Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Tags darauf, nach Audrey Hiltons und Teddys Abreise, wurde Jack Beaven vom Kuratorium der Universität offiziell die Stelle eines Assistent-Professors der Anatomie angeboten. Diese erfreuliche Nachricht traf gerade zur rechten Zeit ein, denn der künftige Professor war schlechter Laune und deprimiert.
Mit der ihm eigenen Bosheit war Tubby am Abend vorher zurückgekommen und hatte alle Vorkehrungen für die Abreise des kleinen Buben auf sich genommen; somit war es überflüssig geworden, daß Jack Miss Hilton und ihren Neffen zur Bahn begleitete. Als er so eilig ins Spital zurückgerufen worden war, hatte er damit gerechnet, auf dem Bahnhof noch ein paar Worte mit ihr wechseln zu können. Er hatte gehofft, den Schluß der chinesischen Geschichte zu erfahren, aber auch die Tatsache allein, sie nochmals zu sehen, hätte ihn getröstet. Nachher – wollte er sie dann vergessen.
Kurze Zeit vor der Abreise war Jack in Teddys Zimmer gegangen, um von ihm Abschied zu nehmen. Der aufgeregte Bub war freundlich, aber durch das Packen abgelenkt. Audrey blickte ihm beim Händedruck eine Sekunde in die Augen, und der Ausdruck in den ihren verriet, daß sie seine Enttäuschung teile und es bedauere, ihre Bekanntschaft in der Luft hängen zu lassen.
Jack glaubte im Wege zu sein und ging an seine Arbeit. Er empfand tiefe Niedergeschlagenheit. Bisher war es ihm nicht klargeworden, in welchem Maße Audrey Hilton seinen Seelenfrieden gestört hatte. Den ganzen Nachmittag versuchte er sich einzureden, er würde nichts gegen das Ende ihrer kurzen Freundschaft gehabt haben, wäre ihm vergönnt gewesen, noch ein paar Worte mit ihr allein zu sprechen, ihr für den Einblick, den sie ihm in ihre interessante Lebensgeschichte gewährt, zu danken und ihr zu sagen, wie sehr er die Umstände bedauere, die ihr Gespräch unterbrochen hatten, sowie seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß sie einander einmal – wer konnte es wissen? – wieder begegnen werden. Das alles hätte man als einen weniger betrüblichen Abschluß einer kurzen Freundschaft ansehen können. In dieser Nacht schlief Jack schlecht und erwachte morgens mit dem Gefühl, das Leben sei nicht der Mühe wert.
Als jedoch das bedeutsame Dokument eintraf, fand Jack, das Universum könne, wenn auch nicht mit Frohlocken, so doch wenigstens mit Nachsicht, Geduld und Wohlwollen betrachtet werden.
Die Anerkennung der Universität hatte zwar in bezug auf Jacks Arbeit wenig geändert, doch verlieh sie ihm eine andere Stellung. Von nun an würde er nicht länger als Refraktor hinter dem von Tubby Forrester ausgehenden strahlenden Licht dienen; er würde die Möglichkeit haben, selbst ein kleines Licht auszusenden. Nun hatte er eine gute Stellung, ein anständiges Gehalt; doch interessierte ihn dies letztere nur insoweit, als es eine seiner Arbeit entsprechende Entlohnung darstellte. Das finanzielle Problem hatte ihn stets kaltgelassen. Sein bescheidenes Erbteil war viel größer gewesen als seine Ausgaben, so daß er jährlich nicht unbeträchtliche Ersparnisse zurücklegen konnte. Und so bedeutete denn die Erhöhung seines Monatsgehaltes von fünfundsiebzig auf zweihundert Dollar für ihn ausschließlich die Anerkennung, daß seine Arbeit an der Medizinischen Fakultät und an der Klinik höher bewertet wurde. Da er keine armen Verwandten und wenig Bedürfnisse hatte, zählte diese Beförderung nur als angenehmer Beweis für seinen beruflichen Fortschritt; und schließlich war dies das einzige, was in die Waagschale fiel.
Er war aufrichtig dankbar dafür, daß die Beförderung gerade zu einer Zeit gekommen war, da er nicht sicher wußte, ob sein Beruf auch fürderhin alle seine Aufmerksamkeit werde fesseln können. Nun vermochte er wieder alle Verantwortung mit fester Hand zu übernehmen und sich mit dem Gedanken zu trösten, daß die Politik der harten Arbeit ohne Erholung ja doch gerechtfertigt sei. Der Brief war rechtzeitig gekommen: er sollte ihm helfen, das Mädchen zu vergessen.
Selbstverständlich stak Tubby hinter der Beförderung. Das Kuratorium der Universität hätte diesen Schritt nie und nimmer ohne Einwilligung des Professors der Anatomie unternommen. Der Vorschlag war von Tubby ausgegangen, der auch darauf sah, daß er Jack gemacht würde. Und nun forderte der Anstand von Jack einen Ausdruck der Dankbarkeit, was in dem gegebenen Fall nicht gerade leicht war.
Als er am Nachmittag Tubby in dessen Zimmer aufsuchte, wußte er noch nicht, wie er seinen Dank formulieren solle; er wußte nur, daß er es tun mußte.
»Dr. Forrester«, begann er, »ich wurde vom Kuratorium zum Assistent-Professor befördert, ich – ich weiß das zu schätzen.«
»Dann schreiben Sie an das Kuratorium und teilen Sie es ihm mit«, meinte Tubby gelangweilt.
»Danke«, erwiderte Jack ungelenk. Er hatte das Gefühl, es sei dem nichts mehr hinzuzufügen, und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
»Dr. Beaven«, bellte Tubby, »es geht mich ja nichts an, wo Sie wohnen, aber der Spitalanbau ist, soviel ich weiß, überfüllt. Nun, da Sie der Fakultät angehören, möchte ich Ihnen raten, sich eine andere Wohnung zu suchen. Jetzt können Sie es sich ja leisten.«
Jack fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß. Tubbys Andeutung, daß er wahrscheinlich zu geizig sei, um auf das Freiquartier der Spitalärzte zu verzichten, war unerträglich. Weiß Gott, daß er auch jetzt nicht im Spital wohnen geblieben wäre, wenn nicht der Tag- und Nachtdienst es gefordert hätte. Er dachte einen Augenblick daran, dies Tubby zu sagen; doch er besann sich dann eines Besseren. Schließlich war er hergekommen, um Tubby zu danken, nicht aber, um mit ihm zu streiten.
»Ja, Sir«, antwortete er kurz und verließ das Zimmer.
Tatsächlich war ihm, mochte er jetzt eine noch so starke Empörung fühlen, bisher nicht der Gedanke gekommen, daß er von nun an behaglicher leben konnte. Aber später wäre es ihm bestimmt eingefallen. Es wird seltsam sein, eine eigene Wohnung zu besitzen. Von diesem Gedanken beseelt, machte er sich tags darauf für ein paar Stunden frei, um in der Nähe des Spitals eine geeignete Junggesellenwohnung zu suchen.
Nachdem er Jahre hindurch nur das Allernotwendigste an Komfort gekannt, auf einem Spitalbett geschlafen und ein gemeinsames Badezimmer benützt hatte, ging sein Ehrgeiz nicht über zwei möblierte Zimmer und ein Badezimmer hinaus. Als er jedoch, etwa eine Meile von der Universität entfernt, in einer eleganten Straße ein geräumiges Appartement besichtigt hatte, kam ihm der Gedanke, wenn er bis ans Ende seines Lebens allein sein werde, so habe er wenigstens das Recht, sich mit einigen Gegenständen zu umgeben, die er sein eigen nennen konnte. Die Wohnung war unmöbliert. Während der nächsten Tage verbrachte er jede freie Stunde mit Einkäufen für sein neues Heim. Nun, da er angefangen hatte, sich damit zu befassen, widmete er dieser Angelegenheit seine ganze Aufmerksamkeit; und als die Gegenstände geliefert worden waren, fragte er sich, wie er so lange ohne sie hatte leben können.
Der kleine Raum, den der Hausverwalter, zweifellos im Scherz, als Bibliothek bezeichnet hatte, war der einzige, den Jack nicht möblierte. Er versperrte die Tür und beschloß zu warten, bis er auch für dieses Zimmer eine Verwendung haben würde. Das Wohnzimmer sollte zugleich als Bibliothek dienen. Eines der Schlafzimmer, jenes mit Nordlicht, plante er als Laboratorium einzurichten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sein eigener Hausherr zu sein.
Er ließ die neuesten Bilder seiner Schwester und ihrer beiden kleinen Kinder einrahmen und hängte sie über dem funkelnagelneuen, mit grünem Leder überzogenen Schreibtisch auf. Insgeheim wünschte er das Recht zu besitzen, Audrey Hilton um eine Fotografie zu bitten; er fragte sich, ob ein Bild von ihr ihm helfen oder schaden würde. Doch verscheuchte er den Gedanken rasch; er war unmöglich und auch ein wenig lächerlich angesichts ihrer kurzen Bekanntschaft und der Unwahrscheinlichkeit eines Wiedersehens. – Ja, dachte Jack, ein solcher Gedanke verdient wirklich einen Sentimentalitätspreis. Und er müßte von Tubby überreicht werden.
Es ließ sich nicht leugnen, daß das Einrichten seiner Wohnung auf Jack Beaven einen vermenschlichenden Einfluß ausübte. Er wurde häuslich. Bereits nach zehn Tagen bezog er sein neues Heim. Er erkannte selbst, daß der Besitzerstolz, mit dem er sich zwischen seinen Möbeln bewegte, die großen Ledersessel ausprobierte, den übervollen kleinen Sekretär ordnete und sich, am großen Schreibtisch sitzend – er hatte sehr elegantes Schreibpapier gekauft –, fragte, wem er außer Jean schreiben könnte, halb rührend, halb komisch war. Tony Wollason, der in einem kleinen Nest in Wyoming täglich magerer und schäbiger wurde, staunte, als er auf seine Weihnachtswünsche eine lange, ausführliche Antwort erhielt. Bugs Cartmell, der sich als Assistent beim Gesundheitsamt in Peoria die Füße plattlief, wunderte sich ebenfalls darüber, daß sein einstiger Mitbewohner aus Mrs. Doyles Pension sich seiner erinnerte. Jack begann auch, einige Briefe zu schreiben, die an Miss Hilton, Miss Audrey Hilton, Audrey und Lan Ying gerichtet waren; doch zerriß er sie alle in kleine gleichmäßige Stücke und warf sie in den schönen, mit Metall und Leder verzierten Papierkorb, der zu dem großen Schreibtisch paßte.
Da die Strecke zwischen der neuen Wohnung und der Klinik sich als unbequem lang erwies, beschloß Jack, ein Auto zu kaufen. Wenige Tage nachher wurde hinter der Klinik einem modernen braunen Roadster ein Platz zum Parken angewiesen. Auf einer Karte an dem niedrigen Zaun war zu lesen: »Dr. Beaven«; Jack fühlte, dies sei die überzeugendste Bestätigung dessen, daß er eine Stellung als arrivierter Angehöriger des Ärzteberufes eingenommen habe. Die Beförderung hatte ihm ein neues Selbstbewußtsein verliehen, das eigene Heim gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und der Beständigkeit. Sein in den gleichen großen schwarzen Lettern gedruckter Name wie die der Besitzer der Nachbarautos – Forrester, Shane, McCormack, Osgood, lauter ältere Männer – übte auf ihn eine seltsame Wirkung aus und bestärkte ihn in seinem Entschluß, dem Beruf, der ihn so rasch und so großmütig für seine Hingabe belohnt hatte, durch noch größere Treue zu beweisen, daß er dieser Ehre würdig sei. Das Auto mochte eine unnötige Ausgabe darstellen, aber der Name am Zaun war ein Ansporn.
In der letzten Augustwoche ereignete sich etwas, das einen neuen Keil zwischen Jack und Tubby trieb. Hätte irgendein anderer sich in der lächerlichen Lage überraschen lassen, in der Jack wider seinen Willen den Professor ertappte, das Ganze wäre mit einem Lachen abgetan worden. Aber der Stolz des großen Mannes war tief verletzt. Er war in einem weichherzigen Augenblick erwischt worden, und ausgerechnet von Jack Beaven! Die Hauptschuld an der unglückseligen Angelegenheit trug das Prentiss-Baby.
Nan Prentiss' Heilung war ein Glanzpunkt in Tubby Forresters Leben. Der Prozentsatz von Todesfällen bei Genickverletzungen war stets sehr hoch, und Nancy war so schwer verletzt gewesen, daß während der ersten drei Tage im Spital alle, Tubby inbegriffen, der Ansicht waren, es wäre menschlicher, sie in Ruhe sterben zu lassen, als sie einer ohnehin sinnlosen qualvollen Behandlung zu unterziehen.
Als sie sich jedoch weigerte, der allgemeinen Voraussage recht zu geben, begann Tubby, der alle zwei Stunden ihren Temperaturzettel ansah, mit der Idee einer Operation zu spielen. Nicht einmal die älteste Pflegerin konnte sich entsinnen, Tubby jemals so unentschlossen gesehen zu haben. Er pflegte an Nancys Bett zu stehen, sich mit seinem goldgefaßten Zwicker gegen die Zähne zu klopfen, die scharfen kleinen Augen zu Schlitzen zusammenzukneifen und nach einer Weile einen schnaubenden Ton auszustoßen – der ungefähr besagte: »Bestimmt nicht! Blödsinn! Dummheit!« – und dann das Zimmer nur zu verlassen, um alsbald wiederzukommen und von neuem in Trance zu verfallen.
Am fünften Tag, um acht Uhr morgens, brummte er plötzlich: »Macht sie fertig – sie kommt auf den Operationstisch.«
Der Fall erregte weitverbreitetes Aufsehen. Eine Flut schwülstiger und unwillkommener Zeitungsartikel, die den bekannten Neurologen in große Verlegenheit versetzten, verkündete das von ihm bewirkte »Wunder«. Hunderte Anverwandte unheilbarer und unoperierbarer Kranker wandten sich schüchtern an Tubby; sie schienen zu glauben, die Universitätsklinik habe die Absicht, von nun an mit Lourdes oder Sainte Anne de Beaupré zu rivalisieren.
Zu Tubbys Ehre sei gesagt, daß er zwar die aufgeregten, sensationslüsternen Leute, die Interviews verlangten, recht unhöflich hinauskomplimentierte, aber dafür mit ungewohntem Pflichteifer die zahlreichen Briefe beantwortete, die durch die Zeitungsartikel veranlaßt worden waren, und sein möglichstes tat, um sich und die Klinik jenen verständlich zu machen, die mehr Hilfe erwarteten, als zu leisten in seiner oder irgendeines Menschen Macht stand.
Mochte die Presse den Fall noch so sehr aufgebauscht haben, wahr blieb, daß Tubby das Leben der jungen Frau gerettet hatte. Die Chancen für sie hatten – medizinischen Annalen zufolge – eins zu dreihundertzehn gestanden. Fachzeitschriften öffneten ihre Spalten der Anamnese und der Technik der Operation, Gehirnchirurgen besuchten die Patientin, die ganze Klinik platzte fast vor Stolz, und Tubbys stets mürrisches Gesicht verzog sich bisweilen in gutmütige Falten, ein Ereignis, das ebenso selten war wie das Gelingen der von ihm ausgeführten Operation.
Tubbys Verhältnis zu Nancy Prentiss hätte von allem Anfang an einen Hund zum Lachen bringen können. Nancy als Abschaum zu bezeichnen, wäre ungerecht, denn der Abschaum besitzt – besonders bei Laboratoriumsexperimenten – bisweilen eine ziemlich große Bedeutung und einen nicht zu unterschätzenden Wert. Die junge Frau hatte so wenig geistige oder moralische Disziplin, wie das bei einem in einer zivilisierten Gemeinschaft lebenden Menschen überhaupt möglich ist. Sie ermangelte völlig der Gefühlsstabilität, die das Unbehagen und die Langeweile der Rekonvaleszenz von ihr forderten. Und gerade bei einem solchen Fall ist die postoperative Behandlung von allergrößter Wichtigkeit. Tubby war der einzige, der mit Nancy fertig wurde.
Sie war ein freches und eigensinniges kleines Luder, das über Schimpfworte verfügte, die einen betrunkenen Matrosen hätten erröten lassen. In bezug auf Impertinenz und schlechte Manieren war sie – bevor Tubby sie kennenlernte – noch nie ihresgleichen begegnet. Nachdem sie mit dem Geständnis, daß sie noch nie einen so groben und gemeinen Menschen wie Tubby gesehen habe, demütig kapituliert hatte, wurde sie seine ergebene Sklavin und betrachtete ihn mit den zärtlichen Augen eines anhänglichen Hündchens.
Aus diesen ungewöhnlichen Umständen aber ergab sich, daß auch Tubby Nancys Sklave wurde; die ganze Klinik kannte seine verzwickte Lage und frohlockte. Tubby wurde zu allen Tages- und Nachtzeiten gerufen, um Nancys Tobsuchtsanfälle zu beschwichtigen. Und bei diesen Gelegenheiten wurden Worte gewechselt, die die Pflegerinnen veranlaßten, schleunigst das Zimmer zu verlassen.
Tubby hatte seiner Patientin von allem Anfang an klargemacht, es sei ihm völlig einerlei, ob sie am Leben bleibe oder sterbe. Ihn interessiere ausschließlich die Möglichkeit, den Erfolg seiner Operationstechnik zu beweisen. So aufrichtig war noch nie jemand zu Nancy gewesen. Eines Tages berichtete sie ihm in einer leichtgerührten Stimmung über ihre kurze, aber aufregende Vergangenheit, und Tubby erklärte ihr, es wäre kein Verlust für die menschliche Gesellschaft, wenn sie nicht genäse.
»Tatsächlich«, fügte er nachdenklich hinzu, »begehe ich wahrscheinlich eine unmoralische Handlung, indem ich Sie am Leben erhalte. Sie taugen nichts, Nancy, und nichts rechtfertigt Ihr Dasein. Aber eines sage ich Ihnen: wenn Sie mich im Stich lassen und nicht gesund werden, dann – dann werde ich nie mehr mit Ihnen sprechen.«
So kam es, daß die zähe Nancy gesund wurde, um, nachdem sie zwei Monate folternder Ungeduld erduldet hatte und in Verbänden und Kissen reglos wie ein Strohsack auf dem Gesicht gelegen hatte, in die ihrer Mutter gehörende schäbige kleine Hütte am Rand der Stadt transportiert zu werden.
Während ihrer letzten vierzehn Tage in der Klinik wurde Tubby öfter am Tage gerufen, um Nancy daran zu hindern, alles wieder zu verderben. Da ihre zunehmende Kraft die Ruhelosigkeit und die Ungeduld über die Abgeschlossenheit steigerte, erklärten die Pflegerinnen gar nicht mehr den Grund ihres Anrufs. Sobald die Verbindung mit Tubby hergestellt war, sagten sie einfach: »Nancy«, und Tubby erwiderte: »Ich komme.«
Bisweilen beschimpfte er sie auf das fürchterlichste. Es wurde gemunkelt, er habe sie einmal in seiner Wut etwas sehr Unschönes, wenn auch Zutreffendes genannt, worauf sie erwiderte, er sei ein eingebildeter, schweinsäugiger kleiner Groschenfresser, eine nicht gerade höfliche, aber jedenfalls charakteristische Bezeichnung. Nützten Strenge und Zorn nicht, so beruhigte Tubby sie mit voreiligen Versprechungen. Das wiederum war für Nancy ein Grund, ihn zu erpressen und allerlei Vergünstigungen zu verlangen, falls sie jemals aus dem verdammten Gipsverband herauskommen sollte. Viele fragten sich, bis zu welchem Grade Tubby seine Versprechen halten werde.
An einem Augustnachmittag wurde ein dringlicher Fall eingeliefert, der es zweckmäßig erscheinen ließ, Tubbys Beurteilung einzuholen. Ein Anstreicher war vom Gerüst gestürzt und hatte sich den zwölften Rückenwirbel verrenkt. Bei der Prüfung der Röntgenplatte entdeckte Beaven eine leichte Verletzung des Rückgrates. Vor einem Eingriff wollte er die Platte Tubby zeigen, der überall vergeblich gesucht wurde. Da entsann sich jemand, daß der Professor jeden Nachmittag zu Nancy Prentiss ging, die kein Telefon hatte.
Jack fuhr hin. Die Vordertür stand offen, und Jack wollte gerade anklopfen, als er aus dem Raum neben dem Wohnzimmer Nancys metallische Stimme vernahm. Jack verharrte verblüfft im Türrahmen.
»Komm hervor, Gott verdamm' dich! Ich seh' dich hinter dem Traktor kauern! Hände hoch, oder ich schieß' dir eine Kugel in den Kopf!«
Nancys Aussprache war etwas knödlig und erweckte den Eindruck, als sei sie geknebelt. Jack schob den Wandschirm beiseite, schritt durch das Wohnzimmer und blieb stehen. Das blonde Haar im Lockenwirbel gedreht, im Mund ein riesiges Stück Kaugummi, las Nancy laut eine Wildwestgeschichte. Sie lag im Bett flach auf dem Rücken, mit hochgezogenen Knien, um das Magazin besser stützen zu können. Als sie Jack erblickte, grinste sie und sagte: »Hallo, Kleiner! Suchst du Papa?« und wies neckend in eine Ecke des Zimmers, die Jack nicht sehen konnte. Er trat näher und blieb, ungläubig starrend, wie angenagelt stehen.
Tubby saß am Fenster in einem altmodischen, wackligen Schaukelstuhl, Nancys Baby auf dem einen Arm, und hielt mit der andern Hand eine Milchflasche. Die improvisierte Kinderfrau starrte mit mörderischer Wut auf den Eindringling, dessen Staunen sich in Lachen Luft machte. Jack hätte ebensowenig sein Lachen zu unterdrücken vermocht, wie seinen Herzschlag zum Stehen zu bringen.
»Was ist los?« fragte Nancy hastig, ohne im Kauen innezuhalten. »Hast du noch nie gesehen, wie man ein Baby füttert?« Aber diese Frage beruhigte Jack nicht; er konnte nicht zu lachen aufhören.
»Hinaus!« brüllte Tubby mit vor Zorn brechender Stimme. Jack wurde unvermittelt ernst; Tubby schien von einem Schlaganfall bedroht.
»Sie werden in der Klinik gebraucht, Sir«, sagte er und zog sich zurück.
»Hinaus!« wiederholte Tubby.
Jack ging. Nach diesem Vorfall war ihr nie sehr freundschaftlich gewesenes Verhältnis so gespannt, daß es sogar in der Klinik auffiel. Im Operationssaal zum Beispiel sagte Tubby zu Miss Warren: »Sagen Sie Dr. Beaven, daß er diese Naht macht.« Und Jack, der neben Tubby stand, gehorchte wortlos. Hätte man gesagt, daß einer den andern verachte, das Wort wäre viel zu milde gewesen.
Dr. Shane hatte angedeutet, daß er gern die neue Wohnung sähe, und Jack, für den das Appartement noch immer etwas Ungewohntes war, fühlte auch selbst den Wunsch, es seinem Freund zu zeigen. Nach einem gemeinsamen Lunch in der Stadt nahm er ihn mit heim.
»An Ihrer Stelle«, meinte Shane, sich behaglich in einem großen Ledersessel zurücklehnend und in seinem Tabaksbeutel wühlend, »würde ich vor Semesterbeginn ein paar Wochen Urlaub verlangen.«
»Wirklich? Ich habe nicht das geringste Bedürfnis danach.«
»Trotzdem wäre es vernünftig«, meinte Shane mit weisem Kopfnicken. »Sie haben, soweit ich mich entsinne, die ganze Zeit über keinen Urlaub gehabt, zumindest nicht, seitdem Sie mit Forrester arbeiten. Und Sie werden mir nicht einreden, daß die Arbeit mit Forrester ein reines Vergnügen ist. Schließlich wissen wir ja alle, daß Sie beide einander dauernd in den Haaren liegen.«
Jack lachte trocken und deutete durch eine Gebärde an, daß es nicht ganz so arg sei.
»Wir verstehen einander«, meinte er, »und sein Bellen ist ärger als sein Biß.«
»Möglich. Aber ich möchte lieber von Zeit zu Zeit gebissen als ununterbrochen angebellt werden. Ich weiß, daß Sie Tubbys Talent bewundern; das tue ich ebenfalls. Aber es ist nicht leicht, mit ihm auszukommen. Es ruiniert einem die Nerven. Ein Mensch, der mit ihm so viel zu tun hat wie Sie, sollte bisweilen Urlaub nehmen. Ich meinerseits wäre von zwölf Monaten acht auf Urlaub.«
Jack brummte aus Loyalität, Tubby sei wirklich nicht so unerträglich, und was den Urlaub anbelange, so wisse er mit diesem nichts anzufangen.
»Seien Sie nicht dumm«, meinte Shane. »Einige Tage Rast werden Wunder tun. Luftveränderung, Ortsveränderung. Sie wissen doch selbst, daß Sie etwas angegriffen sind. Ich beobachtete Sie heute, wie Sie mit der Gabel im Essen stocherten und nichts aßen. Außerdem sind Sie seit einiger Zeit wortkarg wie eine Auster. Vielleicht hat jemand oder etwas Sie geärgert. Ich weiß es nicht, und es geht mich auch nichts an. Jedenfalls sollten Sie Ihre neue Stellung nicht mit hängendem Kopf antreten. Ich meine es gut mit Ihnen, wie ein Onkel.«
Jack schüttelte den Kopf und wiederholte ungelenk, er wisse nicht, wohin er gehen und was er anfangen solle.
»Blödsinn!« rief Shane und wies mit der Pfeife in die entgegengesetzte Richtung. »Es gibt unzählige Dinge, die Sie tun können. Fahren Sie mit dem Schiff die großen Seen ab. Werfen Sie ein paar Kriminalromane in die Reisetasche und ziehen Sie für ein paar Wochen los! Sie werden frisch und gestärkt wiederkommen. Braun wie Toast. Aufgepulvert. Warum gehen Sie nicht fischen? Fischen Sie nicht gern?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Ich hab's nie getan, hab' höchstens als Bub Hechte und Blaufelchen zu angeln versucht.«
»Höchste Zeit, daß Sie es lernen. Es ist die beste Zerstreuung der Welt. Wenn Sie nicht grübeln wollen, versuchen Sie's mit dem Angeln. Mieten Sie einen Kahn und fahren Sie mit einem alten Kerl los, der keine Ahnung hat, was Ihr Beruf ist, und selbst wenn er es wüßte, über ihn nicht intelligent zu sprechen vermöchte. Überlegen Sie sich's.«
Der Gedanke war nicht schlecht. Die letzten Tage waren ungewöhnlich aufreibend gewesen. Tubby hatte sich unmöglich benommen. Dazu das deprimierende Wetter. Jack war noch nie so einsam gewesen. Das neue Heim hatte zwar einige Probleme seines Lebens gelöst, andrerseits aber ein neues gestellt. Es war eine wahre Freude, der lärmenden Klinik zu entkommen, wo es überhaupt kein Privatleben gab. Hier borgte sich niemand das letzte reine Hemd aus, und niemand stibitzte die Rasierklingen oder sang beim Heimkommen, wenn man endlich schlafen wollte: »Süße Adeline …« Nach der Konfusion und dem Treiben brachte die Stille in der neuen Wohnung eine durchgreifende Veränderung. Einsam? Man erwachte in der Nacht, von der Stille geweckt. Und diese Stille bedeutete nicht nur den fehlenden Lärm, sondern etwas Positives. Vielleicht müßte man einen Hund haben oder einen Geranientopf – irgend etwas Lebendiges. Jetzt, da Jack ein neues Heim besaß, hätte er es gern mit jemandem oder etwas geteilt. Diesen Gedanken verfolgte er immer weiter. Und dann stieß er auf einen andern, der, wollte man nicht den Verstand verlieren, sofort verbannt werden mußte: einen ganz dummen Gedanken. Denn es war höchst unwahrscheinlich, daß sie überhaupt an ihn dachte. Damals hatte das Telefon geklingelt, er hatte den Hörer abgenommen, in den Apparat gesprochen, ihr »Gute Nacht« gesagt und das Zimmer verlassen. Das war alles gewesen. Sie hatte ihm die Hand gereicht, ihm sehr tief in die Augen geblickt und gesagt: »Es tut mir leid.« Das war alles! Es war auch genug, und es mußte das Ende sein.
Immerhin lohnte es sich, Shanes Vorschlag zu überlegen. Er grübelte darüber einige Stunden nach und ersuchte um einen Urlaub von vierzehn Tagen. Er wurde ihm sofort gewährt.
»Selbstverständlich«, sagte Dr. Osgood. »Sehr begreiflich. Ich hoffe, Sie werden einen angenehmen Urlaub haben. Lassen Sie Ihre Adresse im Büro, damit wir Sie erreichen können.«
Jack war verwirrt und recht enttäuscht. Es wäre äußerst unliebenswürdig, Osgood nicht zu sagen, wohin er fuhr, andrerseits aber auch peinlich, einzugestehen, daß er keine Pläne besaß.
»Ich wollte irgendwohin fischen gehen«, erklärte er impulsiv.
»Ausgezeichnet. Wohl nach dem Norden?«
Jack nickte und fragte sich, ob mit dem Wort »Norden« ein bestimmter Fluß oder See gemeint sei, der Anglern bekannt war, oder die Richtung bis zum Pol.
»Cunningham schrieb mir, daß es im Spruce-See viel Seebrassen gebe; der See sei nur eine Stunde von seinem Wohnort entfernt. Er lud mich ein, aber ich kann jetzt nicht fort. Ich bin überzeugt, daß er sich freuen würde, Sie zu sehen.«
Jack überlegte mit abgewandtem Blick eine Antwort.
»Ich fürchte, es wäre eine Belästigung«, widersprach er. »Ich kenne ja Dr. Cunningham nicht.«
Osgood wehrte diesen Einwand mit einer Gebärde ab.
»Das macht überhaupt nichts aus. Cunningham ist ein famoser Mensch. Er wird Sie freudig aufnehmen. Und was das Nichtkennen anbelangt, so war er mit Ihrer Behandlung des King-Buben sehr zufrieden. Forrester hat ihm gesagt, daß die Operation eigentlich von Ihnen ausgeführt wurde.«
Jacks Augen wurden groß, doch schüttelte er entschlossen den Kopf. – Freilich war es eine große Versuchung; auf diese Art hätte er Gelegenheit, Audrey Hilton zu sehen. Aber wäre das vernünftig? Es kostete ihn ohnehin genug Willenskraft, seine Gedanken gegen das Mädchen zu verbarrikadieren. Er wird lieber daheim bleiben. Und es wäre auch nicht fair, Cunninghams Wohlwollen und Freundschaft anzunehmen, da er ja beruflich so wenig Achtung für ihn empfand.
»Danke«, sagte er energisch. »Aber es wäre von Cunningham wirklich zuviel verlangt. Ich würde mich dabei nicht wohl fühlen.«
»Wie Sie meinen.« Osgood wandte sich einer Pflegerin zu, die mit einer Frage gekommen war, und Jack ging in die Klinik an seine Arbeit zurück. Er hatte sich eine ersehnte gute Gelegenheit bewußt entgehen lassen, aber dadurch wenigstens bewiesen, daß er imstande sei, dieses Opfer zu bringen. Selbstbewußt richtete er sich gerade auf, voll Stolz darüber, daß er sich so fest in der Hand habe.
Als er gegen Mittag die Klinik verlassen wollte, ließ Osgood ihn rufen. Dessen Gesicht strahlte. Er grinste geheimnisvoll und reichte Jack ein Telegramm. Es war von Cunningham:
Sehr erfreut Einladung zum Angeln auch auf Beaven auszudehnen. Soll Ankunftstag drahten
Jack las das Telegramm zweimal, ehe er aufblickte. Er sah bekümmert drein.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen beiden«, sagte er langsam, »doch sehe ich nicht recht, wie ich es tun kann.«
Osgood schmunzelte jungenhaft.
»Und ich sehe nicht recht, wie Sie es nicht tun können«, erwiderte er. »Alles ist geregelt. Sie können Cunningham nicht gut telegrafieren, daß Sie nicht kommen wollen.«
»Das stimmt«, meinte Jack. »Also – danke – ich werde hinfahren.«
Jetzt, da der Beschluß für ihn gefaßt worden war, fühlte er, daß er seinem Gewissen gegenüber ein Alibi besaß. Er grinste trocken, während er an die drollige Geschichte von dem guten Katholiken dachte, der sich an einem Freitag, nachdem er vergeblich Haifisch, Thunfisch und Seepolyp bestellt hatte, schließlich widerstrebend mit einem Roastbeef zufriedengab. Beinahe heiter gestimmt, eilte er ins Laboratorium, um die Kulturen zu besichtigen. – Er würde Audrey sehen! Die Angelegenheit wurde ganz ohne sein Zutun geregelt. Er hatte sein möglichstes getan, um der Versuchung aus dem Wege zu gehen, war gegen sein Gewissen ehrenhaft gewesen. – Gott wußte, daß er »Fisch« verlangt hatte!
Für ein Uhr war eine Operation angesetzt. Während Jack sich säuberte, pfiff er einige Takte von »Sweet Rosy O'Grady«. Tubby, der an der nächsten Waschschüssel stand, blickte zornig zu ihm hinüber, worauf Jack ihn liebenswürdig angrinste.
»Schnappen Sie über?« erkundigte sich Tubby besorgt.
»Ja, Sir«, antwortete Jack tollkühn.
»Es kommt von der Hitze«, meinte Tubby.
»Nein, von der Feuchtigkeit«, widersprach Jack, seine Finger mit der Bürste bearbeitend. »Von der braven alten Feuchtigkeit, die alles gedeihen läßt. Jawohl, Sir.«
»Geben Sie doch Ruhe!« flüsterte Miss Warren, während sie Jack in den Kittel half. »Er wird glauben, daß Sie betrunken sind. Vielleicht sind Sie es tatsächlich. Jedenfalls benehmen Sie sich danach.« Sie trat ganz nahe an ihn heran und schnupperte mißtrauisch.
»Ich geh' fischen«, flüsterte er geheimnisvoll.
»Sie schnappen über«, sagte sie, die Kittelbänder festknüpfend.
»Dann passe ich hierher«, gab er zurück. »Dann sind wir alle verrückt.«
Am Spätnachmittag fuhr Jack in die Stadt, um Besorgungen für die Ferienreise zu machen. Es war das eine unangenehme Sache. Im Sportgeschäft gelangte der junge Mann hinter dem Ladentisch sofort zu einer irrigen Ansicht über den unidentifizierbaren Kunden.
»Ich möchte Angelgeräte«, erklärte Jack.
»Sehr wohl, Sir. Woran dachten Sie? Wo werden Sie angeln?«
Jack nickte in die nördliche Richtung und erwiderte: »Irgendwo nördlich im Staat.«
»Wahrscheinlich Muscies?«
»Wahrscheinlich.« Jack ahnte nicht, was Muscies sind, waren es jedoch Fische, die in den nördlichen Seen vorkamen, was anzunehmen war, so würde er wahrscheinlich diese angeln.
»Und Seebrassen«, fügte der Verkäufer hinzu. »Sie haben selbstverständlich bereits Angelruten.« Der Ton drückte aus, daß ein eventueller Kunde, der nicht einmal Angelruten besitze, hier überhaupt nichts zu suchen habe.
»Selbstverständlich«, erwiderte Jack steif. Die Andeutung hatte ihn gereizt. Der Kerl sprach von »Angelruten«. Wozu brauchte man mehrere? Wahrscheinlich eine für Muscies, eine für Seebrassen, eine für Haifische.
»Sind Ihre Winden in Ordnung, Sir?«
Jack nickte. Anscheinend waren Angelruten launenhafte Gegenstände.
»Ich nehme an, Sie benötigen Angelschnüre. Lote, Löffelköder und dergleichen.« Der Verkäufer schob die Glastür des einen Kastens zurück. »Wenn Sie hinter den Ladentisch kommen, Sir, können Sie sich aussuchen, was Sie brauchen.«
»Ich fürchte, ich habe mein Auto zu nahe an einem Hydranten geparkt«, sagte Jack hastig. »Entschuldigen Sie mich.«
Während er weiterfuhr, empfand er ein unangenehmes Gefühl der Beschämung, das jedoch nicht ausschließlich durch diese kleine Episode hervorgerufen worden war. Er hatte erkannt, wie wenig er vom Sport und von den Zerstreuungen wußte, die einen großen Teil im Leben des normalen Mannes ausmachen. Andere waren genau über alle Fußball-Asse unterrichtet, wußten über Golfplätze Bescheid, kannten die Namen berühmter Hockeyspieler, wußten, wo und wann man fischt – und was man dazu benötigte. – Er aber wußte von all diesen Dingen überhaupt nichts. Auf der Fahrt zur Garage machte er ein wütendes Gesicht. Er kannte nicht die Zerstreuungen, für die andere Männer sich interessierten! Vielleicht war es besser, mit dem Kauf des Angelgeräts zu warten und Cunningham seine Unwissenheit zu gestehen.
Jack beschloß, am Freitag loszufahren. Brach er zeitig am Morgen auf, so konnte er die Strecke bequem in einem Tag zurücklegen. Er meldete ein Gespräch an, dankte Dr. Cunningham für die Freundlichkeit, teilte ihm seine Pläne mit und daß er im Hotel Roscommon absteigen werde. Aber Cunningham widersprach mit lebhafter Gastfreundlichkeit: »Nein, Sir! Sie werden geradeswegs in mein Haus kommen. Meine Frau wird vielleicht ein paar Gäste zum Dinner einladen. Versuchen Sie, gegen sechs Uhr dreißig hier zu sein. Morgen früh gehen wir dann fischen.«
Die beiden Tage vor der Abreise hatten sich endlos hingeschleppt. Es war die erste längere Fahrt, die Jack allein unternahm. Er hatte das Dach des Autos heruntergelassen, wodurch dieses in ein völlig anderes Gefährt verwandelt worden war.
Nun gehörte ihm die ganze Landschaft. Das Auto fuhr rasch und glatt dahin, mehr wie ein Rennboot als ein Etwas auf Rädern. Kühl und belebend wehte der Wind über das Land. Der Himmel war von rosigen Streifen durchzogen. Der morgendliche Erdgeruch, der Duft des taufrischen Grases, der feuchten Erde, der Tannen und der Balsaminen schlug gegen Jacks Nase. Einmal vernahm er ein lautes schwirrendes Geräusch: er hatte an einer Kurve an einem mit Wasserlilien bedeckten Teich eine Kette Rebhühner aufgescheucht. Die ländlichen Töne vereinigten sich zu einer Symphonie, wie Jack sie seit seiner Jungenzeit nicht mehr gehört hatte: das Knarren einer Windpumpe, das Blöken der Schafe, das Krähen der Hähne, das Brüllen des Viehs vermischten sich mit den Trillern der Lerchen.
All dies wirkte erfrischend und aufheiternd. Jack merkte erstaunend, daß seine Stimmung sich dem Wehen des Morgenwinds, dem rasch wechselnden Kaleidoskop von Formen und Farben auf der sich über anmutige Hügel schlängelnden Straße anpaßte. Auch ihn erfaßte die übermütige Laune von Brownings »Pippa« an ihrem einzigen freien Tag, und er empfand den Wunsch, vor Wohlbehagen zu schreien und zu singen.
Die kleinen Städte begannen zu erwachen. Die Landstraße nahm von Feldpfaden und aus Höfen kommende Lastkarren und schäbige kleine Autos auf, die zur Arbeit fuhren. Bald erreichte Jack eine größere Stadt. Ein Wegweiser verkündete, daß eine Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Meilen erlaubt sei, zumindest bis zum nächsten Wegweiser, der anzeigte, daß zwanzig genügten. Das Auto fuhr an großen Betrieben aus roten Ziegelsteinen vorbei, an hohen Schloten. Hunderte von Männern schritten die Straße dahin, strömten durch das Fabriktor, zwanzig- und dreißigjährige, meist in blaue, am Hals offene Hemden gekleidet, vierschrötige Burschen, die bestimmt bei jeder Rauferei als Sieger hervorgehen würden, und schlanke, hochgewachsene, die die vierschrötigen überragten – die lieber in der frischen Luft arbeiten sollten. Andere wiederum hatten einen hervorstehenden Adamsapfel, eine zu schmale Brust, gebeugte Schultern; zweifellos waren sie blutarm, möglicherweise tuberkulös (schlechter Stoffwechsel, die roten Blutkörperchen an der Gefahrenzone). – Ach was, hol' der Teufel die Diagnosen!
An ihrer Universität hatte Remsen, ein ehrgeiziger Entomologe, ein Glashaus eingerichtet, wo er Ameisenstädte studierte. Remsen war, im Gegensatz zu Maeterlinck, nicht ganz überzeugt von dem sozialen Verhalten der Insekten; er bezweifelte, daß die Individuen den Gesetzen der Vernunft gehorchen. Ihm zufolge war die Arbeit der Ameisen ihrem Geschlecht oder dem Mangel an Geschlecht angepaßt, ihrer Größe, ihrem Körperbau. Hatte eine Ameise lange Beine, so mußte sie viel umherlaufen. Andere wiederum arbeiteten den ganzen Tag auf derselben Stelle – ein Fabriksleben. Sie verrichteten rasch, geschickt, automatisch, ohne zu denken, irgendeine kleine Arbeit. Hielt man dabei inne, um darüber nachzudenken, was man tue, so blieb man hinter den andern zurück, und die Nachbarameise rief einem Beschimpfungen zu. Eine hübsche Beschäftigung, die unweigerlich zu geistiger Minderwertigkeit führen mußte. Aber schließlich waren alle Arbeiten so. Jack sann über den eigenen Beruf nach. Es gab keinen großen Unterschied zwischen einer Hobelbank und einem Operationstisch. Chirurgen hatten reinere Hände und sauberere Instrumente, doch waren auch sie nur Mechaniker.
Alsbald war er dem Ameisenschwarm, der Automobile fabrizierte, entronnen und fuhr durch ärmliche Vorstädte. Jack schaltete eine größere Geschwindigkeit ein, um an einer langen Reihe mit Autos bepackter Lastwagen vorüberzukommen, die wie Mammute der Landstraße anmuteten. Alles Ländliche war verschwunden. Nun folgte in rascher Reihenfolge Stadt auf Stadt. Gegen Mittag fuhr Jack durch einen Bezirk, der fast ganz der Holzindustrie gehörte. Ungeheure Holzstöße warteten, um auf plumpe, an den Werften verankerte Frachtschiffe verladen zu werden. Jack bog von der Hauptstraße in eine mit Katzenköpfen gepflasterte Gasse ab, um einen besseren Überblick zu haben. Schwere Ketten rasselten über riesige Walzen, lange Kräne beschrieben Halbkreise, schleppten gefährlich schwankende Lasten von zersägtem Holz, luden sie in den Laderaum ab, kehrten, mit verschlungenen Kabeln und gespreizten Stahlfingern nach einer neuen Holzlast greifend, sofort zurück. Dem Frachtschiff war es einerlei, die Drohung neuerlicher Arbeit schreckte es nicht; es lag träge auf dem Wasser und ließ sich von den Matrosen den rostigen Bauch rot streichen. Die eifrigen Hebewinden fütterten seinen gefräßigen Bauch mit mehr und mehr Bauholz; das Schiff verhielt sich gleichgültig wie eine wiederkäuende Kuh, die gemolken wird. Es mochte ganz lustig sein, auf einem solch trägen alten Kasten zu fahren; auf diese Weise konnte man für ein paar Monate allen Mühen und Sorgen entfliehen. – Käme man erfrischt zurück? Und bereit, die alten Pflichten wiederaufzunehmen? – Erfrischt vielleicht – aber für die alten Pflichten bereit? Kaum! Eine solche Reise vermöchte einen von dem Wunsch nach Arbeit zu kurieren. Nein, eine kurze Atempause von ein bis zwei Wochen war besser. Man durfte die Rückkehr zu den andern Ameisen nicht allzulange hinausschieben, sonst lief man Gefahr, von ihnen als tot oder als Deserteur betrachtet zu werden.
Während Jack weiterfuhr und nach einer halben Meile abermals auf die Landstraße zurückkehrte, schweiften seine Gedanken zu soziologischen Themen ab. – Wie töricht, dieses Fach als »soziologische Wissenschaft« zu bezeichnen! Wissenschaft war ein Laboratoriumsprodukt. Wollte man wissenschaftlich vorgehen, so mußte man sich an festgesetzte Regeln halten und mit Präzisionsinstrumenten arbeiten. »Soziologische Wissenschaft« – Blödsinn! Freilich konnte man, wenn einem nichts daran lag, ein Wort zu mißbrauchen, alles Wissenschaft nennen: Rasierwissenschaft, Hühnerzuchtwissenschaft, Grasmähwissenschaft. Viele versuchten ihrem kleinen Handwerk durch die Bezeichnung Wissenschaft Würde zu verleihen. Zum Beispiel die Wissenschaft der Politik, bei der nicht zwei Studenten der gleichen Ansicht waren, woher sie komme, wohin sie führe, was ihr Sinn sei. Ethnologische Wissenschaft eine Sache, die ebenso praktisch war wie der Versuch, eine Sanddüne mit einer Wäscheleine festzubinden. Das Studium der »Rassenmerkmale« – Unsinn! Es brauchte nur eine Eroberer-Nation zu kommen und sich zwei Generationen hindurch auf einer anderen Nation breitzumachen; die eigenen Großmütter würden die Besiegten nicht mehr erkennen. Was bedeutete es für ein amerikanisches Mädchen, seit seiner Kindheit in Hongkong gelebt zu haben! –
Man konnte Soziologie nicht als Wissenschaft bezeichnen. Konnte das soziale Verhalten der menschlichen Ameisen nicht diagnostizieren und behandeln. Weshalb nicht? Vielleicht könnte man sie, eine nach der anderen, in eine Klinik aufnehmen. Man könnte der einen sagen: »Wir haben Ihren Fall genau studiert, Mr. Beaven, und empfehlen Ihnen eine zweijährige Seereise auf einem Frachtdampfer. Dieser da fährt nach China. China würde Ihnen guttun und Sie von Ihrer Ruhelosigkeit kurieren. Die Chinesen sind ausgeglichene Menschen. Die machen sich keine Sorgen.«
Noch nie in seinem Leben war Jacks Verstand über so viele Probleme dahingerast, geschlendert, gestolpert, galoppiert, purzelbaumschlagend geeilt. Die neue Umgebung, die Befreiung von seinen Pflichten, das Wehen des Windes lösten auf angenehme Art den Reif um seinen Kopf. Vielleicht war es bisweilen ganz gesund, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, die Spannung der Verantwortung zu mildern, den geistigen Gürtel um einige Löcher zu lockern. Vielleicht brauchte das Gehirn Rast. Sogar eine brütende Henne ist klug genug, ihre Eier täglich eine halbe Stunde auskühlen zu lassen.
Um fünf Uhr machte Jack in einem Dorf an einer Tankstelle halt, telefonierte Cunningham, er werde um sechs eintreffen, schlenderte zum Auto zurück, bezahlte das Benzin und fuhr weiter. Cunningham war am Telefon mehr als herzlich gewesen. Jack dachte mit sich steigerndem Interesse an seinen Besuch. Es würde seit dreizehn Jahren die erste Nacht sein, die er in einem Privathaus verbrächte. Der Geschwindigkeitsmesser stieg bis auf sechzig. Cunningham hatte von Dinnergästen gesprochen. Er hatte nicht gesagt, wen sie erwarteten. Wahrscheinlich ein paar Ärzte und vielleicht deren Frauen. Ein törichter Gedanke. – Aber war es ausgeschlossen, daß Mrs. King und Miss Hilton zu den Geladenen gehörten? Audrey – ein hübscher Name! Die Straße ist gut. Fünfundsechzig. Achtundsechzig. Lan Ying. Ein reizender kleiner Spielzeugname – Lan Ying. Siebzig.