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Nach dem Dinner schlenderte Tubby in sein Abteil zurück, zündete eine Zigarre an und widmete sich ganz dem Konzept seiner Ansprache, die er an die Medizinische Fakultät richten wollte. Selbstverständlich erwartete diese einen Bericht über seine Erlebnisse auf dem Neurologischen Kongreß in Wien, und er würde ihn gerne geben, denn auf dem Kongreß waren medizinische Probleme von größtem Interesse zur Sprache gekommen.
Zweifellos hatte auch Cunninghams Ansprache auf dem Kongreß viel Staub aufgewirbelt. Tubby fühlte, daß er vorsichtig sein müsse. Sosehr er auch Cunninghams Einfluß und dessen unvermeidliche Wirkung auf die eigene Arbeit übelnahm, so wäre es trotzdem ein arger Mißgriff, wollte er seine Gefühle verraten. Legte er bei der Erwähnung von Cunninghams Theorien Gereiztheit an den Tag, so konnte dies leicht den Eindruck erwecken, daß er sich in der Feuerlinie befinde und zur Verteidigung übergehen müsse.
Dies aber traf keineswegs zu. Cunninghams Einbruch in Tubbys Bereich werde sich als rasch vergehendes Wunder erweisen, an das nach kurzer Zeit niemand mehr einen Gedanken verschwendete. Ein Sturm im Wasserglas. Es wäre auch falsch, den Eindruck zu erwecken, als ob er und Bill auf gespanntem Fuß ständen. Einst hatten sie einander viel bedeutet, und ein bloßer Unterschied der Ansichten vermochte nicht die alten Bande zu zerreißen.
Wollte einer der Kollegen seine Gefühle gegenüber Bill und dessen Vorgehen erforschen, so mußte Tubby darauf bedacht sein, kein Zeichen der Mißachtung oder der Ungeduld zu zeigen, kein Wort der Ablehnung zu äußern. Diese versöhnliche Stimmung erforderte eine Generalprobe. Er wird sagen, daß Bill Cunningham ein famoser Mensch und treuer Freund sei. Und das traf auch zu. Er wird sich nicht in vielen Worten ergehen, wird aber durchblicken lassen, daß ihre Jugendfreundschaft für sie beide eine liebe Erinnerung sei.
Nachdem er dies beschlossen hatte, dachte Tubby längere Zeit über das herzliche Verhältnis nach, das während ihres klinischen Jahres zwischen ihm und Bill bestanden hatte. Mochte er im Augenblick auch noch so ärgerlich über die unerfreuliche Situation an der Medizinischen Fakultät sein, so konnte er Bills beruhigenden Einfluß dennoch nicht vergessen. Er hatte ihn zu einer Zeit verspürt, da er einen heftigen Schock erlitten, durch den er völlig verwandelt worden war.
Heute, nach drei Dezennien, konnte Tubby ohne Bitterkeit an dieses Erlebnis denken. Die tiefe Wunde war lange offengeblieben, schließlich aber geheilt. Bisweilen, sehr selten, fühlte er im Nervengewebe an der Bruchstelle einen leisen Schmerz – wie etwa in einer Kniescheibe an einem nebligen Morgen. Meist jedoch war die verletzte Stelle völlig gefühllos. Manchmal freilich, wenn ein Fall wie der William Masons in die Klinik eingeliefert wurde und Tubby ein langes, schmerzvolles, durch falsche Diagnose und falsche Behandlung verursachtes Leiden sah, loderte die Erinnerung an die eigene Tragödie auf. An solchen Tagen war es für alle, die mit Tubby zu tun hatten, ratsam, vorsichtig vorzugehen, sich bescheiden zu zeigen und nur dann zu reden, wenn sie angesprochen wurden.
Aber selbst dann litt er nicht wegen Laurel, denn dazu waren in ihm Haß und Verachtung viel zu stark. Sie explodierten mit der Wucht einer verrosteten alten Bombe, die auf einem Schlachtfeld zufällig angerührt wird. Sooft er einem Beweis ärztlicher Unwissenheit und ärztlichen Leichtsinns begegnete, wurde er an Dr. Fetterbaum erinnert.
An Laurel dachte Tubby nur noch selten. Sie gehörte zu seiner Jugend, und er hatte seither eine Reife erlangt, für die die Jugend etwas Lästiges war, etwas, das ein vernünftiger Mensch so bald wie möglich abschüttelt. Käme Laurel heute als die gleiche zu ihm zurück, wie sie ihn verlassen hatte, er wüßte nichts mit ihr anzufangen. Sie war jung genug gewesen, um seine Tochter zu sein. Nun hatte er bereits seit Jahren nicht einmal ihr Bild mehr angesehen. Während seines Studiums und seiner ersten drei Jahre an der Klinik hatte das Bild auf seiner Kommode gestanden. Nach ihrem Tod hatte er es in die unterste Lade seines Schreibtisches gelegt; er konnte den Anblick nicht ertragen.
Es war ohnehin kein gutes Bild gewesen. Laurel war viel zu naiv, zu aufrichtig, um gut fotografiert werden zu können. Sie besaß nicht die Gabe, sich in Szene zu setzen. Ihr Hauptcharme waren ihre Impulsivität, ihre kindliche Kühnheit und ihre Unfähigkeit, sich konventionell zu benehmen. Wurde diese natürliche Anlage eines launenhaften Temperaments nicht berücksichtigt, so war es unmöglich, die wirkliche Laurel auf einem Bild festzuhalten. Die alte Fotografie zeigte sie in einem Kleid, das ihr jede Natürlichkeit nahm. Sie hätte auf dem Tennisplatz fotografiert werden müssen, erhitzt, verrauft, mit offenem Mund, strotzend vor Vitalität. Tubbys Bild zeigte Laurel in einer würdevollen Pose aus der letzten Ära der Gibson-Girls: eine Wespentaille, unzählige Volants, Riesenärmel, ein hoher Kragen, dessen Stäbchen ihre Ohrläppchen aufspießten, ein riesiger schiefaufgesetzter Hut, der schlecht zu dem unfrohen Lächeln paßte. Bestimmt hatte der Fotograf gesagt: »Etwas heiterer, bitte«, hatte die Kappe des Apparates abgenommen und sehr langsam bis zehn gezählt. Laurel aber hatte sich mit jeder Sekunde unglücklicher gefühlt.
Tubby wandte sich um und starrte in die Nacht hinaus. Der Komet, der ihn mit sich trug, durchraste brüllend einen dünnen, erhellten Nebel. Das war Springville. Zum letztenmal war er hier ausgestiegen, als sein Vater im Sterben lag. Nachher hatte es für ihn keinen Grund gegeben, nach Springville zu gehen. War er in den letzten Jahren an der Stadt vorbeigefahren, hatte er nicht einmal aus dem Fenster geschaut; und er hätte es auch heute nicht getan, würde nicht der Gedanke an Bill Cunningham alte Erinnerungen zum Leben erweckt haben. Als Laurel sechzehn Jahre zählte, war die Familie von Pittsburgh nach Springville gekommen. Der Vater war Ingenieur in der Steingutfabrik, wo die halbe männliche Bevölkerung der Stadt und auch ein großer Teil der weiblichen arbeitete. Tubby besuchte damals die letzte Klasse der Bürgerschule und hatte sich bereits endgültig für die Medizin entschieden. Tatsächlich war er seit seinem zwölften Jahr in diese Richtung gelenkt worden. Das war Dr. Fetterbaums Werk. Die Mutter siechte seit vielen Jahren an einer perniziösen Anämie dahin. Heute wäre sie mit der richtigen Diät und mit Leberpräparaten rasch wiederhergestellt. Eigentlich war es Fetterbaum nicht zu verargen, daß er den Fall nicht richtig zu behandeln gewußt hatte. Damals kannte sich bei Anämie niemand recht aus. Der Arzt kam zwei- bis dreimal die Woche und gehörte, ehe die Mutter starb, gewissermaßen zur Familie. Er sagte immer wieder: »Milt, du mußt Arzt werden!« – Die Mutter pflegte schwach zu lächeln und müde zu erwidern: »Ja, Milton spricht bisweilen davon.«
Es gab in Springville auch noch zwei andere Ärzte, die jedoch fachlich keinen besonderen Ruf genossen. Fetterbaum war Tag und Nacht beschäftigt. Nein, faul war er nicht, das mußte man ihm lassen. (Aber auch der Satan ist nicht faul.) Alle hatten ihn gern, winkten ihm auf der Straße zu: »Hallo, Doc!« Er nannte fast alle Männer der Stadt und auch einige der Frauen bei ihren Vornamen. Während einer Zeitspanne von fünfzehn Jahren hatte er ein Drittel der Mütter entbunden und erinnerte sich genau, wer Scharlach, Mumps oder Masern gehabt hatte. Er kannte sogar die Namen der Hunde und Katzen. Er besaß eines der ersten Autos, die durch die Straßen der Stadt fuhren, einen Winton, der furchtbar knarrte und den Schlag hinten hatte. Er war vielseitig, allwissend und allgegenwärtig. In der Presbyterianischen Kirche sang er im Männerquartett die Baßpartien. Es war ein gutes Quartett. Er war auch Dechant oder so etwas Ähnliches. Brauchte man einen neuen Pastor (sie wechselten rasch), so machte der Arzt sich auf die Suche nach Kandidaten. Er war Freimaurer, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Liga für Städtische Verbesserungen, Direktor der Ersten National-Bank und Präsident der Bibliotheks-Vereinigung.
Seine Praxis umfaßte alles, was einem Menschen fehlen konnte. Er stellte seine Diagnosen mit unglaublicher Geschwindigkeit und berief niemals einen Spezialisten zum Konsilium. Bevor das Spital gebaut worden war, wurden alle chirurgischen Fälle – leichtere Knochenbrüche und normale Entbindungen ausgenommen – nach Buffalo geschickt, so daß die Fehldiagnosen des Arztes sich hauptsächlich auf das Gebiet der internen Medizin beschränkten. Dann wurde das Spital errichtet – ebenfalls Fetterbaums Idee. Das Spital war recht gut, alle erklärten, es gereiche der Stadt zur Ehre, und es würde dies auch wirklich getan haben, hätte Dr. Fetterbaum nicht eine so große Vorliebe für chirurgische Fälle gehabt. Es gab nichts, woran er sich nicht wagte. Er operierte sogar eine Zirbeldrüse zu einer Zeit, als in ganz Amerika nur vier Männer diese Operation wagen konnten – und Fetterbaum war nicht einer dieser vier. Nichts interessierte ihn mehr, als einen Mitbürger auf den Operationstisch zu legen und ihn chirurgisch zu behandeln. Würde die Justiz ihre Pflicht getan haben, seine Verurteilungen wegen fahrlässiger Schädigung und Tötung hätten ihn bis zum Tag des Jüngsten Gerichts im Gefängnis festgehalten.
Aber Dr. Fetterbaum war dermaßen beliebt, daß niemand es wagen konnte, seine berufliche Tätigkeit mit einem Wort der Kritik anzutasten. Die andern Ärzte konnten gegen ihn nicht Stellung nehmen, weil dies nur den Verdacht des Berufsneides erweckt hätte. Alle sagten, Fetterbaum sei viel zu gut für die Stadt und könnte in einer größeren dreimal soviel verdienen, was wahrscheinlich stimmte.
Seit zweiunddreißig Jahren hatte Tubby nicht so ruhig und gelassen an Dr. Fetterbaum gedacht. Sonst genügte die Erwähnung des Namens, um ihm einen elektrischen Schlag zu versetzen und zu bewirken, daß es ihm rot vor den Augen wurde. Heute nacht aber erinnerte er sich aus einem unerklärlichen Grund an ihn, so wie er ihn als Junge gesehen hatte. Damals hatte er ihn beinahe angebetet; er wäre vom Wasserturm der Stadt in die Tiefe gesprungen, hätte der Arzt es ihm befohlen. Tubby durchlebte nochmals die Gefühle, von denen er ergriffen worden war, als der Arzt ihn, den angehenden Studenten der Medizin, zur Bahn begleitet hatte. »Vergiß nicht, Milt«, hatte Fetterbaum bedeutsam gesagt, »daß ich mich auf dich verlasse. Ich werde jeden Tag an dich denken. Du wirst ein ausgezeichneter Arzt werden.« Und Tubby hörte die eigene, nicht ganz feste Stimme erwidern: »Wenn ich ein nur halb so guter werde wie Sie, Doktor!« (Ein halb so guter Arzt wie Fetterbaum, der verdammte Quacksalber!) Es war ein dramatischer Augenblick gewesen, Tubby hatte auf der hinteren Plattform des Zuges gestanden und gesehen, wie der Bahnhof langsam seinen Augen entschwand. Voll Stolz hatte er noch Laurel neben dem Arzt, der sie mit Beschützermiene betrachtete und zum Auto führte, erblickt. Nun wird er, hatte der junge Forrester gedacht, sie heimfahren und ihr unterwegs von der glänzenden Zukunft ihres gemeinsamen Freundes Milt erzählen. Damals hatte Laurel nicht gewußt, daß Doktor Fetterbaum sie eines Tages durch seine abgrundtiefe Unwissenheit ermorden werde.
Tubby ließ seine Erinnerungen zurückwandern bis zu jenem Tag, da er Laurel zum erstenmal gesehen hatte. Eine Anzahl junger Mädchen saß auf dem Rasen und sah den Tennisspielern zu. Mit achtzehn war Tubby flink auf den Beinen. Nach dem Match schob er sein Rad über den Rasen der Bürgerschule und holte die jungen Schülerinnen ein, die langsam der Straße zustrebten. Er rief auf unpersönliche Art: »Hallo!«, und sie erwiderten: »Hallo!« Alle aßen Erdnüsse. Eines der Mädchen, ein braunhaariges, sommersprossiges, blauäugiges, das hier fremd war und dessen Unreife bereits versprach, sich zu einer Schönheit auszuwachsen, bot ihm die Tüte mit Erdnüssen an. »Erdnüsse?« fragte er freundlich. Er fühlte instinktiv, daß diese Schülerin ihm keine Avancen machen, sich vielmehr mit ihm nur anfreunden wollte, das war alles. Er nahm eine Erdnuß und ging an der Seite des Mädchens weiter.
»Wie heißen Sie, Kid?« fragte er. In jenen Tagen galt es nicht für vulgär oder grob, wenn eins das andere Kid nannte. Selbst Ehegatten taten dies häufig.
»Laurel Hughes. Wir sind eben erst hergezogen.«
»Hoffentlich gefallen wir Ihnen. Ich heiße Forrester.«
»Ich weiß, man hat es mir schon gesagt. Ich wünschte, ich könnte einen Ball so servieren wie Sie.«
»Spielen Sie Tennis?«
»Ich hatte bisher nur wenig Gelegenheit. Wollen Sie noch eine Erdnuß?«
Laurel hielt sein Fahrrad, während er in die Tüte griff.
»Möchten Sie nicht einmal zeitig am Morgen herkommen und mit mir üben?«
»Das wäre herrlich, Mr. Forrester.« Ihre großen Augen glänzten. »Aber ich fürchte, es könnte Sie langweilen.«
»Morgen gegen acht?«
»Morgen ist Sonntag.«
Er meinte, sie könnten auch einen anderen Tag wählen. »Natürlich«, sagte er, »könnten wir morgen auch um sechs Uhr früh spielen, ehe die Leute wach sind. Falls Sie nicht daheim ausgezankt werden.«
»Den Meinen macht das nichts aus, Mr. Forrester. Ich komme, wenn Sie es wollen.«
»Ich heiße Milt. Ihre Eltern scheinen nicht gerade religiös zu sein.«
»Das ist es nicht. Sie machen nicht viel Aufhebens davon. Soll ich Sie wirklich Milt nennen? Ich besuche doch erst eine niedrige Klasse.«
Tubby entsann sich, daß er wohlwollend erwidert hatte: »Das tut nichts, Laurel. – Ich habe noch nie eine Laurel gekannt. Ein hübscher Name, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich. Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich werde dem Vater erzählen, was Sie gesagt haben. Auch er findet den Namen hübsch.«
»Ist Ihr Vater nett?«
»Freilich. Er ist famos.«
»Und die Mutter?«
»Das will ich meinen. Sie ist wundervoll. Der Altersunterschied zwischen meiner kleinen Schwester und mir ist größer als zwischen der Mutter und mir.«
Tubby versuchte vergeblich, dieses Rätsel zu lösen; Laurel lachte über sein betroffenes Gesicht und kam ihm zu Hilfe: »Gretchen ist meine Stiefmutter, und das kleine Gretchen ist meine Schwester. Sie ist drei. Haben Sie Geschwister?«
»Eine ältere Schwester, die den Haushalt führt. Meine Mutter ist tot.«
»Der Vater?«
»Lebt.«
»Oh! Wollen Sie noch Erdnüsse?«
So war Laurel als unreifes Mädchen gewesen. Man hatte sich nicht anstrengen müssen, um ihr etwas zu erklären.
»Vater ist ganz anständig«, sagte Tubby, bestrebt, loyal zu sein. »Ein wenig mürrisch, aber nicht immer. Ich glaube, er hat es als Bub schwer gehabt. Er versteht nicht zu spielen.«
An der Ecke warteten die andern Mädchen. Laurel sagte: »Ich muß sie einholen. Ich sehe Sie also morgen früh. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Laurel. Sagen Sie den andern nichts.«
»Aber meinen Leuten darf ich es sagen?«
»Freilich. Bringen Sie sie mit.«
»Ja, fein! Der Vater macht am Sonntagmorgen mit mir gern einen Spaziergang. Danke, Milt.«
»Wiedersehen, Kid.«
»Wiedersehen.«
Laurel war viel zu harmlos, um sich zu zieren. Sie verriet ihre Gefühle vom ersten Augenblick an. Nach wenigen Wochen wußten alle, daß sie Milts Schatz sei. Die andern Schülerinnen und Schüler lachten darüber, doch hatte es keinen Sinn, die beiden damit zu necken; sie waren in ihrer gegenseitigen Zuneigung so aufrichtig.
Tubby dachte an diese Zeiten zurück und fragte sich, ob er der Familie Hughes nicht auf die Nerven gefallen sei. Sein eigenes Heim war recht öde, der Vater ein wortkarger, unliebenswürdiger, aber großmütiger Mensch, der seine Abende mit Berechnungen verbrachte, nachdem er sich den ganzen langen Tag am Rande der Stadt in seinen Glashäusern aufgehalten hatte, wo er teure Tulpen züchtete. Tubbys Schwester Wilhelmina, Minnie genannt, war mit ihren vierundzwanzig Jahren ein apathisches Lasttier. Bisweilen erklärte sie, sie wünschte nie geboren worden zu sein – ein verspäteter Wunsch, den ihr niemand auszureden vermochte. Minnie war sauber und ordentlich wie eine Stecknadel und ungefähr ebenso unterhaltend. Die Forresters brauchten nicht zu sparen, und Minnie hätte haben können, wonach sie verlangte. Aber sie verlangte nach nichts.
So kam es, daß der junge Milt Forrester seine freie Zeit häufig bei Hughes verbrachte. War das Fleisch nicht rechtzeitig bestellt worden – Gretchen hätte nie einen Preis für Haushalten gewonnen! –, so fuhr Milt auf seinem Rad in die Stadt und holte es; hatte Gretchen vergessen, für ihn ein Extrakotelett zu bestellen, so machte er selber den Fehler gut. Fiel er den Hughes zur Last, so sprachen sie dies nicht aus, zumindest nicht laut genug, um es ihm klarzumachen. Er erledigte für sie zahllose Botengänge, reparierte Wasserhähne, half Laurel beim Latein, meldete der Telefongesellschaft, daß der Apparat nicht funktioniere, ertränkte neugeborene Katzen, entkernte Kirschen, verbrannte Unkraut, schaufelte Schnee und spaltete Brennholz. Er war allgemein als Familienmitglied anerkannt, so sehr, daß Mr. Hughes, ohne von der Abendzeitung aufzublicken, ihn in den Keller schickte, um die Heizung zu schüren, und das kleine Gretchen verlangte, daß er ihm das Kleid zuknöpfe.
Von den üblichen Weihnachtskarten aus Kansas City abgesehen, hatte Tubby seit einem halben Dutzend von Jahren von dem kleinen Gretchen nichts mehr gehört. Vor zwei Monaten hatte sie ihm plötzlich einen langen Brief über das eventuelle Studium des jungen Jim geschrieben.
Vor langer Zeit jedoch waren da vier Jahre gewesen, da seine Korrespondenz mit dem kleinen Gretchen viel Zeit und Gedanken in Anspruch genommen hatte. Als die Elmwood-Steingutfabrik in Konkurs gegangen war und Gretchens Vater seine Stellung verloren hatte, schickte Tubby das Mädchen nach Wellesley auf die Universität; dort heiratete sie einen nicht sonderlich begabten Mann und verschwand aus Forresters Leben. Während der Universitätsjahre hatte Gretchen alle ihre Probleme Tubby anvertraut, seinen Rat in bezug auf ihre Studien und ihre kurzen, aber häufigen Liebesaffären erbeten, um seine Hilfe bei ihren Streitigkeiten mit der Dekanin ersucht. Sie meldete treulich, wieviel sie jeden Monat ausgab, und schrieb bis zum letzten Groschen auf, wofür. Sogar bei den Kleidern bat sie ihn um Rat. Nach ihrer Verheiratung jedoch – Tubby ahnte, daß die Ehe bis auf das rasche Anwachsen der Familie kein besonderer Erfolg war – kamen ihre Briefe immer seltener, und sie waren immer schwerer zu beantworten. Als das jüngste von Gretchens viel zu vielen Kindern starb, schrieb sie ihm ausführlich, und er antwortete, daß es ihm sehr leid tue. Insgeheim jedoch hatte er das Gefühl, es sei für das Baby wahrscheinlich besser gewesen zu sterben, ehe es hatte fühlen können, daß die Familie bereits vor seinem Kommen zu zahlreich gewesen wäre. Später tat es ihm leid, daß er nicht herzlicher geschrieben hatte; doch war er gerade damals sehr beschäftigt gewesen, und er hatte die Antwort seiner Sekretärin diktieren müssen.
Tubby zog sein Notizbuch hervor und notierte, daß er diese Weihnachten bestimmt an Gretchen schreiben müsse. Verdammt! Das kommt davon, wenn man Menschen aus der Patsche hilft! Man wird sie nie mehr los! Und obendrein sind sie noch gekränkt, wenn man ihre Briefe nicht beantwortet, nicht auf ihre guten und bösen Tage, auf ihre Hoffnungen und Sorgen eingeht. Oder, was noch weit ärger ist, nicht ihre endlosen Ausdrücke der Dankbarkeit, die einen als sentimentalen Weihnachtsmann hinstellen, mit Grazie entgegennimmt. Wollten sie sich doch damit zufriedengeben, die ihnen gewährte Hilfe anzunehmen, sich auf würdevolle Art bedanken und versprechen, ihr möglichstes zu tun und einen nachher in Ruhe lassen! Begriffen sie denn nicht, daß man etwas anderes zu tun hatte, als in alle Ewigkeit ihre dankbaren Lobpreisungen anzuhören? Sobald man für die Leute etwas tat – meistens aus dem hartherzigen Beweggrund, sie und ihre Sorgen abzuschütteln –, mußte man damit rechnen, von ihnen mit lästiger Liebe und Anhänglichkeit überschüttet zu werden. Sandte man nicht das gleiche sentimentale Gewäsch kübelweise zurück, so schrieben sie wehmütige Briefe und fragten, womit sie einen beleidigt hätten. –
Tubby biß das Ende einer frischen Zigarre ab und schnitt ein wütendes Gesicht. Da war zum Beispiel Gretchens Sohn, dessen Brief er ebenfalls gleich hätte beantworten sollen. Vor zwei Monaten hatte der junge Jim ihm zwölf Seiten geschrieben, nichts als Begeisterung über die Universität Columbia. In der Anrede hatte er ihn »Lieber Onkel Milt« genannt! Hol's der Teufel! Er konnte doch nicht seine ganze Zeit mit Briefschreiben vergeuden! Und dabei wußte er nie, was er schreiben sollte. Jims Brief hatte in ihm das Gefühl erweckt, daß er ein Heuchler sei. Er bezahlte dessen Studium in der Hoffnung, daß Jim, besäße er eine ordentliche Bildung, später andern weniger zur Last fallen werde. Daraufhin kam dieser rührselige Brief! Tubby suchte in der Tasche nach ihm; er hatte ihn, der Adresse wegen, mitgenommen. Vielleicht wird er, wenn er schon einmal in der Stadt ist, Jim gelegentlich anrufen. Sonst konnte es geschehen, daß der junge Mann in der Zeitung über das Bankett der Medizinischen Vereinigung las und sich gekränkt fühlte, weil er vom »lieben Onkel Milt« nichts gehört hatte. Tubby entfaltete stirnrunzelnd den Brief und las:
»Lieber Onkel Milt,
Du wirst ja wissen, daß das, was Du für mich tust, gleichbedeutend mit meiner Lebensrettung ist. Ich hätte keine Angst davor gehabt, ein Handwerk auszuüben oder hinter dem Ladentisch zu stehen, würde mich dessen auch nicht geschämt haben, doch glaube ich nicht, daß ich dabei je glücklich geworden wäre. Du weißt, wie ich auf den Ingenieurberuf erpicht bin. Aber ohne ein richtiges Studium kann man dabei nicht weiterkommen. Ich bin Dir dafür so dankbar, Onkel Milt, als wärest Du in einem Boot aufs Wasser hinausgerudert und hättest mich vor dem Ertrinken gerettet. Ich habe in der letzten Zeit nie gebetet, jetzt aber tue ich es jeden Tag. Ich weiß nicht recht, ob ich zu Dir oder für Dich bete, jedenfalls spreche ich ein Gebet, Sir, und ich glaube, daß dies für mich gut ist, gleichviel, ob es auch Dir guttut oder nicht.«
Tubby faltete kopfschüttelnd den Brief zusammen. Hol's der Teufel! Ein solcher Brief verlangt, daß man etwas tue. Aber was? Er kann doch nicht Jim anrufen und sagen: »Hier Dr. Forrester.« – Das würde dem Buben weh tun. Und er wird es doch nicht über sich bringen zu sagen: »Hier Onkel Milt.« Verdammt, er will nicht ein weichherziger, dummer Onkel Milt sein! –
In Buffalo war der Zug rangiert worden und beschleunigte jetzt sein Tempo. Tubby gähnte, streckte sich, ging in sein Schlafabteil, legte die Notizen für die Ansprache aufs Bett und schickte sich an, eine Stunde lang an ihr zu arbeiten. Es lag ihm viel daran, eine gute Ansprache zu halten. Er legte sich hin, stopfte die Kissen unter den Kopf und machte sich an die Arbeit.
Die erste Notiz, auf die er stieß, ließ ihn grinsen. – »Dachkammerschätze.« – Dies erinnerte ihn daran, daß er unlängst mit dem Chef der Feuerwehr gesprochen und diesen gefragt hatte, was der häufigste Grund für Feuersbrünste sei. Der Mann hatte geantwortet: »Die Sachen auf dem Dachboden, die zu gut sind, um fortgeworfen zu werden, mit denen aber trotzdem nichts anzufangen ist.«
Das wird ein guter Ausgangspunkt sein. Viele Ärzte hatten den Kopf voll alter Ideen, die sie viel Zeit, Geld und geistige Anstrengungen kosteten. Aber mochten sie einst noch so teuer erworben worden sein, sie bedeuteten dennoch eine Gefahr. Hier konnte man humoristisch werden. Könnte die feuergefährlichen Gegenstände auf dem alten Dachboden schildern. Je ehrenvoller und älter eine Familie war, desto gefährlichere Gegenstände hatten sich angesammelt: Urgroßvaters wackeliger alter Schaukelstuhl, Großmutters Tagebücher, Onkel Pauls Schaukelpferd – lauter nutzlose und harmlose Dinge, bis ein Funke auf sie übersprang. Tubby beschloß, den Vergleich nicht zu ausführlich zu gestalten. Es bedurfte keiner Predigt, um den Sinn zu illustrieren. Tatsache war, daß eine riesige Anhäufung einst wertvoller, heute aber völlig veralteter Ideen in den Köpfen gutsituierter, höchst ehrbarer Ärzte aufgestapelt war und daß man diese gerade bei Menschen fand, die nie eine alte Idee aufgegeben und nie eine neue aufgenommen hatten.
Wäre die Erinnerung nicht gar so schmerzlich, Tubby würde hier die Geschichte von Dr. Fetterbaum berichten. Doch er war außerstande, über Dr. Fetterbaum zu sprechen, ohne unziemlich wütend zu werden. Dennoch war dies ein Fall, der sich auch heute in jeder Kleinstadt oder auch Großstadt wiederholen konnte: der Fall eines Menschen, der durch sein philanthropisches Wesen, durch seine Herzlichkeit und stete Teilnahme das Vertrauen von Hunderten errungen hat, tatsächlich aber durch seine schamlose Unwissenheit eine Gefährdung der Allgemeinheit darstellte.
Tubby saß lange mit dem Notizbuch in der Hand da, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Er rief sich die Erinnerung an jene verzweiflungsvollen Tage zurück, da er, durch die Nachricht von Laurels schwerer Erkrankung heimberufen, sofort geahnt und später festgestellt hatte, daß ihr Tod durch Fetterbaums falsche Behandlung verschuldet worden war. Als er in das kleine Spital kam, war sie bewußtlos. Fetterbaum, teilnahmsvoll turtelnd, gab seine Hilflosigkeit zu. Damals hätte der beste Arzt der Welt nichts mehr tun können.
Der Anamnese nach wäre eine Woche zuvor eine einfache Blinddarmoperation so unzweideutig geboten erschienen, daß jeder kompetente Diagnostiker dies auf den ersten Blick erkannt hätte. Fetterbaum aber hatte sich auf Packungen und Beruhigungsmittel beschränkt. Als dann die Gefahrsignale nicht mehr zu übersehen waren, als jeder wußte, daß hier nur ein ausgezeichneter Chirurg eingreifen durfte, hatte Fetterbaum selbst operiert und eine Bauchfellentzündung zum Ausbruch gebracht, die um sich griff wie ein Präriefeuer.
Selbstverständlich hätte Fetterbaum in der tragischen Stunde, da Laurel starb, nichts tun oder sagen können, um Tubbys Schmerz zu lindern, doch stellte er sich auf den Standpunkt, es sei dies »einer jener Fälle«, die unglückseligerweise immer wieder vorkommen und an denen niemand die Schuld trage. Es habe sich um etwas gehandelt, das niemand voraussehen konnte. Dann hatte er noch die Geschmacklosigkeit, die Hand auf Tubbys Schulter zu legen und zu sagen: »Dies ist unser Los, Milt. Wir können auf einen derartigen Kummer nicht vorbereitet sein, er trifft uns alle mit der Zeit.«
Während Tubby diesen brennenden Augenblick von neuem erlebte, ballte er die Hand zur Faust. Damals hatte er aus Furcht, zuviel zu sagen, kein Wort gesprochen. Aber Fetterbaum als geistlicher Berater in der Stunde der Verzweiflung war unerträglich.
»Ich brauche Ihre Teilnahme nicht!« hatte Tubby geschrien. »Wir können auf einen derartigen Kummer nicht vorbereitet sein – dieses Geschwätz überlassen Sie einem andern! Fragen Sie lieber, weshalb Sie selbst für die Chirurgie nicht vorbereitet waren!«
Erschüttert durch diesen plötzlichen Ausbruch, war der Arzt erblaßt und hatte geschwiegen. Es mochte wohl das erste Mal gewesen sein, daß jemand gegen ihn Stellung nahm. Mr. Hughes hatte Tubby beim Arm gepackt. »Nicht, nicht, Milt«, hatte er geflüstert, »das nützt nichts.« Und Gretchen, die ihm Hut und Mantel entgegenhielt und ihn bat, mit ihnen zu kommen, machte ein Gesicht, als habe er ein Verbrechen begangen.
»Nein«, hatte Tubby hinzugefügt, ohne auf den stummen Vorwurf der Hughes zu achten. »Es nützt nichts. Das weiß ich. Er wird morgen wieder das gleiche tun. Weil er es nicht besser versteht – weil es ihm einerlei ist, diesem Quacksalber!«
Der Arzt hatte noch immer nichts gesagt. Er stand da, weiß wie das Leintuch, mit dem Laurels fleckiges Gesicht verhüllt war, und tat, als müsse er gegenüber dem wahnsinnigen Gerede eines in seinem Leid undisziplinierten jungen Mannes Geduld üben. Am Abend kam Fetterbaum zu den Forresters, aber Tubby hatte ihn nicht sehen wollen. Sein Vater war leise in das Schlafzimmer geschlichen, in dem Tubby allein saß, und hatte gesagt: »Der Doktor möchte mit dir reden, Sohn.« Und Tubby hatte erwidert: »Er kann mir nichts sagen, was ich hören will.« – »Er war immer gut zu dir, Milt. Ich fürchte, es wird dir eines Tages leid tun.« Aber Tubby hatte einen stumpfen Eigensinn an den Tag gelegt. Er war fertig mit Fetterbaum.
Ein paar Tage später mußte er das Begräbnis ertragen. Es war nicht nur eine schwere Prüfung, sondern veränderte auch seine Ansichten über viele Dinge, die er bis dahin als selbstverständlich hingenommen hatte.
Tubby hatte nie viel über Religion nachgedacht. Die Konfessionen bedeuteten für ihn Institutionen, die zweifellos einem guten Zweck dienten. In seinem unreifen Geiste stellte er sie neben die Schule, die öffentliche Bibliothek, die Wasserwerke und das Gerichtsgebäude. Als Bub besuchte er die Sonntagsschule. In den untern Klassen herrschte keine Disziplin, und Tubby schämte sich, zusammen mit den andern allwöchentlich die sanfte Miss Runkel zu quälen. Da diese aber auch nie etwas sagte, was ihn interessierte, ging er nicht länger in die Sonntagsschule. Außerdem hatte sein Vater, als er erfuhr, daß in den Klassen nicht einmal die elementarsten guten Manieren herrschten, ihm den weiteren Besuch verboten.
Als er halbwüchsig war, begleitete er bisweilen Minnie zu den geselligen Veranstaltungen in der Kirche, doch nur, weil sie einen schweren Korb mit Eßwaren mitnahm und er ihr beim Tragen half. Den Gottesdienst besuchte er nie; seiner Ansicht nach paßte das nur für ältere Leute. Und was die Begräbnisse anbelangte, so konnte er sich nicht erinnern, je bei einem solchen Anlaß gesprochene Worte gehört zu haben.
Bei Laurels Begräbnis aber hörte er zu und war empört über die offensichtliche Unfähigkeit der Kirche, ein Leid wie das seine zu lindern. Der Ehrwürdige Blossom war bestimmt ein braver Mann, der viel Gutes tat. Kam auf ihn die Rede, so sagten das alle. Er lebte nun schon lange genug in Springville, um das allgemeine Vertrauen gewonnen zu haben, und sein Name zierte alle Wohltätigkeitskomitees. Die ganze Wohltätigkeit der Stadt wurde von Dr. Fetterbaum und Mr. Blossom dirigiert.
Tubbys überreizter Geist hatte sich von seinem wilden Stadium erholt und war nunmehr bereit, jegliche Hilfe anzunehmen. Er hatte alle seine Barrieren niedergerissen. Was auch immer heute am Grabe gesagt wurde, nichts hätte seinen Widerspruch zu reizen vermocht. Er war unsäglich trostbedürftig.
In die feierliche Tracht seines Amtes gekleidet, begann Mr. Blossom aus einem kleinen schwarzen Buch seltsame, einander mehr oder weniger widersprechende Sätze zu lesen. Tubby blickte ihn mit traurigen Augen an und hörte ihm wehmütig zu. Er wußte, derartige Fälle gehörten in den Bereich der Kirche. Auch wußte er, daß die Kirchenfeste, die Picknicks, Basare, Amateurkonzerte, durch die Minnie mit den einzigen ihr zu Gebote stehenden Zerstreuungen versorgt wurde, nur das Angesicht der spielenden Kirche darstellten. Jetzt aber hatte er erwartet, daß die Kirche in Aktion trete, ihre wahre Aufgabe erfülle und eine geistige Führung übernehme. Weiß Gott, daß er dies letzte brauchte.
»Ich weiß, daß mein Erlöser lebt«, las der Pastor mit eindrucksvoller Stimme, »und Er wird mich nachher aus der Erde auferwecken. Und ich werde dereinst mit dieser meiner Haut umgeben werden und werde in meinem Fleisch Gott sehen.«
Tubby begriff nicht, was dies bedeute. Er saß mit tiefgebeugtem Kopf da und wartete auf etwas Verständlicheres.
»Wenn Du einen züchtigest um der Sünde willen, so wird seine Schöne verzehret wie von Motten. Ach, wie gar nichts sind doch alle Menschen!«
Das konnte sich nicht auf Laurel beziehen, die unschuldig gewesen war wie der Schnee. Freilich hatten die letzten Tage ihre Schönheit verzehrt, doch waren es nicht ihre Sünden gewesen, die sie verzehrt hatten. Laurel war kein schlechtes Mädchen gewesen, das konnte er bezeugen. Sie war ein gesundes, glückliches, gutmütiges Kind gewesen. Tubby erwartete nicht, daß die Kirche ihm mitteile, woran Laurel gestorben war. Das wußte er. Fetterbaum hatte sie getötet, unabsichtlich selbstverständlich, aber er trug für ihren Tod die Verantwortung. Fetterbaum war ein gutmütiger Mann, der viel Gutes tat; er versagte nur dann, wenn er sich in dem selbstgewählten Beruf betätigte. Und nun kam die Kirche mit der Behauptung, Gott habe Laurels Schönheit ihrer Sünden wegen verzehrt. Oder hatte der Prophet, oder wer immer das kleine schwarze Buch geschrieben hatte, etwas anderes sagen wollen? Vielleicht bedeutete es überhaupt nichts.
»Das machet Dein Zorn, daß wir so vergehen, und Dein Grimm, daß wir so plötzlich dahinmüssen.«
Tubby war überzeugt: Laurel hatte gar nicht gewußt, daß Gott ihr zürnte, und ihn auch nicht gefürchtet. Es hatte auf der ganzen Welt kein glücklicheres Mädchen gegeben. Als die feierliche Stimme weitersprach, traute Tubby seinen Ohren nicht. Die Kirche hatte ihn gerufen, um ihm Trost zu spenden, nun aber steigerte sie nur noch seine Verwirrung. – »Denn der Mensch ist nur Eitelkeit.« – Was bedeutete das? Daß jeder Mensch eitel sei oder daß der Mensch vergeblich lebe? Wahrscheinlich das letzte, denn der Pastor fuhr fort: »Er sammelt Reichtümer und weiß nicht, wer sie ernten wird.« – Wahrlich, das menschliche Mühen wurde gering eingeschätzt. Dies mochte sich vielleicht auf einen reichen Geizhals beziehen, aber was hatte es mit Laurel zu tun? – Weshalb, dachte Tubby, las der Mann nicht lieber etwas aus Bryants »Thanatopsis«? Freilich war dies heidnisch, aber schön und ehrlich. Man wußte dabei wenigstens, woran man war. Man war ein Kind der Natur, nicht aber das erschrockene Kind eines zürnenden Gottes. Man war der schlichte und demütige Bruder der Bäume und Blumen und Ströme. Die Natur zürnte einem nicht. Sie verfolgte ausschließlich ihr Programm auf lange Sicht: Geburt, Wachstum und Verwesung. Man war ein Mitglied der endlosen Karawane, die sich unterwegs nach den stillen Hallen des Todes befand. Weshalb sich nicht in das Unvermeidliche fügen und, wenn der Ruf ertönte, sich ruhig den schönen Träumen hingeben und reglos liegen? Falls – es nicht eine bessere Lösung gab, die der Kirche anscheinend unbekannt war. –
Tubby rüttelte sich aus seinen Gedanken auf und hörte, was der Pastor über das künftige Leben las.
»Die Toten werden schlafen, bis die Posaunen des Jüngsten Gerichts sie unversehrt aus den Gräbern erstehen lassen.« –
In seiner Verwirrung klammerte Tubby sich an das Wort »Posaunen«, das er bisher nur unter Umständen gehört hatte, die ihm eine anachronistische Färbung gaben. Während er noch darüber grübelte, war der Gottesdienst zu Ende.
Inzwischen waren die Leichenbestatter auf den Zehenspitzen umhergeschlichen und hatten Blumensträuße und Kränze hereingebracht. Die schienen zu wissen, was sie taten, Mr. Blossom dagegen wußte augenscheinlich nicht zu sagen, wohin Laurel ging. Und nun wurde Laurel, die so gerne, so freudig, so glückselig gelebt hatte, langsam durch das Kirchenschiff gefahren, während die Orgel unsäglich deprimierende Weisen ertönen ließ.
Auf dem Friedhof gab die Kirche die Lösung des Problems endgültig auf, und zwar mit einem so offenen, endgültigen Pessimismus, daß Tubby von einem Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit übermannt wurde.
»Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurz und ist voll Unruhe.«
Tubby, der aller religiösen Überzeugungen ermangelte, wußte, daß dies nicht zutraf. Wohl gab es im Leben viele Probleme, aber ganz so arg war es ja doch nicht. Wußte die Kirche keine Worte zu finden, um einen Menschen in seinem Schmerz zu trösten oder zu erheben, so wäre es weit ehrlicher, sie gäbe ihre Unwissenheit und Ohnmacht zu. Es lag doch wahrscheinlich kein Grund vor, alles noch ärger hinzustellen, als es ohnehin war. In Laurels Leben hatte es keine Unruhe gegeben. Sie war fröhlich und glücklich gewesen wie eine Lerche.
»Errette uns vor der bitteren Pein des ewigen Todes.«
Auch das hatte nichts mit Laurel zu tun. Tubby hatte sich nach der Einsegnung, von tiefer Niedergeschlagenheit bedrückt, abgewandt. Vielleicht wollte die Kirche bei derartigen Anlässen gerade diese Stimmung erzeugen. Sagte sie denn nicht, zumindest dem Sinn nach: »Die du liebst, ist tot. Aber was macht es schon aus? Das Leben ist kurz und voll Unruhe, und es ist für alle besser, tot zu sein?«
Damals fiel es Tubby schwer, von neuem normal zu denken. Bis zu diesem Tag waren die Kirchen für ihn das gleiche gewesen wie andere öffentliche Institutionen. Geriet ein Haus in Brand, so telefonierte man der Feuerwehr, und sie kam mit der Spritze. Vielleicht gelang es ihr nicht, das Feuer zu löschen, ehe es einen großen Schaden angerichtet hatte, vielleicht brannte das Haus bis zum Erdboden ab. Jedenfalls aber tat die Feuerwehr ihr möglichstes. Die Feuerwehrleute standen in ihren Uniformen nicht nur herum und erklärten betrübt: »Es war ja ohnehin kein besonders schönes Haus. Und schließlich stürzen mit der Zeit alle Häuser ein oder brennen ab.«
Das Mädchen, das man liebte, starb, und man ging in die Kirche, um zu erfahren, wie man sich dieser Tatsache gegenüber einzustellen habe. Die Kirche schien für solche Anlässe ausgerüstet. Aber anscheinend verlangte man zuviel von ihr. Mr. Blossom war ein guter Mensch, doch wurden in einem solchen Fall an ihn zu große Ansprüche gesteht. Tubby hatte das Gefühl, es sei notwendig, einige der öffentlichen Institutionen, zu denen die Menschen ein kindliches Vertrauen hatten, einer Revision zu unterziehen. Fetterbaum hatte als Hintergrund ein schönes kleines Spital, gelernte Pflegerinnen, ausgezeichnete Instrumente. – Was hatte er mit alldem gemacht? Blossom besaß ebenfalls einen großen Apparat und geeignete Instrumente, aber ach, es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken.
Schließlich bewahrte der gute Bill Cunningham Tubby vor der völligen Verzweiflung. Tubby hatte ihm telegrafiert, und Bill kam, sobald er sich in der Klinik frei machen konnte. Er traf zwei Stunden nach dem Begräbnis ein. Auf dem Bahnhof holte ihn ein tieftrauriger Tubby ab, und Bill sagte sofort nach dem ersten Händedruck: »Ich will für dich einen Platz im Pullmanwagen reservieren. Du kommst doch morgen mit mir zurück, nicht wahr?«
Tubby antwortete, er wolle ein bis zwei Wochen daheim bleiben, dann werde ihm wieder nach Arbeit zumute sein.
»Das geht nicht«, erklärte Cunningham. »Hier wirst du ja doch nichts anderes machen können, als dazusitzen und zu grübeln. Laurel hätte das nicht gern. Nimm an, daß sie es wüßte.«
»Glaubst du das wirklich?« fragte Tubby.
»Zumindest weiß ich nicht, ob das Gegenteil wahr ist. Ich glaube, wir sollen es auch gar nicht wissen. Vielleicht gehört dieses Nichtwissen dazu. Sollte aber Laurel wissen, was geschieht, so wäre sie froh, wenn du zu deiner Arbeit zurückkehrtest.«
Auf dem Heimweg suchten sie die Hughes auf. Statt der üblichen konventionellen Phrasen sagte Bill: »Sie müssen auf Laurel sehr stolz gewesen sein. Milt hat mir viel von ihr erzählt.« Mr. Hughes wurde ein wenig heiterer, und Gretchen holte eine Momentaufnahme hervor, die Laurel, auf dem Sprungbrett sitzend, im Badekostüm zeigte.
»Ein famoses Mädel«, meinte Bill. »Sie müssen an ihr viel Freude gehabt haben.«
Und dann sprachen alle von Laurel, von ihrer Lebenslust, ihren Streichen, ihrer Beliebtheit, beinahe, als sei sie gar nicht tot, sondern nur auf einer langen Reise. Sie blieben so lange bei den Hughes, daß Minnie rief und fragte, ob Mr. Cunningham gekommen sei. Sie mußten versprechen, am folgenden Tage zum Lunch zu kommen.
Die ganze Familie begleitete sie zum Auto. Das kleine Gretchen, damals ein fast zwölf Jahre altes elfenhaftes, verwöhntes Mädchen, hielt sich so dicht an Bill, daß er mit ihr Hand in Hand die Auffahrt entlangschritt.
»Wie lange bleiben Sie hier?« fragte sie wehmütig.
»Bis morgen abend. Ich muß zu meiner Arbeit zurück, Gretchen.«
»Es ist so schrecklich, daß Laurel nicht daheim ist, wenn Milt zu Besuch kommt.« Ihre Stimme zitterte, und ihre Augen wurden feucht. »Und sie wird nie, nie mehr zurückkommen.«
Bill aber besaß die Kühnheit, fröhlich zu sagen: »Nicht traurig sein, Gretchen! Vielleicht wirst du Laurel wiedersehen. Es ereignen sich seltsame Dinge.«
Gretchen schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem nassen, kleinen Taschentuch die Augen.
»Sie wird mir schrecklich fehlen. Sie war so gut zu mir, hat mich schwimmen und Tennis spielen und Schlittschuh laufen gelehrt, alles.«
»Siehst du«, sagte Bill, »es ist sehr viel von Laurel hiergeblieben. Sooft du schwimmst oder Tennis spielst oder Schlittschuh läufst, ist Laurel dabei. Verstehst du das?«
»Ich werde versuchen, es zu tun«, flüsterte Gretchen mit gebrochener Stimme.
Auch Tubby fühlte sich wohler. Eine große Last war ihm vom Herzen genommen.
»Ich bin froh, daß du gekommen bist, alter Freund«, sagte er. »Mein Gott, war das ein schwerer Tag! Und das Schrecklichste ist, daß es nicht hätte sein müssen – Fetterbaum hat sie ermordet!«
»Es ist nun einmal geschehen«, sagte Bill ruhig. »Und du kannst es mit deiner ganzen Bitterkeit nicht ungeschehen machen.«
Tubby dachte auch später noch oft an dieses von Bill ausgesprochne Wort »ungeschehen«. Trafen ihn im Laufe der Jahre Schicksalsschläge, so rief er es sich ins Gedächtnis zurück: »Du kannst es nicht ungeschehen machen.«
Dann sahen er und Bill einander ein paar Jahre lang nur selten. Zum Teil lag dies daran, daß Bill ein Heim hatte, Tubby aber für Besuche in Privathäusern ein zu schlechter Gesellschafter war. Er haßte es, über gleichgültige Dinge zu reden, und verachtete ein, wie er sagte, nutzloses Geschwätz. Außerdem verging kaum eine Viertelstunde, ohne daß zwischen ihm und Bill Meinungsverschiedenheiten entstanden.
Das letzte Mal hatten sie einander in Grand Rapids beim Kongreß der Medizinischen Vereinigung getroffen und in einem kleinen Café diniert. Damals war es ihnen gelungen, eine volle Stunde lang eine Debatte zu vermeiden. Es war nett und gemütlich, bis sie wieder zu streiten begannen. Tubby nannte Bill einen waschlappigen, gefühlsseligen Narren, und Bill erklärte, Tubby sei nichts weiter als ein erstklassiger Mechaniker. Nachher stellten beide es hin, als sei das Ganze nur ein Scherz gewesen, doch war jeder von ihnen froh, daß sie um acht Uhr im Hotel sein mußten.
»Wie geht es Mrs. Cunningham?« Tubby fragte pflichtschuldig, nachdem die Suppe aufgetragen worden war.
Danke, es gehe ihr gut, sie sei sehr beschäftigt mit sozialer Arbeit, renne von einer Wohltätigkeitsversammlung zur andern, sei gut zu den Armen, aber eine schlechte Golfspielerin, und am Bridgetisch noch schlechter.
»Ich erinnere mich, wie du ihrer Mutter einmal den Magen umgedreht hast«, sagte Tubby. »Du hast mich damals zu den Whittakers zum Dinner mitgenommen. Wir waren hungrig wie die Panther und stürzten uns auf das Essen, als seien wir eben nach einem Schiffbruch gerettet worden. Ediths Mutter wollte liebenswürdig Konversation machen und zwitscherte: ›Hatten Sie heute etwas Interessantes zu tun, Dr. Cunningham?‹«
»Es war herrlich, sich mit ›Doktor‹ angeredet zu hören.«
»Ja, wundervoll. Und du hast damals mit vollem Mund geantwortet: ›Wir haben einen Unterleibstumor operiert, Mrs. Whittaker. Einen riesig großen, ungefähr die Größe des Bratens.‹ – Erinnerst du dich?« Tubby lachte.
»Ich gebe zu, daß es ein unglückseliger Vergleich war. Und ich wußte erst, was ich angestellt hatte, als Mrs. Whittaker ihren Sessel zurückschob, sich entschuldigte und aus dem Zimmer eilte.«
»Ja. Nach einer peinlichen Pause stand Edith auf und sagte, sie wolle nachsehen, ob ihre Mutter etwas brauche. Und wir blieben mit dem Alten allein.« Tubbys Augen glänzten beinahe übermütig. »Weißt du noch, was er dir sagte?«
»Ein trockener, alter Bursche, der Professor Whittaker. Aber man kann eben nicht fünfundzwanzig Jahre Vorlesungen über Geologie halten, ohne zu verknöchern. Ja, Tubby, ich erinnere mich. Er sagte: ›Mr. Cunningham, wenn Sie das nächste Mal an unserem Tisch eine Operation ausführen, so beschränken Sie sich auf eine Beinamputation oder etwas anderes, weniger Grausliches als einen Unterleibstumor.‹ Und du antwortetest – ich muß schon sagen, daß es von dir hundsgemein war –: ›Das nächste Mal, Professor Whittaker, wird Bill der Patient sein, und wir werden bei ihm eine Gehirnoperation ausführen.‹«
»Stimmt. Und der Alte sah dich durchdringend an und meinte: ›So? Ich wußte gar nicht, daß Studentengehirne bereits entwickelt genug sind, um erkranken zu können.‹ Und du erklärtest: ›Jetzt sind wir für eine Weile mundtot gemacht.‹«
»Bei dir war das nicht der Fall. Du besaßest die Frechheit, charmant über die Gehirnstruktur zu plaudern. Als Edith und ihre Mutter zurückkamen, hieltest du eben eine belehrende Vorlesung direkt aus dem Seziersaal. Du bist immer, zur Zeit und zur Unzeit, bei deiner Arbeit geblieben, Tubby.«
»Weshalb nicht? Die Arbeit des Chirurgen ist wichtig genug, um seine ganze Zeit, vierundzwanzig Stunden am Tag, in Anspruch zu nehmen.«
»Das habe ich früher auch geglaubt.«
»Und diesem Glauben hast du deinen Erfolg zu verdanken. Bist du aber jetzt anderer Ansicht, um so ärger für dich. Vollkommene Hingabe an die Berufspflichten – das versuche ich den jungen Trotteln einzubleuen, die lieber in einem Nachtlokal Anatomie studieren. Glaub mir, daß ich es tue!«
»Du brauchst dich nicht in Details zu ergehen. Es ist allgemein bekannt, daß du ein Sklavenhalter und darauf sogar noch stolz bist. Die Frage ist, ob du auch immer die Resultate erzielst, die du erwartest. Sei aufrichtig, Tubby.«
»Nicht oft, aber immerhin häufig genug, um meine Methode gerechtfertigt zu sehen. Nimm den Fall meines Assistenten, des jungen Beaven. Ein ungemein gescheiter junger Mann. Aber ich mußte ihn hart anpacken, um aus ihm das zu machen, was er jetzt ist. Eine ganz interessante Geschichte.«
Und Tubby hatte weitschweifig über das seltsame Verhältnis zwischen ihm und seinem vielversprechenden Assistenten erzählt.
»Meiner Ansicht nach«, hatte Bill gemeint, »habt ihr zwei alten Narren eure Feindschaft lang genug aufrechterhalten. Fallt euch in die Arme und schließt Frieden, ehe ihr zum Gespött der Universität werdet.«
»Jetzt kann ich die Dinge nicht mehr ändern«, erklärte Tubby eigensinnig. »Und ein jeder, den es interessiert, kann feststellen, daß es Beaven genützt hat. Im ersten Semester war er dermaßen gleichgültig und frech, daß er von Grund aus umgekrempelt werden mußte.«
»Und du hast ihn radikal umgekrempelt und tust es auch noch weiter?«
»Ja, aber begreife doch«, Tubby hatte alle Mühe, um nicht vor Stolz zu krähen, »er ist jetzt der beste, geschickteste und fähigste Student, den wir seit Jahren an der Universität hatten. Ich habe ihn hart bedrängt, und er hat sich geschworen, mir seine Tüchtigkeit zu beweisen. Je mehr ich ihn verspottete, desto fleißiger arbeitete er. Ich wagte nicht lockerzulassen, aus Angst, ihm das einzige zu nehmen, das ihn anspornte. Er wäre dann ebenso faul wie die andern. Verstehst du das denn nicht?«
»Ich höre, was du sagst, und weiß, was du meinst wenn du das ›verstehen‹ nennst. Aber ich bin nicht deiner Ansicht. Ich sehe nicht ein, was ein Wort des Lobes und der Anerkennung seiner Loyalität dir gegenüber diesem begabten Burschen schaden könnte.«
Tubby schüttelte heftig den Kopf.
»Du kennst ihn nicht, Bill. Er ist ein tiefer Mensch und sehr stolz, er gehört nicht zu jenen, die sich leicht versöhnen lassen. Einmal, vor kurzer Zeit, machten wir zusammen eine sehr heikle pathologische Untersuchung. Ich sagte ein Wort des Lobes, und sein Blick ließ das Blut in meinen Adern erstarren.«
»Vielleicht war er nur erstaunt«, bemerkte Cunningham trocken. »Manchmal starren Menschen vor Staunen so.«
»Nein, wir müssen dabei bleiben. Ich bin bereit, Beaven überall behilflich zu sein, solange er bei seiner Arbeit bleibt. Springt er nicht aus dem Geleise, hält er den eingeschlagenen Weg ein, so wird die Welt von ihm hören. Kommt nichts dazwischen, was das von ihm selbst festgelegte Programm umstößt, so kann er haben, was er will, und ich werde mein möglichstes für ihn tun.«
»Programm? Was für ein Programm? Was willst du aus ihm machen, Tubby? Einen ausgezeichneten, eisgekühlten Mechaniker, wie du einer bist?«
Tubby schnaubte und stach die Gabel in seine Apfeltorte.
»Wenigstens wird er kein süßlicher, weichlicher Gefühlsmensch werden!«
»Wie ich einer bin?« fügte Bill lachend hinzu.
»Ich wollte dich nicht beleidigen, aber deine Theorien passen nicht in eine Medizinische Fakultät. – Übrigens, weißt du, wieviel Uhr es ist?«
»Ich weiß, wir müssen gehen. Es war schön, wieder einmal ordentlich mit dir zu plaudern, Tubby. Wir sollten es öfter tun.«
Aber sie taten es nicht öfter. Sie stimmten darin stillschweigend überein, daß ihre Erinnerungen aneinander um so angenehmer sein würden, je seltener sie zusammentrafen.
Während Tubby in dieser Nacht das Gespräch bedachte, fragte er sich, ob es nicht besser gewesen wäre, Bills Rat zu befolgen und etwas freundlicher zu Beaven zu sein.
Jetzt freilich war es zu spät für eine Versöhnung. Er konnte nicht das Geschehene ignorieren und Beavens endgültigen Sieg riskieren. Er empfand Übelkeit, wenn er an Beavens kalte Impertinenz und den verächtlichen Trotz in dessen Augen dachte.
Nun, der junge Affe hat noch einiges zu lernen. Er wird schon sehen, was für eine Position er errungen hat. Am besten wird sein, ihn von nun an ganz sich selbst zu überlassen, ihn überhaupt nicht zu beachten, sich für keine seiner Arbeiten zu interessieren, nicht mit ihm zu sprechen, ihn zappeln zu lassen. Dann wird er eines Tages mit einer Entschuldigung zu Kreuz kriechen und dann, dann – werden wir sehen.