene Tapferkeit.«
»Kein Mensch muß etwas tun«, meinte Jack. »Sie könnten doch, wenn Sie wollten, einfach fortlaufen.«
»Ja, aber ich würde mich selbst mitnehmen, und das wäre kein Vergnügen.« In ihre Augen kam plötzlich ein Glanz, und jetzt, da sie lächelte, war sie fast hübsch. »Wahrscheinlich hindert dies auch Sie am Davonlaufen.«
Jack nickte zustimmend und stand auf.
»Ich bin froh, daß wir diese Unterredung hatten. Sie sind ein famoser Mensch, Romney, wenn Sie erlauben, daß ich es sage.«
Ihre Augen schwammen in Tränen, und ihr Kinn zitterte leicht.
»Danke«, sagte sie mit bebender Stimme. Nun liefen die Tränen bereits über ihre Wangen, doch lächelte sie trotzdem dankbar. »Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben, Dr. Beaven.«
Jack schloß hinter sich leise die Tür. Was Miss Romney gesagt hatte, war eigentlich merkwürdig. Vielleicht war es nur ein Ausdruck ihrer Verlegenheit gewesen. Sie hatte ihn doch in Tubbys Zimmer seit – wie lange ist es her? – zwei Jahren gesehen. »Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben.« Er runzelte die Stirn, begriff dann mit einemmal. Tubby hatte recht. Sobald man Teilnahme oder menschliches Interesse bewies, wurde man auch sehr bald in die Privatsorgen der Leute verwickelt. Und dann war es nicht mehr möglich, nur an das zu denken, wofür man bezahlt wurde. Diese kleine Romney führte ein Hundeleben, aber was ging es ihn an? Sobald er auch nur eine Spur von Teilnahme gezeigt hatte, behauptete sie sofort, er sei ein ganz anderer Mensch als jener, den sie bis dahin gekannt hatte. »Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben.« Eigentlich eine verdammte Frechheit – ja, das war es. Das kam davon, wenn man mit den Cunninghams verkehrte.
Am Tag vorher, während der raschen Fahrt zur Universität, war das jüngste Mitglied der Fakultät ein recht verwirrter junger Mann gewesen. Er wurde sich kaum der Landschaft bewußt, die ihn noch vor einigen Tagen mit Entzücken erfüllt hatte. Nun versuchte der Tumult in seinem Geist ihn dazu zu bewegen, seine Ziele zu ändern. Er empfand diese Zumutung als etwas Lächerliches, vermochte aber nicht, sie aus seinen Gedanken zu verbannen.
Klar war, daß er nie hätte zum Angeln gehen dürfen. Das kam davon, wenn man, und sei's auch nur für einen Tag, sein Programm aufgab. Die kurzen Ferien, die eine angenehme Erholung hätten sein sollen, erschienen ihm nun, da er an sie zurückdachte, als ein hinterlistiger Angriff auf seinen Frieden. Statt erfrischt heimzukehren, fühlte er Verwirrung und fragte sich, wieweit sein Lebensplan noch haltbar sei, wie viele seiner beruflichen Pflichten nach einer drastischen Änderung verlangten?
Vor allem stand, alle andern Probleme in den Hintergrund schiebend, Audrey vor ihm. Weshalb war er nicht klug genug gewesen, die Erinnerung an sie verblassen zu lassen? Seit ihrer ersten Begegnung auf der Treppe in der Klinik hatten seine Gedanken sich mit ihr beschäftigt, doch wußte er, daß er naturgemäß sie vergessen haben oder, wenn nicht, sie als einen Traum der vielen »Es-hätte-sein-Können« bewahrt haben würde. Nun aber bestand die Gefahr, daß Audrey Hilton seinen ganzen Geist monopolisieren werde. Zwar hatte sie gesagt: »Es hat sich mit dir nichts ereignet, Jack. Du wirst jetzt zu deiner Bestimmung zurückkehren und ich zu der meinen«, und das war gewiß ein guter Abschluß, wenn nach der letzten Szene der Vorhang fiel, die beiden opferfreudigen Gestalten in die Garderobe gingen, sich dort abschminkten, ihre Straßenkleidung anzogen und zusammen essen gingen. Mit ihm jedoch hatte sich tatsächlich etwas ereignet. Wohl kehrte er zu seiner Bestimmung zurück, doch würde es nicht mehr dieselbe Bestimmung sein. Eins war klar, und er fühlte, daß dieses eine Audreys volle Teilnahme und Billigung genieße: sie würden einander nie heiraten. Sie würden immer Freunde sein, das war alles und war eine Folter. Er wird zu seinem Achtzehnstundentag zurückkehren, belastet mit einer neuen Bürde, wird mit einem abgelenkten Geist eine noch schwerere Verantwortung auf sich nehmen.
Für einen Augenblick erfüllte die Erinnerung an die gestern erlebte Zauberstunde sein Herz mit Verzückung. Jeder Augenblick dieses wundervollen Tages hatte sich für immer in sein Gedächtnis eingegraben. Er konnte sich, zumindest glaubte er es, so weit bringen, jene Audrey Hilton, die er in der Klinik getroffen, und auch jene andere, mit der er im Hotel Livingstone und bei den Cunninghams geplaudert hatte, zu vergessen – der Kuß jedoch würde unvergeßlich bleiben. Vielleicht wäre es am besten und auch am einfachsten, sein Lebensprogramm umzustoßen und diesem neuen Faktor freie Bahn zu lassen?
Nachdem er während einiger Meilen diese sündigen Gedanken gehegt hatte, kamen die schwererworbenen geistigen Gewohnheiten wieder zu ihrem Recht und forderten gebieterisch, angehört zu werden. Schuldete dieser verliebte Jack Beaven, der nun mit dem Gedanken an die Ehe, ein Heim, eine Familie, gesellige Verpflichtung und häusliche Probleme spielte, nicht auch etwas dem andern Jack Beaven, der wie ein Mönch gelebt und wie ein Sklave geschuftet hatte, um die Auszeichnung zu verdienen, die ihm zuteil geworden war? Weshalb war er mit einunddreißig Jahren an die Fakultät berufen worden? Ein so ungewöhnlicher Erfolg mußte nach dem beurteilt werden, was er einbrachte, nicht aber nach dem, was er gekostet hatte. Und Tubby war es gewesen, der ihm, trotz seiner Unausstehlichkeit, diese Stellung verschafft hatte! Was würde Tubby denken? Was sagen? Was mit gutem Recht tun, wenn er erfuhr, daß ein Mädchen einen großen Teil seiner Zeit und seines Geistes beanspruchte?
Und dann – Cunningham. Gestern abend, als sie mit ihren Pfeifen in der Bibliothek gesessen waren, hatte Cunningham Dinge gesagt, die auf Jack großen Eindruck gemacht hatten.
»Lassen wir das menschliche Element beiseite«, hatte Cunningham erklärt, »so könnte ein Chirurg ebensogut in einer Garage arbeiten. Bedenkt man es recht, Beaven, so besteht eine große Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und dem Auto. Benzin und Blut dienen dem gleichen Zweck. Ferner besteht eine Ähnlichkeit zwischen Lymphdrüsen und Ölen, zwischen dem Zündsystem und den Lungen, dem Kühler und den Nieren. Das Auto besitzt ebenfalls Augen, die erkranken können, und Füße, die berücksichtigt werden müssen.«
»Und einen Kehlkopf«, hatte Jack feierlich hinzugefügt, »der nicht überarbeitet werden darf.«
»Danke. Und es besteht nur wenig Unterschied zwischen Jack Beaven, im weißen Kittel, der an einer kranken Niere herumdoktert, und Chuck Billings, der, in einem schmierigen Overall, eine beschädigte Wasserpumpe repariert. Das einzige, wodurch ihre Arbeit sich unterscheidet, ist die Tatsache, daß Jack Beaven die Möglichkeit besitzt, seinen Patienten auch seelisch ein wenig zu helfen.«
»… und Chuck«, kam Jack ihm großmütig entgegen, »als einziges Ereignis seiner Arbeit sechs Dollar und fünfzig Cent vorweisen kann.«
»Davon bin ich nicht ganz überzeugt, Jack«, Cunningham paffte gedankenvoll an seiner Pfeife und fuhr erst nach einer Weile fort: »Zufällig habe ich diesen Chuck Billings nicht erfunden, um eine kleine Predigt zu illustrieren. Ich kenne ihn sehr gut. Er ist der Besitzer der Garage, in der ich mein Auto reparieren lasse. Vor etwa fünf Jahren habe ich seinen geplatzten Blinddarm operiert. Er war überzeugt, daß er sterben werde, und ich hatte das Gefühl, seine Ahnung trüge ihn nicht. Er besaß wenig Widerstandskraft. Zuviel Alkohol. Ein leichtsinniges Leben. Keine Idee von Sparsamkeit. Bis über den Hals in Schulden. Unbezahlte Rechnungen in der ganzen Stadt. Eines Tages, als er glaubte, er sei schon halb tot und müsse etwas für eine andere Welt tun, sagte er mir, was für ein famoser Mensch er zu sein gedächte, falls er davonkäme.«
»Wenn der Teufel krank ist, will er ein Heiliger werden«, bemerkte Jack spöttisch.
»Stimmt. Und das ist die rechte Zeit, ihn festzunageln. Wir riefen ein Mädchen, das die Notarsprüfung gemacht hatte und das Notarsiegel besaß, aus dem Spitalbüro an Chucks Bett und ließen ihn eine neue Verfassung für sich selbst diktieren, die in Kraft treten sollte, sobald er seine Schuhe verlangte. Da er ohnehin unaufhörlich sprach, konnte er ebensogut von seiner Bekehrung reden.«
In diesem Augenblick erschien Edith Cunningham im Türrahmen.
»Störe ich?« fragte sie.
»Du kannst nicht stören«, antwortete ihr Mann und wies mit der Pfeife auf das Sofa. »Ich erzähle Jack gerade von Chuck Billings.«
»Eine famose Geschichte, sie wird Jack gefallen.«
Sie hatte bestimmt nur deshalb Jack gesagt, weil Cunningham es getan. Nichtsdestoweniger wurde ihm dabei warm ums Herz; er mochte sie gern, sie war so normal.
»Also, um nicht weitschweifig zu werden, Chuck wurde, wie Sie sich das wohl bereits gedacht haben, wieder gesund, und da ich mit Totenbettbeichten und -vorsätzen allerlei Erfahrungen gemacht hatte, beschloß ich, ein kleines Experiment zu wagen. Als offensichtlich wurde, daß die Engel keinesfalls nach Chuck verlangten, schickte ich seine diktierten guten Vorsätze an einen ausgezeichneten Drucker nach Detroit und bestellte ein gedrucktes Exemplar – im Format 30:18 –, mit wundervollen gotischen Typen gedruckt und mit roten Initialen. Es war wunderschön. Ich ließ es unter Glas rahmen. Und an dem Tag, da Chuck entlassen werden sollte, gab ich es ihm. Er saß lachend auf seinem Bett. Seine Frau war gekommen, um ihn im Auto heimzuholen. Ich sagte: ›Chuck, Sie sind ein so tapferer Patient gewesen, daß ich beschlossen habe, Ihnen ein Zeugnis auszustellen. Dies hier berechtigt Sie – von nun an –, ein wichtiger Mann in unserer Stadt zu sein. Ich hoffe, Sie werden es, zusammen mit meinen besten Wünschen, annehmen und alle damit verbundenen Rechte und Privilegien genießen.‹ Chuck nahm das gerahmte Dokument vorsichtig in beide Hände, stellte es auf seine Knie und starrte es verblüfft an. Während er es lautlos las, weiteten sich seine Augen. Mrs. Billings, erfreut über die Auszeichnung ihres Mannes und entsetzlich neugierig, legte einen Arm um seine Schulter und betrachtete mit ungläubigen Blicken das gewichtig anmutende Dokument. In diesem kirchlichen Druck erschien es weit eindrucksvoller, als wenn es mit der Hand geschrieben worden wäre. Chuck schluckte ein paarmal ziemlich laut, während er sein notariell beglaubigtes Versprechen las, ein anderes Leben zu führen. Als er damit fertig war, reichte er das Dokument seiner Frau und sagte mit törichtem Grinsen: ›Danke, Doktor.‹ Dann stierte er lange auf den Fußboden, blickte schließlich auf und platzte heraus: ›Bei Gott – das hab' … Bei Gott ich werd's halten! – Okay, Doc!‹ Ich«, Cunningham holte sein Taschentuch hervor und schneuzte sich laut, »hatte keine Zeit, länger zu bleiben, nahm von den beiden eilig Abschied und ging.«
»Und dann?« Jacks Ton war nicht gerade optimistisch.
Cunningham richtete sich in dem großen Lederfauteuil auf und erwiderte: »Chuck Billings nahm das Zeug mit und hängte es in seiner Garage auf.«
»Es hängt noch heute dort«, sagte Edith stolz. »Viele, die in der Garage zu tun haben, gehen zu der Wand, an der es hängt, und lesen es. Meist ohne Kommentar. Nur manchmal brummt einer: ›Hol' mich der Teufel!‹ – aber niemand lacht.«
»Freilich«, gab Cunningham zu, »hatten wir bei Chuck einen Anhaltspunkt. Die Leute mögen ihn gern und haben Vertrauen zu ihm. Ein netter Mensch. Wäre er etwas gebildeter gewesen und würde er als Kind eine andere Umgebung gehabt haben, er hätte es weit bringen können.«
»Wenn wir bedenken, woher er kommt, Bill«, widersprach Edith, »so hat er es weit gebracht.«
»Vor einigen Jahren wurde er in den ›Rotary Club‹ aufgenommen«, fuhr Cunningham fort.
Jack mochte unwillkürlich geschmunzelt haben, denn Cunningham verteidigte seine Bemerkung:
»Ich weiß, daß Tubby darüber höhnen würde. Es ist jetzt modern, sich über diese Luncheon Clubs lustig zu machen. Dennoch ist mehr als ein egoistischer alter Geizhals durch derartige Organisationen zu einem sozialen Verhalten bewogen worden. Entweder durch das Beispiel der andern oder durch Angst vor dem Urteil der Klubmitglieder. Wollten die Staatsbürger unseres Landes den viel verlachten Trotteln der Luncheon Clubs für eine Zeitlang die Regierung überlassen, dann würde – würde …«
»Unsinn, Bill!« unterbrach Edith ihn. »Erzähl lieber von Chuck.«
»Also, wie gesagt, der ›Rotary Club‹ hat Chuck aufgenommen. Ich glaube, es war der stolzeste Augenblick seines Lebens. Er wurde in das Komitee für die Erziehung größerer gefährdeter Jungen gewählt, jener unseligen Kinder, die eine Zeit ihres Lebens in Besserungsanstalten verbracht haben und daher wirklich einer Besserung bedürfen. Als ich das letztemal in der Garage war, fragte ich ihn: ›Nun, Chuck, was machen Ihre schwierigen Kinder?‹ Er rieb sich mit der schmutzigen Hand den Kopf und antwortete: ›Die Sache ist so, Doc, solange wir ihnen einreden können, daß sie etwas Wichtiges leisten, geht alles gut. Sage ich zu Pat Reegan: Da ist eine verflucht heikle Arbeit, Pat. Wenn du mit ihr nicht fertig werden kannst, dann ruf mich, so wird er bestimmt eine ausgezeichnete Arbeit liefern.‹«
»Das ist es ja gerade, Bill, nicht wahr? Der Ansporn!« Edith bückte versonnen vor sich hin. »Das hält die Buben in Reih und Glied.«
»Uns alle, Liebste«, erwiderte Cunningham. »Der Ansporn, etwas Wirkliches zu leisten. Das Gefühl, daß etwas von uns verlangt wird. Ich weiß, es klingt banal, Jack. Sentimentales Kleinstadtgeschwätz. Ihnen mit Ihren spezialisierten Interessen erscheint es vielleicht als Gefühlsduselei, kindisch und peinlich unprofessionell. Schneide ich aber Chuck Billings kranken Blinddarm heraus und bringe ihm gleichzeitig eine Idee bei, die aus ihm einen nützlichen und geachteten Mann macht, so lass' ich mich gern einen Landlümmel schimpfen.«
In diesem Augenblick ging die Telefonklingel im Arbeitszimmer, worauf Cunningham sich erhob und das Zimmer verließ.
»Spielt er oft solche Streiche, Mrs. Cunningham?« fragte Jack.
»Sie meinen damit, daß er wie in Chucks Fall Versprechen drucken ließ? Ich glaube, er paßt seine Methode den Umständen an. Für ihn ist das ein faszinierendes Spiel. Er studiert die geistige Einstellung seiner Patienten, findet ihre schwachen Stellen heraus und plant seinen Angriff gleich einem Strategen, der überlegt, ob er eine Land-, See- oder Luftoffensive unternehmen soll. Meist appelliert er an den Mut der Leute – ich glaube, er dreht ihnen Tapferkeit an –, ist überzeugt, daß sie stark sind, und erweckt auch in ihnen den Glauben an die eigene moralische Kraft. Seine Experimente bereiten ihm viel Freude. Selbstverständlich liebt er die Chirurgie und die Arbeit im Laboratorium, aber das andere – die Verführung der Seelen zum Guten –, das erfüllt das ganze Herz meines Mannes.«
Cunningham kam an die Tür, den Hut in der Hand.
»Ich werde eine Stunde fort sein«, erklärte er. »Spital.«
»Soll ich mitkommen?« fragte Jack.
»Nein, bleiben Sie hier und plaudern Sie mit Edith.«
Nachdem die Haustür ins Schloß gefallen war, sagte Jack: »Ihr Mann ist ein außergewöhnlicher Mensch, wie er mir noch nie begegnet ist.«
»Haben Sie sich beim Angeln unterhalten?« fragte Edith lässig.
»Bill sagte mir, er habe Ihnen Audrey Hiltons Geschichte erzählt. Sie haben das Mädchen gern, nicht wahr? Ich hab's bemerkt.«
Auf diese Inquisition war Jack nicht vorbereitet gewesen. In einer andern Stimmung und in einem andern Ton vorgebracht, hätte er sie vielleicht für eine Impertinenz gehalten, aber Edith fragte in dem gleichen Ton, in dem sie sich erkundigt haben würde, ob er Pferde, Beethoven oder Krabben möge, ob er Audrey gern habe.
»Ja, sehr«, antwortete er aufrichtig.
»Das ist recht. Sie beide würden zusammen sehr glücklich sein. Sie haben einander so viel zu geben: Ihr Wissen und Audreys Charme, Ihr Ehrgeiz und Audreys Abgeklärtheit, Ihre …«
»Ich werde wohl nie heiraten, Mrs. Cunningham«, unterbrach Jack sie. »Die Art meiner Arbeit läßt es nicht zu. Audrey und ich haben ganz offen darüber gesprochen.«
»Oh! Schon jetzt?« Ediths Gesicht drückte belustigtes Staunen aus. »Sie haben, seitdem Sie Audrey kennengelernt, wirklich keine Zeit verloren. Wie rührend komisch: Sie haben alles besprochen und dann beschlossen, einander nicht zu heiraten! Das war wirklich heldenhaft, besonders von Ihnen.«
Sie lachte.
»Es tut mir leid, wenn es nach Heldenpose klingt«, widersprach Jack. »Ich habe für Heldentum so gar nichts übrig. In Wirklichkeit sehen wir nur den Tatsachen ins Auge. Ich glaube nicht, daß wir uns als Märtyrer vorkamen.«
»Seien Sie nicht böse«, bat Edith. »Sie sind so schrecklich ernst, Jack. Das reizt mich, Sie zu necken, und es fällt mir geradezu schwer, es nicht zu tun.« Sie wurde plötzlich ernst. »Glauben Sie bitte ja nicht, daß ich Ihre Leidenschaft für Ihre Arbeit nicht anerkenne. Ich kann mir vorstehen, was es Sie gekostet hat, zu erreichen, was Sie erreicht haben. Es ist bestimmt nicht ohne Verzicht und Selbstbeherrschung gegangen. Aber wäre es nicht möglich«, sie schloß gedankenvoll halb die Augen, »daß Ihre Hingabe an die Arbeit zu einer Art Idiosynkrasie geworden ist? Sie haben sich selbst grausame Opfer auferlegt, sind stolz darauf, und das mit Recht. Sie lieben Ihre Narben; sie sind bezeichnend für Sie, und das ist es, was ein jeder erstrebt: Charakterisierungsmerkmale. Vielleicht haben Sie nie vor dem Spiegel gestanden und sich nie gesagt: ›Du bist der Mann, der in der Erinnerung der Menschheit leben wird als ein Mensch, der der Wissenschaft alles geopfert, der sie erkoren, der alles andere aufgegeben und sich einzig und allein an sie geklammert hat, der ihr treu war bis in den Tod.‹ Aber selbst wenn Sie dies nie getan haben sollten, so war es doch Ihr Ziel und Ihr Stolz. Wenn ich mich irre, sagen Sie es mir.«
»Es könnte so aufgefaßt werden«, gab Jack zu.
»Und jetzt pocht ein kluges und schönes Mädchen an Ihr Herz. Sie jedoch haben keinen Platz für es, weil Sie wähnen, Ihr ganzes Herz sei ausgefüllt. Ich glaube, dies ist ein Irrtum. Nicht Ihr Herz ist ausgefüllt, sondern Ihr Kopf. Sie haben Ihren Intellekt auf Kosten Ihrer Gefühle kultiviert. Audrey würde Ihnen sehr viel bedeuten.«
»Als Freundin – ja.«
Edith lächelte wissend und lehnte sich bequem auf dem Sofa zurück.
»Ich möchte mit Ihnen eine Wette eingehen, Dr. John Wesley Beaven.«
Er schüttelte den Kopf. »Aber nicht, was diese heikle Sache angeht.«
»Wenn Sie nicht wetten wollen, so lassen Sie mich wenigstens prophezeien. Ich gebe Audrey und Ihnen ein Jahr, um herauszufinden, wie dumm Sie beide sind.«
»Sind Sie eine gute Prophetin?« erkundigte Jack sich und lächelte.
»Eine der besten, die es gibt. Unheimlich gut – sobald es sich um romantische Dinge handelt. Als ich Bill Cunningham zum erstenmal sah, stempelte ich ihn sofort als meinen Privatbesitz ab. Heimgekommen, sagte ich meiner Mutter, ich sei so gut wie verheiratet.«
»Erzählen Sie, wie es sich zugetragen hat«, bat Jack, froh, von etwas anderem zu sprechen.
»Es war bei einem Konzert des Chicago-Symphony-Orchesters in Detroit. Bill machte damals sein klinisches Jahr. Er hatte Tubby Forrester mitgebracht, um ihn von seinen traurigen Gedanken abzulenken. Tubby hatte eben seine Freundin verloren.«
»Freundin?« wiederholte Jack ungläubig. »Hat Tubby je eine Freundin gehabt?«
»Und ob …«
»Ich kann mir Tubby nicht verliebt vorstehen. Was geschah? Wollte das Mädchen ihn nicht?«
Edith überlegte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich glaube, ich überlasse es doch lieber Bill, Ihnen davon zu erzählen.«
Tubbys letzte Instruktionen versteiften Jacks Widerstand gegen Audreys und Cunninghams vermenschlichenden Einfluß. Wieder ins alte Geleise zurückgekehrt, war es nur natürlich, daß die gewohnte Einstellung abermals die Oberhand gewann. Jack war bestrebt, alle sentimentalen Rücksichten, die ihn verwirrten, abzuwehren, und dies äußerte sich unter anderem auch in der Härte, mit der er die Anatomiestudenten behandelte.
Tubby war, die vielversprechenden Studenten ausgenommen, gegen alle unbarmherzig; Jack hingegen hatte beschlossen, auf die Zurückgebliebenen und Unsicheren mehr Rücksicht zu nehmen. Während der ersten Tage übte der junge Professor auch den Trägen gegenüber Barmherzigkeit. Er beantwortete ihre törichten Fragen höflich, verhielt sich ihrer Dummheit gegenüber sanft, verbarg seine wilde Ungeduld über ihre mangelhafte Vorbildung, was in krassem Widerspruch zu Tubbys Methode stand. Dieser pflegte häufig wütend zu fragen, ob man aufgehört habe, an den amerikanischen Hochschulen die elementarste Physiologie zu unterrichten. – Jack versuchte krampfhaft, geduldig und freundlich zu sein, doch fiel ihm dies schwer. Legte man die Peitsche fort, so fielen die faulen Rosse sofort in Schritt.
Unter jenen Studenten, die eine gute Bildung an den Tag gelegt und ihren Willen zum Studium bewiesen hatten, befand sich einer, mit dem sich Beaven besonders eingehend befassen konnte, ohne den Unwillen der anderen Hörer hervorzurufen. Es war dies ein hübscher und liebenswürdiger Chinese namens Abbott, der schon am ersten Tag durch die drollige Erklärung des nicht zu ihm passenden Namens einen guten Eindruck erweckt hatte.
Es war wirklich komisch gewesen. Bei der ersten Namensverlesung hatte, als der Name »Abbott« genannt wurde, der junge Chinese strammgestanden, und bei Beavens unverhohlenem Staunen war das ganze Auditorium in gutmütiges Gelächter ausgebrochen. Mr. Abbott selbst hatte über das ganze Gesicht gegrinst, und ohne eine Frage abzuwarten, hatte er sich liebenswürdig bereit erklärt, über den Grund des Lachens Auskunft zu geben.
»Professor Beaven – ich möchte sagen, daß der Name meiner Familie in China Ng ist.« Er machte eine höfliche Verbeugung. »Ich brachte diesen Namen an die amerikanischen Hochschulen mit, doch fiel es meinen neuen Freunden schwer, ihn auszusprechen. Weder meine Lehrer noch meine Kameraden wollten mir glauben, daß es einen solchen Namen gibt. Einige meinten, ich halte sie zum Narren. In einer Bank wurde ich gefragt, was die Buchstaben Ng auf meinem Scheck bedeuteten. Anscheinend werden sie in Amerika als unangenehme Abkürzung für ›nicht gut‹ verwendet. Deshalb entschloß ich mich im letzten Jahr an der Hochschule …« Er unterbrach sich und fragte entschuldigend: »Aber vielleicht nehme ich mit dieser unwichtigen Geschichte zuviel Zeit in Anspruch.«
»Keineswegs«, erwiderte Dr. Beaven. »Bitte, fahren Sie fort, Mr. Abbott.«
»Danke, Sir«, sagte Abbott. »Also im letzten Jahr vertauschte ich meinen Namen gegen einen weniger peinlichen.«
»Mit voller Berechtigung«, stimmte Dr. Beaven zu. »Vielleicht wollen Sie uns anvertrauen, warum Sie von allen Namen, die Ihnen zur Verfügung standen, gerade Abbott gewählt haben?«
»Mit Vergnügen, Sir. Mir sind im Zusammenhang mit den Namenlisten zwei Tatsachen aufgefallen. Die Studenten werden häufig dem Alphabet nach gesetzt, und auf diese Art kam das A nahe dem Lehrer zu sitzen.«
»Ich wüßte nicht«, meinte Beaven belustigt, »daß dies nun gerade ein beliebter Platz wäre. In meinen Studententagen wurde er als unangenehm angesehen.«
»Das chinesische Auge«, erklärte Abbott, »ist häufig kurzsichtig. Wir sitzen gerne in der Nähe des Podiums, besonders, wenn Experimente vorgeführt werden. Doch gibt es auch noch einen andern Grund, weshalb es für einen Ausländer von Nutzen ist, an der Spitze der Liste zu stehen. Wird ein schweres oder neues Thema behandelt, so wird vor allen andern der Ausländer aufgerufen, und wenn er sich irrt, so wird es ihm verziehen, weil er es als Ausländer eben nicht besser weiß. Wird er aber aufgerufen, nachdem seine Kollegen die Frage bereits falsch beantwortet haben, so ist der Professor schon gereizt, daß er …« Abbotts weitere Worte wurden von Lachen übertönt.
»Man hört oft vage Bemerkungen«, sagte Beaven, als die Ruhe wiederhergestellt war, »über die Weisheit des Ostens, ohne auch nur zu ahnen, für welch praktische Zwecke diese Weisheit angewendet werden kann. Ich habe das Gefühl, Mr. Abbott, daß Sie zur Wissenschaft der angewandten Psychologie einen wichtigen Beitrag geliefert haben. Ist es erlaubt, für das ganze Auditorium zu sprechen und Sie herzlich willkommen zu heißen?«
Spontaner Beifall wurde laut. Abbott verbeugte sich dreimal tief, zweimal vor dem jungen Professor und einmal vor den Kollegen. Er hatte sich einen guten Platz erobert, und keiner neidete ihm diesen.
»Von nun an«, fügte Beaven hinzu, als der Applaus verebbte, »können Sie in der vordersten Reihe sitzen, Mr. Abbott, und alle Vorteile und Nachteile dieses Platzes genießen.« Dies gefiel allen, es war ein angenehmes kleines Intermezzo gewesen. Abbott schien dazu geeignet zu sein, die Maskotte des Semesters zu werden, und Beavens Aktien waren gestiegen.
Nach dieser günstigen Einführung war es nur natürlich, daß der Chinese die besondere Beachtung seines Anatomielehrers genoß, ohne den Neid der andern zu erwecken. Und da er sich sehr bald als ungemein talentiert für Laboratoriumsarbeiten erwies, schien Beavens Interesse für ihn vollkommen verständlich.
Niemand wußte, daß Dr. Beaven Abbott auch aus andern Gründen mit seiner besonderen Beachtung auszeichnete. Das Geheimnis war ziemlich sicher. Für Jack trug alles Chinesische eine Art Glorienschein. Der kluge junge Neurologe hatte bislang für China ebensowenig Interesse empfunden wie für die Ringe des Saturns, nun aber fand er sich einem ihm neuen uralten, bezaubernd geheimnisvollen Forschungsgebiet gegenüber.
Bill Cunningham hatte behauptet, ein Amerikaner, der Audrey Hilton heiratete, müßte Chinese werden, um sie glücklich machen zu können. Jack Beaven dachte nicht daran, sich aus diesem Grunde über China zu unterrichten, denn es stand ein für allemal fest, daß er Audrey Hilton nicht heiraten werde. Er und die anbetungswürdige Lan Ying hatten beschlossen, gute Kameraden zu sein, das war alles. Doch fand Jack, er müsse sich, wollte er dieser Kameradschaft voll Rechnung tragen, über China orientieren. Je mehr er über China wußte, desto mehr Freude würden sie an ihrer Korrespondenz haben.
An einem Samstagmorgen Ende Oktober kam Beaven ins Laboratorium, um ein Experiment zu machen. Als er »seinen Chinesen« fleißig an der Arbeit fand, ging er an dessen Tisch, um ihm ein paar freundliche Worte zu sagen. Obgleich er Abbotts Sinn für Humor kannte, war Jack in allen Gesprächen mit ihm stets ernst und beruflich gewesen. Heute leistete er sich einen Scherz.
»Ich hörte«, sagte er, sich auf einen Sessel niederlassend, »daß die Mundstruktur der Mongolen sich in gewisser Hinsicht von jener der Kaukasier unterscheide. Schade, daß wir nicht einen Ihrer verstorbenen Landsleute hier haben, um ihn studieren zu können.«
Abbott schüttelte den Kopf und lächelte geheimnisvoll.
»Der Chinese«, erklärte er, »achtet seine Leiche höher als der Yankee.«
»Weshalb?« fragte Beaven.
»Weil der Yankee, wenn er stirbt, in den Himmel kommt. Dort gibt man ihm einen neuen Leib. Deshalb ist es unwichtig, was mit dem alten geschieht.« Abbott legte die Instrumente fort und schien bereit, falls er dazu ermutigt werde, sich auf eine philosophische Erörterung einzulassen.
»Sie erwarten also kein Leben nach dem Tod?« erkundigte Beaven sich.
»Doch, Sir, aber ein anderes als die Christen. Wenn Sie sterben, Sir, so sagen die Engel: ›Da kommt der gute Dr. Beaven. Setzen Sie sich, Dr. Beaven, und singen Sie mit!‹«
Zu Abbotts Verwunderung brach Jack in Lachen aus.
»Das ist wirklich hübsch. Bitte fahren Sie fort.«
»Danke. Und deshalb ist es Dr. Beaven einerlei, ob seine Leiche in geweihter Erde bestattet oder für wissenschaftliche Zwecke seziert wird. Der arme heidnische Chinese dagegen erwartet für nachher keine persönlichen Aufmerksamkeiten. Er entsinnt sich keiner pränatalen Ehrungen und erwartet auch dann keine, wenn er zum Quell aller Dinge zurückkehrt.«
»Deshalb sorgt er für seine Gebeine?«
»Ich glaube, das ist ein stichhaltiger Grund.«
»Ein interessantes Thema«, meinte Jack aufrichtig. »Ich erführe gern mehr darüber. Wir müssen einmal in aller Ruhe miteinander plaudern, Abbott.« Jack entfernte sich langsam von Abbotts Tisch. »Wenn Sie morgen nachmittag gegen fünf Uhr nichts vorhaben – hätten Sie dann Lust, zu einer Tasse Tee und einer Zigarette in meine Wohnung zu kommen?«
»Wenn Sie es erlauben, Sir«, erwiderte Abbott mit einer Verbeugung. »Ich werde den Tee mitbringen, damit alles chinesisch ist«, und er lachte über den kleinen Witz.
Dies war der Anfang einer sehr angenehmen und nutzbringenden internationalen Freundschaft. Abbott war keineswegs vertraulich, und Beaven holte ihn nicht aus; doch hatten sie viel mehr gemeinsame geistige Interessen, als sie gedacht hatten. Anläßlich seines zweiten Besuches, eine Woche nach dem ersten, brachte Abbott einen Korb mit Material für ein ausgezeichnetes Ragout mit und erwies sich als guter Koch. Beaven setzte sich auf einen Küchenstuhl und beobachtete die Prozedur. Abbott schnitt Kastanien in Stücke und sprach, um seinem Gastgeber gefällig zu sein, über chinesische Sitten und chinesische Mentalität.
»China«, philosophierte Abbott, »hat sich von jeher auf die Vergangenheit gestützt und ist an ihr klebengeblieben, Amerika dagegen blickt immer in die Zukunft.«
»Sie«, er schnitt eifrig weiter, »erwarten alles von der Zukunft. Wir nichts. Wir sind mit dem Bestehenden zufrieden, Sie wollen immer eine Änderung.«
»Ohne Änderung gibt es keinen Fortschritt«, warf Jack ein.
»Fortschritt?« Abbott blickte auf und lächelte trocken. »Man hat mir gesagt, daß die Engländer eine Redensart haben: ›Was wir am Ringelspiel verdienen, geben wir auf der Schaukel wieder aus.‹ Mir scheint, daß das gleiche für Ihren Fortschritt gilt. Möglicherweise werden heute in Michigan ein Dutzend Leben durch die neuesten Entdeckungen der Chirurgie gerettet – doch gehen ebenso viele Leben durch die Erfindung des Autos verloren. Das Flugzeug ermöglicht gewissen Persönlichkeiten, ihre Geschäfte rascher zu erledigen – aber es liefert auch eine neue Methode für den Massenmord. Dadurch jedoch werden, meiner Ansicht nach, die Dinge keineswegs gefördert. Das Radio ist eine bedeutsame Erfindung, es verbreitet die neuesten Nachrichten in der ganzen Welt. Früher haben die armen und unwissenden Leute sich nicht um die Welt gekümmert, denn sie wußten nichts von Naturkatastrophen und Massenunglücken – jetzt, da ein jeder weiß, was los ist, machen alle sich Sorgen und haben Angst.«
»Und wo sehen Sie die Lösung des Problems?« fragte Jack, während Abbott einen Topf auf den Herd stellte.
»Das war eine typisch amerikanische Frage, nicht wahr, Sir? Die Amerikaner wollen immer Lösungen finden. Und zwar sofort. Sie verlangen ein Rezept, das sie in die Apotheke der Weltgeschichte tragen und dort machen lassen können. Der arme Chinese dagegen hat es nicht so eilig, eine Antwort auf seine Fragen zu hören, die bereits sein Vater dem Großen Schweigen gestellt hat.«
»Bestimmt«, meinte Jack nachdenklich, »wird es äußerst schwer sein, die amerikanische und die chinesische Mentalität in Einklang zu bringen.«
Abbott hielt in der Arbeit inne und bemerkte, dies komme auf das zur Debatte stehende Thema an.
»Nehmen wir einen konkreten Fall.« Jack versuchte, unpersönlich zu erscheinen. »Nehmen wir an, daß ein Amerikaner, ein Mann, der an den Fortschritt der Wissenschaft glaubt und materialistisch eingesteht ist, eine Chinesin hebt, die kraft ihrer Erziehung die Vergangenheit höher schätzt als die Gegenwart oder die Zukunft – haben die beiden eine Chance, ihre gegenseitigen Ansichten zu verstehen?«
Abbott warf ihm einen raschen, prüfenden Blick zu und lächelte.
»Wenn die beiden einander lieben, vielleicht. Sie würden wohl manchmal unglücklich sein, aber weniger unglücklich, als wenn sie ihrer Liebe Widerstand geleistet hätten.«
»Sie sind ja ein Romantiker«, sagte Jack. »Das hätte ich bei Ihrem großen Interesse für wissenschaftliche Dinge nie erwartet.«
»Glauben Sie, Dr. Beaven, daß ein wissenschaftlich arbeitender Mensch unfähig sei, Liebe zu empfinden?«
»Das ist zuviel gesagt. Aber wird es einem Mann, der völlig von seinen wissenschaftlichen Forschungen in Anspruch genommen wird, nicht schwerfallen, sich mit Herzensangelegenheiten zu befassen?«
Abbott lächelte.
»Der Mensch war ein Liebender«, meinte er philosophisch, »ehe er ein Neurologe war.« Er wandte sich hastig den Kochtöpfen zu und klapperte mit diesen, als wolle er hinter dem Lärm seinen Rückzug verbergen. Er hatte das Gefühl, sich recht weit vorgewagt zu haben.
»Sie scheinen andeuten zu wollen«, Jack zwang sich zu einem lustigen Ton, »daß meine Frage einem persönlichen Interesse entsprang.«
Abbott machte eine entschuldigende kleine Verbeugung. »Verzeihen Sie mir, Dr. Beaven. Ich dachte, Sie wollten mir dies zu verstehen geben.«
»Gut. Da Sie es nun schon einmal wissen, wollen Sie mir sagen, was Sie auf diesen Gedanken gebracht hat?«
»Sie haben, Dr. Beaven, mehr als einmal an mich Fragen gestellt, die Ihr großes Interesse für das chinesische Leben und die chinesische Kultur bekundeten. Ich fragte mich, warum, da China doch wenig an erfolgreichen Forschungsarbeiten beizusteuern hat. Es interessierte mich zu erfahren, welches Interesse Sie an China haben. – Jetzt sagten Sie es mir. Aber ich kann sofort vergessen, was Sie mir sagten, und ich hoffe, daß ich nicht unhöflich war.«
»Unsinn!« entgegnete Jack etwas ungeduldig. »Sie könnten, selbst wenn Sie es versuchten, nicht unhöflich sein. Ihre Folgerung trifft nämlich so ziemlich zu. Ich habe eine liebe Freundin, der Rasse nach Amerikanerin, die in China geboren wurde und bis vor kurzem immer dort gelebt hat.«
»Aber sie ist doch schließlich Amerikanerin? Da wird es doch kein Problem geben. Daß sie in China geboren wurde und dort gelebt hat, macht sie nicht zur Chinesin.«
»Es ist ein ganz eigenartiger Fall, Abbott. Die junge Dame wurde von ihrer Geburt an in einer chinesischen Familie aufgezogen. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt. Ihren Vater, den sie mit acht Jahren verlor, hatte sie nur selten gesehen. Bis zu ihrem siebten Jahr hat sie kein Wort Englisch gesprochen.«
»Ja«, meinte Abbott nachdenklich, »das ist etwas anderes. Darf ich fragen, in was für einem chinesischen Heim sie aufgewachsen ist?«
»Die Leute leben in Hongkong. Der Mann ist ein begüterter und einflußreicher Kaufmann, der sich dem englischen Spital gegenüber sehr großzügig erwiesen hat.«
Abbotts starres Gesicht erhellte sich.
»Ah, ich weiß. Ich habe von ihm gehört – Sen Ling. Er hat viele Studenten der Medizin auf seine Kosten im Ausland studieren lassen.«
»Ja, das ist er«, erwiderte Jack. »In seinem Haus ist meine Freundin aufgewachsen.«
»Dann«, erklärte Abbott entschieden, »ist sie Chinesin.«
»Und wird wahrscheinlich«, Jacks Ton klang abschließend, »nie etwas anderes sein.«
»Die Chinesen«, erläuterte Abbott, »werden nie etwas anderes.«
»Jetzt ist sie in Amerika.« Jack schien mit dieser Feststellung andeuten zu wollen, daß Abbotts Behauptung anfechtbar sein könnte.
»Das bin ich auch«, entgegnete Abbott. »Aber trotzdem bin ich kein Amerikaner.«
Beide lachten. Dann schritt Beaven, die Hände tief in den Rocktaschen vergraben, in der winzigen Küche auf und ab. Schließlich sagte er sehr ernst: »Abbott, wenn ich die Freundschaft mit der jungen Dame aufrechterhalten will, muß ich wohl selbst chinesisch werden.«
Abbott schüttelte entmutigend den Kopf.
»Sie glauben, ich soll es gar nicht versuchen?«
»Ich meine, daß es nicht geht.«
Jack nickte. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber ich könnte wenigstens, aus Höflichkeit, ein paar chinesische Worte lernen, finden Sie nicht auch?«
»Freilich.«
»Wollen Sie mir dabei behilflich sein?«
»Gern.«
»Was bedeutet Lan Ying?«
»Englische Orchidee.«
*
Jack Beaven, der früher seine Privatkorrespondenz als Plage empfunden hatte, entdeckte zu seinem Erstaunen, daß die Freude, mit der er an Audrey Hilton schrieb, nur durch jene übertroffen wurde, die ihre Briefe in ihm erweckten.
Während der letzten Jahre war er von seiner Arbeit dermaßen in Anspruch genommen worden, daß er fast nur Geschäftsbriefe erhalten und geschrieben hatte. Etwa jeden Monat oder alle sechs Wochen kam ein kurzer Pflichtbrief von Jean, ein schwesterlicher, hausfraulicher, unglaublich uninteressanter Bericht über das Leben der jungen Frau, ihre Küchensorgen, das Anlernen einer neuen Köchin oder eines jungen Hundes, das Nasenputzen der Kinder, die Bridgepartien und die Vorträge über Tagespolitik. Die Briefe begannen mit der atemlosen Bemerkung, dies werde wieder ein übervoller Tag sein, und brachen plötzlich mit jener ab, daß die Schreiberin etwas Angebranntes rieche oder daß Junior eben aus dem Bett gefallen sei.
Jack mochte Jean gern. Er hatte liebe Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit, doch waren sie nun bereits seit vielen Jahren getrennt. Jetzt, da Jack ganz in der Chirurgie aufging und Jean in Häuslichkeit buchstäblich ertrank, hatten sie miteinander ungefähr so viel gemeinsam wie eine Gallone Äthylchlorid mit einem halben Dutzend vom Spezereihändler gelieferter Büchsen guter Suppe. Dachte Jack an die Breite des zwischen ihnen klaffenden Abgrundes, so empfand er bisweilen Gewissensbisse. Es hatte zwischen ihnen keine Mißverständnisse, keine Entfremdung gegeben, nur das allmähliche Verblassen der innigen Kameradschaft, die ihrer ersten Jugend so viel bedeutet hatte. Jack schickte der Schwester immer Weihnachtsgeschenke und erinnerte sich genau an den Geburtstag der Kinder. Bisweilen versprach er auch, Jean zu besuchen, vielleicht im nächsten Sommer – aber noch während er es tat, wußte er bereits, daß er nicht die geringste Absicht hatte, sein Versprechen zu halten.
Und nun erschien ihm zum erstenmal im Leben das Briefschreiben nicht als Qual. Audrey und er hatten, auf ihre Anregung hin, beschlossen – wenn möglich –, einmal wöchentlich, und zwar am Samstag, zu schreiben. Jack empfand diese Begrenzung gar bald als Hemmung und schrieb jeden zweiten Tag. Audrey redete ihn immer mit »Mein lieber Freund« an, bis zu dem Brief, in dem sie ihm für die Orchideen dankte.
Er hatte sich beeilt, sie wissen zu lassen, daß er die Bedeutung ihres Namens erfahren habe. Als Abbott an jenem Sonntagabend gegen sieben Uhr Jack verließ, telefonierte dieser sofort die kleine Blumenhandlung im »Hotel Livingstone« an. Er freute sich, daß sie offen war, und noch größer wurde seine Freude, als er erfuhr, daß sie Orchideen habe. Er wolle nur eine einzige, erklärte er, und werde gleich kommen. Die Orchidee wurde per Flugzeug befördert. Auf die Karte, die er beigelegt, hatte er geschrieben: »Meine Lieblingsblume – für meine liebste Freundin – Jack.«
Ihre Antwort erwartete er mit einer Ungeduld, die ihm die Vorlesungen endlos erscheinen ließ. Als dann der Brief eintraf, riß er den Umschlag mit der Nervosität eines Sträflings auf, der seine Begnadigung erhofft. Sein Herz pochte heftig, da sein Blick auf die erste Zeile fiel:
»Lieber Jack!
Danke für die schöne Orchidee, Ihren lieben Brief und die Mühe, die es Sie gekostet haben muß, einen Chinesen aufzutreiben (wahrscheinlich einen Professor der Nationalökonomie), der sich wundern mochte, weshalb der Anatomieprofessor die Bedeutung des Namens Lan Ying wissen müsse. Er hat sicherlich gelächelt, war aber bestimmt verblüfft.
Meine Schwester sagte mir, sie habe gestern einen Brief von Dr. Forrester erhalten, doch erzählte sie mir nicht, was darin stand. Wahrscheinlich hat er sich nach Teddy erkundigt, der in der Schule gut vorwärtskommt und jetzt alles tun darf, was die andern Buben tun.
Über unsere Freundschaft ist meine Schwester nicht erfreut. Es fiel ihr auf, wie häufig Sie schreiben. Nicht etwa, daß sie es ungern sieht oder Sie nicht schätzt. Im Gegenteil, sie mag Sie gern. Aber sie kann eine Freundschaft, die sich damit begnügt, eine bloße Freundschaft zu bleiben, nicht begreifen. Ich habe ihr unsern festen Entschluß mitgeteilt. Sie besteht darauf, mich zu verheiraten – mich versorgt und sicher zu wissen. Und sie glaubt, daß ich mir, solange wir befreundet sind, keine Mühe geben werde, einen Mann zu ergattern.
Ich bin froh, finanziell nicht von Claudia abhängig zu sein, sonst wäre all dies für mich sehr peinlich. Wie die Dinge stehen, bin ich zwar bereit, alle kleinen und großen Wünsche meiner Schwester zu erfüllen – in diesem Falle jedoch glaube ich, daß es für sie und für mich das beste ist, wenn ich nach Gutdünken handle.
Ist es gut, die eigenen Wünsche dem Willen eines andern zu opfern, so wäre es unfreundlich von mir, meiner Schwester die Gelegenheit dazu zu rauben. Und diese besteht für sie darin, mir die Möglichkeit zu lassen, mein Leben auf meine Art einzurichten.«
Beim Lesen dieser Zeilen lachte Jack und fragte sich, ob Audreys auf den Nutzen der Aufopferung angewandte Logik der »Weisheit des Ostens« entsprang oder ob sie bloß scherzte?
»Es ist für Menschen nicht gut«, schrieb Audrey weiter, »ihren Willen zur Beherrschung der übrigen Mitglieder des Haushaltes zu verwenden. Die Sklaverei muß für den Sklaven sehr arg sein, doch ist sie auch für den Herrn schlecht. Und ich glaube, daß Sklaverei in einer Familie für alle ein schweres Los ist. Verlangte ein Familienmitglied von den andern, daß diese in allem, sowohl in kleinen als auch in großen Dingen, nach seinem Willen handeln, so würde in dieser Familie allmählich niemand einen eigenen Willen haben, und alle würden bei dem starken Mitglied Stütze suchen. Ähnliches konnte ich häufig in China beobachten.
Ich möchte meiner Schwester nicht zur Last fallen, deshalb muß ich, um eine Gefährdung ihres Glücks zu vermeiden, sie daran hindern, für mich zu denken. Schließlich wird sie besser fahren, wenn ich vollkommen unabhängig von ihrem Willen bleibe, ausgenommen jene Fälle, da unsere Wünsche übereinstimmen. Glauben Sie nicht auch, daß dies das Liebevollste ist, was ich tun kann?«
Eine seltsame Art, das alte Problem des Familientyrannen zu behandeln. Aber mochte dies in Audreys steifem Stil noch so drollig klingen, es war psychologisch richtig. Jack dachte an die ihm bekannten Fälle, da eine Mutter ihre Kinder völlig beherrschte und diese, wenn sie sie auch nicht so unbarmherzig vernichtete wie eine Tigerin, die ihre Jungen frißt, schließlich in einen Zustand völliger Hilflosigkeit versetzte. Er hatte oft genug von dem strengen Vater gehört, der die undankbare Rolle des Diktators spielte und es genoß, mit der Peitsche zu knallen, damit alle andern über die Schnur sprängen. Hatte er dann glücklich ihre Persönlichkeit zerstört, so kletterten sie an ihm hoch, und er mußte sie, solange er lebte, auf dem Buckel tragen. Freilich hatte er diese Strafe verdient, doch zahlte er dennoch einen hohen Preis für den Genuß, sich von der Familie die Stiefel lecken zu lassen.
Eines war gewiß: so heb und sanft Audrey auch sonst sein mochte, sie würde mit sich nicht herumkommandieren lassen. Darüber brauchte Jack sich keine Sorgen zu machen. Das einzige Hindernis für ihre Freundschaft war der von Claudia zu erwartende Widerstand gewesen. Es war ein Segen zu wissen, daß sie damit keinen Erfolg haben würde.
*
Tubby sollte gegen Mitte November zurück sein. Jack hoffte, er werde während der Erntedankferien fortfahren können. Dies war ihm von Edith Cunningham vorgeschlagen worden. Nun hatten Audrey und er ein Thema für ihre Briefe und etwas, worauf sie sich freuen konnten.
Cunninghams erste Vorlesung war ursprünglich für die dritte Oktoberwoche vorgesehen gewesen, und Jack fragte sich, ob der plötzliche Entschluß seines Chefs, nach Wien zu fahren, nicht dem Wunsche entsprungen war, während dieser Zeit fern von der Stadt zu sein. Die Vorlesungen selbst waren auf Cunninghams Bitte hin bis Dezember verschoben worden. Wahrscheinlich hatte er es für fairer gehalten, damit bis zu Tubbys Rückkehr zu warten. Aber die Mitglieder des Kuratoriums bestanden darauf – zweifellos stak Denham dahinter –, daß Cunningham seine Antrittsvorlesungen im Oktober halte.
So war denn Cunningham am dritten Montag des Oktober eingetroffen. Das Auditorium der Medizinischen Fakultät war überfüllt. Jack gab es ungern zu, doch mußte er es sich gestehen, daß die Atmosphäre viel lebendiger und wärmer war als bei andern derartigen Anlässen. Es eignete ihr etwas Anspornendes, Freundliches, und die Studenten begleiteten die Ansprache mit echtem Applaus und heiterem Beifall, nicht aber mit dem pflichtgemäßen Händeklatschen. Jack wußte, daß er die Ansprache nicht billigen dürfe, doch war es unmöglich, von ihr nicht mitgerissen zu werden.
»Betrachten Sie Ihre eigene typische Anamnese«, führte Cunningham aus, als er ungefähr in der Mitte der Ansprache angelangt war. »Ein Mann wird von einem völlig verwirrten praktizierenden Arzt ins Spital geschickt. Er bringt einen Brief mit, in dem der Doktor – der Sie genau und günstig wohl nicht über den Patienten, sondern über die eigene Person unterrichten will – sich alle Mühe gegeben hat, gelehrt zu schreiben. Die Anamnese lautet ungefähr so«, Cunningham schob seine Lesebrille zurecht und las in trockenem Ton: »Im August des vorigen Jahres klagte der Patient über Druckempfindlichkeit in den Zehen. Im Oktober waren seine Waden ebenso druckempfindlich. Bald darauf fiel ihm das Gehen schwer, und seine Hände wurden schwach und ungeschickt. Der Fingernasenversuch ergab ausgesprochene Ataxie und Dysmetrie. Beuge- und Streckbewegungen wurden nur schwach ausgeführt. Der Kniefersenversuch bestätigte Ataxie. Abdominale Reflexe fehlten, ebenso Vibrationsgefühle der Knochen bis zum Darmbein. Schmerzempfindung fehlte bis zum dritten Brustwirbelsegment. Ein Versuch, den Babinski zu prüfen, resultierte in einem Fluchtreflex und einem positiven gekreuzten Babinski auf der andern Seite.«
Er machte eine Pause und nahm die Lesebrille ab. Die Hörer lachten und freuten sich auf das Kommende. Shane, der Cunningham eingeführt hatte, trug zur allgemeinen Belustigung bei, indem er fragte: »Fehlt nicht noch ein Wassermann?« Alle lachten, und Shane sah erfreut drein.
»Danke.« Cunningham winkte Shane einen freundlichen Gruß zu. »Ich wollte ihn gerade erwähnen. Die Wassermannsche Reaktion der Rückenmarkflüssigkeit war – sagen wir, negativ. Ich denke«, er sah zu Shane hinüber, »Sie wissen jetzt, was dem Manne gefehlt hat.«
Im Saal wurde es plötzlich still. Der alte Shane war erwischt worden. Die Studenten stießen einander in die Rippen, ihre Augen weiteten sich vor Vergnügen.
»Nun«, Shane kreuzte die Beine. »Ich nehme an, daß Sie nach Vornahme einer Laminektomie eine Verwachsung zwischen dem Rückenmark und der Arachnoidea gefunden haben. Aber fragen Sie lieber Dr. Beaven, das fällt in sein Gebiet.«
Die Sessel scharrten, da Cunninghams Blick Jack suchte, der, wie dies seinem Rang zukam, weit hinten auf der Plattform saß.
»Dr. Shane«, erklärte Cunningham, »hat Verwachsungen festgestellt. Sind auch Sie dieser Ansicht, Dr. Beaven?«
»Ja, Sir«, entgegnete Jack. »Zwischen dem Rückenmark und der Arachnoidea.«
»Und ein Tumor?«
»Nicht unbedingt. Ich muß zugeben, daß dies nur eine Vermutung ist, Sir. Die Krankengeschichte ist nicht erschöpfend.«
»Da haben wir's.« Cunningham klopfte mit den Fingerknöcheln gegen des Vortragspult. »Dr. Beaven hat recht. Die Anamnese ist ungenügend, aber nicht aus dem Grunde, den er annimmt. Er und Dr. Shane haben sofort die Schwierigkeit entdeckt. Die vorgeschlagene Operation ist begründet. Die Verwachsungen werden gelöst, und es besteht kein Grund zur Annahme, daß der Patient, falls ihm wirklich das gefehlt hat, nicht gesund wird. Aber, wie Dr. Beaven sagte, die Anamnese ist nicht erschöpfend. Sie müßte des weitern ausführen: Vor drei Jahren verlor der Patient seine Stelle als zweiter Bankkassierer, weil der Sohn des Bankpräsidenten, der eben von der Universität kam, eine Beschäftigung haben wollte. Statt ehrlich mit der Wahrheit herauszurücken, wurde angedeutet, daß der Mann wegen Unfähigkeit entlassen wurde. Da es ihm schwerfiel, neue Geschäftsverbindungen anzuknüpfen, wurde seine Braut nervös, und nach einem heftigen Streit, denn nun war unser Freund bereits von krankhafter Reizbarkeit und Empfindlichkeit, gingen die beiden auseinander und kamen nie mehr zusammen. Der Patient war jetzt schon davon überzeugt, daß es auf der Welt herzlich wenig Gerechtigkeit gebe. Jetzt war er nicht nur unempfindlich bis zum dritten Brustwirbelsegment, sondern er reagierte auch nicht mehr auf die gutgemeinten Anerbieten seiner Freunde, die ihm gerne geholfen haben würden, wenn sie nur gewußt hätten, wie es anfangen. Also, ich behaupte, die Behandlung dieses Mannes ist nicht beendet, wenn seine Verwachsungen behoben sind. Was aber werden Sie mit dem übrigen Teil der Diagnose anfangen? Ihr Patient ist wohl körperlich ein Rekonvaleszent, im übrigen aber psychisch schwerkrank – was gedenken Sie für ihn zu tun? Sie haben die Verwachsungen in Ordnung gebracht weshalb die Arbeit nicht beenden?«
Diese Idee schien den Studenten zu gefallen, oder sie standen zumindest auf Seiten des Redners, denn sie klatschten wild Beifall. Was Tubby geahnt hatte, ging hier in Erfüllung. Diese jungen Menschen waren begeistert. Kaum ein halbes Dutzend von ihnen wäre imstande gewesen, die körperliche Diagnose auch nur zu erraten, doch wollten sie unbedingt wissen, wie der Patient beraten, geistig erneuert und in einen Menschen verwandelt werden könne, dem der Rotary Club eines Tages eine Medaille verleihen würde. Sie wollten wissen, wie man ihm zu einer neuen Anstellung und einem neuen Mädchen verhelfen könne; wie man es anstellen müsse, damit er bis ans Ende seines Lebens glücklich sei. Jack runzelte ungeduldig die Stirn. Er mochte Bill Cunningham gern, aber ein solches Geschwätz taugte nichts!
Nach der Ansprache nahm die Medizinische Fakultät im Klub den Lunch ein. Jack entsann sich keines ähnlichen Anlasses, bei dem der Ehrengast so herzlich aufgenommen worden wäre. Es war aber auch tatsächlich unmöglich, Cunninghams magnetischer Persönlichkeit zu widerstehen. Er war ein famoser Mensch. Freilich sentimental bis auf die Knochen – aber ein guter Arzt. Man konnte nicht umhin, ihn zu achten.
Anfang November fand Jack, es wäre ratsam, sich wegen seiner Erntedankfestpläne zu erkundigen. Er schrieb an Bill und Edith, erinnerte sie an ihre Einladung und nahm diese, falls sie noch Gültigkeit besäße, an. Er schrieb auch, er hoffe während seines kurzen Besuches Audrey so oft wie möglich zu sehen.
Als er den Brief vor dem Absenden durchlas, fand er, es wäre gut, sich und Audrey durch ein paar Worte vor dem naiven Wohlwollen der Cunninghams zu schützen.
»Selbstverständlich«, schrieb er in einem unterstrichenen Postskriptum, »brauchen Sie uns keineswegs allein zu lassen. Sie kennen ja unser Verhältnis. Wir sind gute Freunde, nichts weiter.«
Tags darauf erhielt er von Bill ein Telegramm:
Edith und ich sehr erfreut über Ihren Besuch zum Erntedankfest. PS. Aber natürlich