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Alle jene, deren Stimmungen vom Wetter abhingen, fühlten an diesem dritten Dezember tiefe Niedergeschlagenheit. Seit dem frühen Morgen goß es von dem tief herabhängenden bleigrauen Himmel in Strömen. Die langen Eiszapfen, die an den Eichen und Ulmen der Universitätsgründe als Schmuck gehangen hatten, waren zu winzigen Tropfenzählern geworden. Die Kamine spien rußigen Rauch in das Grau, und die Straßenlaternen waren bereits mittags angezündet worden und warfen gallengelbe Streifen über den nassen Asphalt.
Gegen zwei Uhr hatte sich ein launenhafter Sturm erhoben, der immer stärker und spätnachmittags zum Amokläufer wurde. Die Professoren rollten ihre Regenschirme vorsichtig zusammen, die Studenten hielten tollkühn ihre Schirme geöffnet, rissen sich das Hemd von den Rippen und forderten den Sturm heraus, ihnen noch härter zuzusetzen. Zischende Autoreifen spritzten Schlamm auf feuchte Hosenbeine und zarte Seidenstrümpfe.
Um drei Uhr fünfundvierzig wurden alle Semester entlassen, damit sie freiwillig einer außergewöhnlichen Vorlesung in der Aula der Medizinischen Fakultät beiwohnen konnten. Die Studenten der Medizin hatten Arbeit genug und vermieden es, sich noch eine weitere aufzubürden, die sie als Strafe empfanden. Um drei Uhr fünfundvierzig hätte man getrost eine Wette eingehen können, daß jene, die ein behagliches Zimmer besaßen, sich eiligst heimbegaben.
Dies zumindest sagte Tubby Forrester voraus. Nicht etwa, daß er den unfeinen Wunsch empfunden hätte, seinen alten Freund Cunningham gedemütigt zu sehen, aber es würde Bill guttun, die Unzuverlässigkeit der jungen Affen festzustellen, die ihm an einem schönen Oktobertag zugejubelt hatten. Bill Cunningham setzte zu großes Vertrauen in die Menschheit im allgemeinen und in die Studenten der Medizin im besonderen. Der Anblick der leeren Halle würde ihm eine nützliche Lehre erteilen, und er endlich erkennen, wie schwer ein Professor es hatte der diesen unverantwortlichen jungen Hohlköpfen etwas beibringen wollte, die nur davon träumten, weiße Kittel zu tragen und Doktor genannt zu werden.
In der letzten Zeit hatte Tubby mit Unruhe und Sorge die Kalenderblätter abgerissen. Als der Tag nahte, an dem Bill seine erste Vorlesung halten sollte, suchte er nach einem geeigneten Vorwand, um die Stadt zu verlassen. Wäre er nicht vor kurzem aus Wien und erst unlängst von einer Reise nach New York zurückgekehrt, er hätte einen triftigen Grund für seine Abwesenheit finden können. So jedoch lief er Gefahr, vom Kuratorium gefragt zu werden, ob er noch auf der Gehaltsliste der Universität stehe. Blieb er jedoch in der Stadt, so mußte er Bills Vorlesung beiwohnen. Er konnte es sich nicht leisten, kleinlicher Eifersucht bezichtigt zu werden. Freilich erfüllte ihn der Gedanke mit Grauen, auf der Plattform zu sitzen und Gastfreundschaft, Liebenswürdigkeit und Teilnahme zu heucheln, während Bill alle Dinge, für die er, Tubby, so leidenschaftlich kämpfte, mit Spott überschüttete. Wenn er daran auch nur dachte, kniff er die Augen und die Lippen zusammen und schauderte.
Als er am Morgen den Regen sah, fühlte er eine kleine Genugtuung. Der Weizen brauchte im Dezember viel Feuchtigkeit, dieser Guß sicherte eine gute Ernte. Die Farmer, die im Parlament saßen, würden die Anforderungen der Universität mit wohlwollenderen Augen betrachten. Gegen Nachmittag war das Wetter bereits so schlecht, daß Tubbys Stimmung sich zusehends besserte. Als die Zeit der Vorlesung näher rückte, war er zu Miss Romney beinahe liebenswürdig. Nur ein Narr würde durch Schlamm, Regen und Sturm zu einer Vorlesung gehen, die nicht obligatorisch war. Tubby war nahe daran, sich auf den Augenblick zu freuen, da Bill Cunningham einer Reihe leerer Sessel gegenüberstehen würde.
Präzis in seinen Gewohnheiten, wußte Tubby auf die Sekunde, wie lange er brauche, um zur Festhalle zu gelangen. Um drei Uhr zweiundfünfzig half Miss Romney ihm in den Regenmantel und reichte ihm den Regenschirm. Aus dem Seziersaal strömten Studenten auf den Korridor. Tubby beobachtete sie stirnrunzelnd: das sah den Faulpelzen ähnlich. Sie freuten sich wie Kinder über die Gelegenheit, die Arbeit zu schwänzen und heimzugehen.
Der die Treppen hinansteigende Zug spaltete sich und gab Tubby den Weg frei. Draußen jedoch, wo Regen und Dunkelheit mit jedem Kastenunterschied aufräumten, wurde der berühmte Neurologe von einem wimmelnden Schwarm Studenten, die nach der Aula strömten, gepufft und gestoßen. Er traute seinen Augen nicht. Am liebsten wäre er in sein Laboratorium zurückgegangen. Der Sturm konnte ihm als Entschuldigung dienen. – Konnte er es wirklich? Er widerstand der Versuchung, schritt steif weiter, kämpfte gegen den Wind an, ertrug die Püffe der Menge, erreichte die Hintertür der Festhalle, begrüßte Kollegen mit mürrischem Brummen, stieg die Treppe hinan und betrat die Plattform, wo die Mitglieder der Fakultät sich, je nach Rang, auf die Stühle niederließen. Sie machten ihm ehrfurchtsvoll Platz. Shane, der den Vorsitz führte, winkte ihm. In der vordersten Reihe standen vier Sessel. Tubby war der letzte. Neben ihm kam Shane zu sitzen. Auf der andern Seite der Plattform plauderte Cunningham mit Osgood. Als Tubby auf sie zutrat, stand Cunningham rasch auf und begrüßte ihn mit großer Herzlichkeit. Dann setzten sie sich, und Bill sprach weiter mit Osgood.
Shane beugte sich mit einem leichten Lächeln zu Tubby vor.
»Ein volles Haus«, meinte er. »Sehr erfreulich.«
Tubby kräuselte die Lippen und nickte. Es war tatsächlich ein volles Haus. Noch nie hatte sich bei einem derartigen Anlaß eine solche Menge eingefunden. Wenn ihn die Masse freute, so konnte Bill zufrieden sein. Aber man konnte ja auch eine Masse auf die Beine bringen, wenn man eine Hühnerstiege in Brand steckte. Und wollte man die Größe einer Stadt einschätzen, so genügte eine Hunderauferei.
Die festliche Halle war voll anscheinend festlich gestimmter Studenten. Stimmengewirr füllte den Raum. Das mißfiel Tubby, es klang nach einem Schulausflug, es war höchst würdelos. In seinem Vortragssaal nahmen die Studenten sich nicht soviel heraus. Tubby fühlte Ekel. Starkriechender Dampf entströmte dem Publikum – ein unangenehmer Geruch von feuchten Haaren, Schweiß, heißem Gummi, durchnäßtem Leder, Karbolsäure, Jodoform und Nikotin.
»Es ist hier sehr schlechte Luft, Shane«, brummte Tubby. »Lassen Sie einige Fenster öffnen.«
Shane, hocherfreut, dem Chef in einem Augenblick der Spannung und Gereiztheit zu Diensten sein zu können, beschloß, den Wunsch sofort zu erfüllen. Vielleicht würde Tubby milder gestimmt, wenn er das Gefühl hatte, daß man seine Befehle prompt ausführte. Er erhob sich und trat an das Vortragspult. Der Lärm verstummte mit einemmal, als sei eine Tür geschlossen worden. Die Zuhörer hoben aufmerksam die Köpfe.
»Es ist hier sehr schlechte Luft«, sagte Shane und hoffte, Tubby werde bemerken, daß er ihn wörtlich zitiere. »Wollen die Gentlemen, die an den Fenstern sitzen, etwas dagegen tun?«
Niemand rührte sich. Entweder waren keine Gentlemen anwesend (das war Tubbys Ansicht), oder aber ein jeder wartete darauf, daß der andere sich zum Fenster dränge, oder aber er fürchtete, es könnte auf ihn hereinregnen. Jedenfalls rührte sich niemand, einige grinsten nur. Nachdem er noch eine kurze Weile gewartet hatte, glaubte Shane seine Pflicht erfüllt zu haben. Er beschloß, die einleitenden Worte zu sprechen. Die große Zahl der Anwesenden, erklärte er, beweise die Herzlichkeit des Willkomms, den Dr. Cunningham verdiene. Diese Worte wurden mit einem so stürmischen Applaus begrüßt, daß Shane fand, er brauche nichts weiter hinzuzufügen und Bill könne beginnen. Er setzte sich. Cunningham verbeugte sich vor Shane und der Fakultät, stützte einen Ellbogen aufs Pult und sagte:
»Es ist hier tatsächlich schlechte Luft, meine Herren. Anscheinend stört Sie dies nicht. Mich auch nicht. Der Saal riecht wie eine Hundehütte, aber das erinnert mich an alte Zeiten. Ich gäbe viel darum, wieder in der alten Atmosphäre zu sein und meine Studententage von neuem durchleben zu dürfen.«
Aus irgendeinem Grund rief dies neuerlichen Beifall hervor. Cunningham mochte seine Zuhörer gern, er mochte sogar ihren Geruch. Sie wußten, daß seine Freundlichkeit ungeheuchelt war. Er gehörte zu ihnen. Sie hätten gegen alle Eindringlinge für ihn gekämpft.
Tubby fühlte sich abgestoßen, aber auch er wußte, wie ehrlich Bill es meinte. Er drehte seinen Sessel halb um und zeigte den Zuhörern ein ausdruckloses, wenngleich etwas gerötetes Profil. Seine Augen schweiften über die Mitglieder der Fakultät hinweg, von denen einige grinsten. Wahrscheinlich grinste auch Beaven. Er wandte sich abermals in Richtung der Kollegen und suchte Beaven. Seine Augen weiteten sich vor Staunen: Beaven war nicht zugegen.
Jack hatte Cunninghams Vorlesung völlig vergessen. Er war kurz nach drei in Tubbys Privatlaboratorium gegangen, und seither stand die Zeit still. Er hatte eine verblüffende Entdeckung gemacht, war aber keineswegs aufgeregt. Die Entdeckung hatte ihn betäubt, fast gelähmt. Er vermochte sich dieser neuen Idee noch nicht anzupassen.
In Hemdsärmeln, die weiße Mütze mit dem grünen Schild fest über das kurzgeschnittene Haar gezogen, ein Bein ums Stuhlbein geschlungen, saß Jack auf einem hohen Sessel, hielt die ausgegangene Pfeife im Mund und starrte verwirrt auf Celeste, die ihn mit vorwurfsvollen Augen ansah und von Zeit zu Zeit die Schultern zuckte. Sie schien eine Gefahr zu fürchten, Angst vor jeder Berührung zu haben. Sobald Jack eine Bewegung machte, zog sie sich mit gefletschten Zähnen ein wenig zurück. Ein Laie, der, die Tür öffnend, diese Szene verfolgt und einen jungen Wikinger in Hemdsärmeln und mit einer Arbeitsmütze auf dem Kopf beobachtet hätte, der mit einem unglücklichen Affen feierliche Blicke wechselte, würde nie geahnt haben, daß sich hier etwas Bedeutsames für die Geschichte der Medizin ereignete.
Beaven wurde alle paar Minuten von der verwirrenden Tatsache überwältigt, als schreie sie ihm zum erstenmal die Wahrheit ins Gesicht. Etwas in ihm sagte unaufhörlich: Warum sitzest du da wie eine Statue? Siehst du denn nicht, was du gefunden hast? Begreifst du nicht, was es bedeutet? Was wirst du tun? Warum läufst du nicht hinaus und erzählst es jemandem? –
Hätte es sich vor einigen Wochen ereignet, er wäre zu Tubby geeilt. Nun war es nicht möglich. Tubby würde kalt erklären, daß Dr. Beavens Arbeiten ihn augenblicklich nicht interessierten. Es würde Tubby Spaß machen, dies zu sagen und dann hinzuzufügen, daß er übrigens gerade sehr beschäftigt sei.
Nach einer Weile klopfte Jack die Pfeife aus und stopfte sie von neuem. Celeste sah ihn grimmig an. Die Sache war unglaublich, doch konnte kein Zweifel bestehen. Es war kein bloßer Zufall. Seit acht Tagen empfand Jack immer wieder ein unbehagliches Gefühl, wenn ihm einfiel, mit welcher Wut sein Chef die Mitteilung aufgenommen hätte, daß das Leben eines wertvollen Macacus Rhesus um eines idiotischen Experimentes willen aufs Spiel gesetzt werde.
Jeder Student des ersten Semesters, hätte Tubby gerufen, wußte, daß eine Rückenmarkpunktur, ausgeführt an dem elenden kleinen Slumgeschöpf Jenny Collins, das beim Wasserreservoir wohnte, und ins Rückenmark des empfindlichen brasilianischen Affen Celeste gespritzt, höchstwahrscheinlich nur ein Ergebnis zeitigen konnte: der Affe wird alle üblichen Stadien der Kinderlähmung durchmachen. Im letzten Stadium wird eine Lokalisierung des »Strep« möglich sein. (Nur daß Tubby nicht »Strep« gesagt hätte, sondern Streptokokkus, denn er verabscheute den Medizinerjargon und berufliche Abkürzungen.) Nachher wird es zu einer Schädigung kommen, wahrscheinlich zu einer in den unteren Extremitäten. Aber, würde Tubby erklärt haben, es wäre ein Eingeständnis der eigenen Idiotie, wollte man einen gesunden Affen opfern, um herauszufinden, ob die Schädigung sich bei der Muskulatur in der Gegend des rechten Ellenbogens zeigen werde. Und das alles nur, weil die Lähmung der kleinen Collins dort ihren Sitz hatte. Es wäre interessant, wenn Tubby jetzt hereinkäme, belustigend, sein Gesicht zu beobachten.
Seit der Impfung hatte Celeste, wie das zu erwarten war, fünf Tage lang hohes Fieber gehabt. Während des ersten Stadiums war sie abwechselnd unruhig und verschlafen gewesen, reizbar und mürrisch. Sie hatte die Nahrung verweigert und war zornig geworden, wenn man sich mit ihr befaßte. Dann war die Temperatur gesunken, Celestes Stimmung hatte sich gebessert, sie begann Nahrung zu sich zu nehmen. Das war alles in Ordnung, ein normaler Fall ohne besonderes Interesse, genau wie Jack es vorausgesagt hatte, den die Phänomene des ersten Stadiums nicht interessierten. Nun aber, am achten Tag, wartete er mit Spannung auf das, was geschehen konnte. Ein neues Stadium stand bevor. Wahrscheinlich, aber nicht bestimmt, würde die Lähmung sich einstellen. Wenn ja, so konnte sie sich überall lokalisieren.
Am Morgen hatte Jack Abbott von allen andern Verpflichtungen enthoben, damit dieser Celeste beobachte. Es war das erste Mal, daß Abbott gebeten worden war, Notizen über ein pathologisches Experiment zu machen, ohne zu wissen, worum es sich handelte. Jack hatte zwei gute Gründe, es ihm zu verschweigen. Erstens schämte er sich ein wenig, Abbott zu gestehen, worum es sich handelte, zweitens – und dies war wichtiger – wollte er durch keinerlei Andeutung Abbotts Urteil beeinflussen. Hätte er ihm gesagt: »Passen Sie auf, ob sich im rechten Vorderbein Schmerzempfindlichkeit zeigt«, so wäre es leicht möglich gewesen, daß Abbott sich dies einbilden würde. Das war das Unglück bei Experimenten. Man ging von einer Theorie aus und beachtete nur jene Symptome, die der Hypothese entsprachen. Diese Sophistik war nichts Besonderes, soweit sie sich auf Laboratoriumsforschungen bezog. Die Hälfte aller sogenannten Weisheit der Welt entsprang dieser vom Zufall abhängigen Technik. Man stellte zuerst die Schlußfolgerung auf, fing sich zwei Prämissen ein, spannte sie vor den Wagen, stieg auf und fuhr los – mit einem neuen Glauben an eine neue Diät, eine neue politische Wissenschaft, eine neue Theorie der Weltverbesserung.
Abbott sollte von zehn bis drei im Laboratorium bleiben. Nachher hatte er seinen klinischen Obliegenheiten nachzukommen. Er hatte es getan und seine Aufzeichnungen auf dem Tisch neben Celestes Käfig liegengelassen.
Beim Lesen der Notizen weiteten sich Jacks Augen. Sie hatten, Satz für Satz, folgenden Wortlaut:
»10 h vormittags: Sie hat sich das rechte Vorderbein geleckt. Nicht daran gebissen, als wolle sie sich flöhen, sondern als ob es sie schmerze und wund sei.
11 h vormittags: Sie beschäftigt sich noch immer mit dem rechten Vorderbein. Läßt sich nicht untersuchen. Ist äußerst reizbar.
Mittag: Sie versucht, sich auf das rechte Vorderbein zu stützen. Es gelingt ihr nicht. Sie ist sehr erschrocken.
1 h nachmittags: Eine Infektion scheint sich im rechten Vorderbein zu lokalisieren. Diese scheint die vom Ellenbogennerv bediente Muskulatur in Mitleidenschaft zu ziehen.
2 h nachmittags: Keine ausgesprochene Veränderung. Die gleiche Manifestation wie oben.
PS: Kein schöner Tag.
3 h nachmittags: Die Infektion scheint nun definitiv im ›pronator teres‹ lokalisiert zu sein.
PS: Ich gehe jetzt.«
Diese stündlichen Beobachtungen waren von einer großen, mit jeder Stunde wachsenden Wichtigkeit, aber erst die letzte Notiz bewies Jack, von welch ungeheurer Bedeutung Abbotts Feststellungen waren. Die ganze Sache war nun auf ein sehr kleines Gebiet beschränkt. Wahrscheinlich wird die kleine Jenny Collins ihren »pronator teres« nie mehr richtig gebrauchen können, und was das Buckley-Kind anbelangt, so war der ihre ein für allemal ausgeschaltet, was sie froh und dankbar machte, weil er nicht mehr schmerzte.
Selbstverständlich ließ der praktische Wert dieser merkwürdigen Entdeckung sich in diesem Augenblick noch nicht einmal ahnen. Eins jedoch stand absolut fest: Der Strep im städtischen Wasserwerk war von ganz besonderer Art. Von nun an wäre es ein Irrtum, von einem »poliomyelitis streptococcus« zu sprechen, als würde die Krankheit wie etwa Meningitis nur durch diese einzige Abart hervorgerufen. Sowohl der Mead-Bub als auch das Buckley- und das Collins-Mädchen waren an einem Strep erkrankt, der völlig individuelle Eigenarten aufwies. Die Frage, ob diese Feststellung von sofortigem praktischem Nutzen sein werde, ließ sich nur durch die Erfahrung beantworten, doch war beim Studium eines so komplizierten Problems wie das der Kinderlähmung jeder neue Faktor von großem Wert.
Jack empfand den Wunsch, seine Entdeckung sofort jemandem mitzuteilen. Er wünschte, Lan Ying verstünde genug von Pathologie, um die Wichtigkeit seiner Entdeckung zu begreifen. Vielleicht könnte er ihr darüber schreiben. Sie würde nicht sagen: »Das habe ich Ihnen ja schon immer gesagt«, nein, sie empfände eine ehrliche Freude darüber, daß das rein menschliche Interesse für das Problem des armen Buckley zu einer seltsamen Offenbarung im Laboratorium geführt hatte. Sie würde nicht glauben wollen, daß das Ganze auf einem Zufall beruhte. Lan Ying glaubte nicht an Zufälle. Derartige Offenbarungen würden einem Menschen von irgend jemandem, von irgendwoher gewährt. Sie waren ein Teil eines Planes.
Celeste wimmerte und schob die Unterlippe häßlich hoch.
»Es ist zu arg, alte Dame«, brummte Jack und bot ihr Wasser an, das sie mürrisch zurückstieß. »Ich weiß, es tut weh, aber du tust etwas für die Nachwelt, falls dir das zum Trost gereicht.«
Um halb sechs beschloß Jack, mit der Arbeit aufzuhören. Er zog das Hemd aus und ging zu der großen Porzellanwaschschüssel in der Ecke des Raumes, wo er sich einer gründlichen Reinigung unterzog. Nicht einmal Pathologen konnten es sich leisten, mit Polio zu spielen, und selbst dann nicht, wenn die Krankheit bereits ihr zweites Stadium erreicht hatte.
Das Telefon klingelte, und er ging an den Apparat.
»Beaven? Hier Cunningham.«
»Famos!« – Jack fiel plötzlich die versäumte Vorlesung ein, und er wurde verlegen. »Von wo sprechen Sie?«
»Von der Klinik. Ich habe eine Botschaft für Sie.«
»Danke. Ich komme sofort, bin in zehn Minuten bei Ihnen.«
Cunningham dämpfte die Stimme:
»Wenn es Ihnen recht ist, komme ich lieber zu Ihnen. Es ist eine Privatbotschaft.«
»Gut. Ich warte. Werden Sie den Weg finden?«
»Natürlich.«
Jack kleidete sich an. Eine Privatbotschaft? Was konnte Bill Cunningham ihm privat mitzuteilen haben? Etwas über Lan Ying? Oder über Tubby? Er öffnete die Tür.
Einige Sekunden später vernahm er im Seziersaal Schritte, und gleich darauf erschien im Türrahmen Cunninghams mächtige Gestalt. Er trug einen eleganten grauen Anzug, auf seinem Gesicht lag ein kameradschaftliches Lächeln. Sie schüttelten einander die Hand.
»Ich habe Sie vermißt«, sagte Cunningham mit neckendem Vorwurf. »Mußten Sie für Tubby eine schwierige Arbeit machen, damit jemand der reinen Wissenschaft diene, während anderswo der Sentimentalität freier Lauf gelassen wurde?«
»Um ganz aufrichtig zu sein«, antwortete Jack schuldbewußt, »ich hatte die Vorlesung völlig vergessen. Sobald Sie jedoch wissen, weshalb ich sie vergaß, werden Sie mir verzeihen.«
Cunningham klopfte Jack auf die Schulter. »Lassen Sie's gut sein. Ich kam her, um Ihnen zu sagen, daß Audrey Hilton hier ist. Ich dachte, Sie würden es gern wissen.«
Jacks Gesicht strahlte.
»Warum ist sie hier?« erkundigte er sich.
»Edith beschloß im letzten Augenblick, mich zu begleiten. Audrey war gerade zum Lunch bei uns. Edith fragte sie, ob sie nicht mitkommen wolle, sie könne ihr Gesellschaft leisten, während ich mit wissenschaftlichen Angelegenheiten beschäftigt bin. Audrey wollte anfangs nicht recht, aber Edith überredete sie.«
»Das – das ist herrlich«, stammelte Jack. »Danke.«
»Wissen Sie, es ist recht einsam für Audrey, und Edith meinte, eine Luftveränderung würde ihr guttun.«
»Ein glücklicher Gedanke, Sir.«
»Was haben Sie für heute abend vor? Könnten Sie mit uns im ›Livingstone‹ dinieren?«
»Und ob ich das könnte!« Jack strahlte vor Glückseligkeit.
»Um sieben.« Cunningham zog den Mantel an. »Shane wartet auf mich, um mich ins Hotel zu fahren.« Er blieb stehen und blickte in Celestes Käfig. »Was haben Sie da – außer einem kranken Affen?«
»Polio. Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Es hat sich etwas Merkwürdiges ereignet. Aus dem gleichen Stadtviertel wurden drei Fälle von Polio eingeliefert. Bei allen dreien stellte sich eine Lähmung im rechten Arm ein. Ich ahnte, daß die Ursache infiziertes Wasser sei, machte bei dem einen Fall eine Rückenmarkpunktur und spritzte es dem Affen ein. Schauen Sie sich ihn an.«
Celeste hielt sich den rechten Ellenbogen und wimmerte. Cunningham legte seinen Hut auf den Tisch und betrachtete das Tier lange. Dann reckte er sich auf, starrte Jack verwirrt an und sagte fast unhörbar: »Das glauben Sie doch nicht? Das widerspricht aller Vernunft.«
»Das tut es eben nicht, Bill.« Jack bemerkte gar nicht, daß er Cunningham zum erstenmal »Bill« genannt hatte. »Das Überraschendste daran ist, daß es nicht der Vernunft widerspricht. Ich will es Ihnen zeigen. Es dauert nur eine Minute. Sehen Sie sich die Krankengeschichten an.«
Sie traten an das hohe Pult, und Jack breitete drei Papierstöße vor Cunningham aus.
»Wir wollen in jedem dieser Fälle uns ausschließlich mit jenem Stadium befassen, da die Lähmung sich lokalisiert hat. Hier ist der erste.«
Zehn Minuten vergingen, fünfzehn, zwanzig. Cunningham las weiter. Das Telefon klingelte. Shanes Stimme fragte: »Ist Dr. Cunningham jetzt bereit, heimzufahren?«
»Gleich, Sir.« Jack hielt die Hand über den Hörer. »Dr. Shane. Soll ich ihn bitten, noch zu warten?«
»Wie? Was?« Cunninghams Frage schien aus weiter Ferne zu kommen. Jack wiederholte seine Worte.
»Er soll ohne mich fahren«, brummte Cunningham und griff nach der dritten Anamnese.
»Ziehen Sie den Mantel aus«, riet Jack. »Es ist hier heiß. Celeste mag keine Zugluft.« Er legte die Hand auf Cunninghams Mantelkragen, und Bill hob nicht einmal die Augen vom Papier, während Jack ihm den Mantel auszog. Um sieben Uhr klingelte des Telefon abermals: der Hotelportier sagte, Mrs. Cunningham frage nach ihrem Mann. Ob er bei Dr. Beaven sei? Cunningham ging an den Apparat.
»Verzeih die Verspätung, Liebste«, sagte er. »Ich bin bei Jack Beaven. Wir kommen in einer halben Stunde.«
Jack hörte Edith fragen: »Was hat dich so lange aufgehalten? Du mußt todmüde sein. Ist etwas geschehen?«
»Nein, nichts Beunruhigendes. Aber etwas äußerst Wichtiges. Beaven hat gerade eine neue Sache bei Polio entdeckt, die alle bisherige Literatur über dieses Thema ins Museum verbannen wird.«
»Was sagt Forrester dazu?« fragte Cunningham und kehrte zum Pult zurück.
»Ich sagte ihm davon noch nichts«, gestand Jack mit gesenkten Augen.
»Sie sagten ihm davon nichts?«
Jack schüttelte den Kopf.
»Tubby weigert sich, mit mir etwas zu tun zu haben. Er ignoriert meine Existenz. Ich glaube, er wartet auf eine günstige Gelegenheit, mich hinauswerfen zu lassen.«
»Hat es zwischen Ihnen etwas gegeben?«
»Es …« Jack zögerte einen Augenblick, die Details ihres Streites preiszugeben. »Nichts Neues. Es hat sich eben alles angehäuft und in der letzten Zeit seinen Höhepunkt erreicht. Tubby hat den Wurm so lange getreten, bis er ihn gebissen hat.«
Cunningham nickte und meinte, er begreife den Wurm.
»Aber«, sagte er dann unvermittelt, »Sie können Tubby bei dieser Sache nicht gut ausschalten. Sie müssen es ihm sagen. Sonst brechen Sie ihm das Herz.«
»Herz?« wiederholte Jack bitter.
»Freilich. Tubby hat ein Herz – das ist ja das Unglück. Er kämpft seit Jahren gegen sein Herz an. Das stammt noch aus der Zeit, da er seinen Schatz verloren hatte, durch einen erschreckenden Fall von Unfähigkeit eines Arztes, der sich auf alles verstand außer auf Medizin und Chirurgie. Seither ist er so. Jede berufliche Unfähigkeit in der Medizin treibt ihn zum Wahnsinn, und deshalb betrachtet er es als sein Lebenswerk, Wissenschaftler heranzuziehen. Und deshalb wurde er auch zum Sklaventreiber. In Wirklichkeit jedoch ist Tubby ein weichherziger Mensch. Man muß ihn nur gut kennen.«
»Wie lange braucht man dazu?« fragte Jack trocken. »Ich bin seit neun Jahren fast ununterbrochen mit ihm zusammen. Nein, Sir, ich setze mich keiner weiteren Beleidigung durch Tubby Forrester aus. Er hat mir erklärt, ich und meine Arbeit interessieren ihn nicht mehr. Lassen wir's dabei bewenden. Wird er über dieses Polio zuerst in den medizinischen Zeitungen lesen, so ist das seine Schuld.«
Cunningham legte Jack die Hand auf die Schulter und blickte ihm gerade in die Augen.
»An Ihrer Stelle würde ich Tubby das nicht antun. Sein ganzes Leben dreht sich um seinen beruflichen Ehrgeiz, um seine Reputation als Wissenschaftler. Machen Sie ihn nicht lächerlich, es würde ihn töten.«
»Das wäre sehr gesund für ihn. Hol' ihn der Teufel!«
Sie standen bereits an der Laboratoriumstür. Jack klimperte ungeduldig mit seinen Schlüsseln. Er wollte die unangenehme Aussprache abkürzen.
»Ihre Feindseligkeit sitzt recht tief, mein Junge«, warnte Cunningham. »Schneiden Sie sie heraus, ehe sie bösartig wird.«
»Was verstehen Sie unter ›bösartig‹?« brummte Jack.
»Feindseligkeit ist wie ein parasitäres Gewächs. Sie macht ungefähr die gleichen Stadien durch – im ersten ist sie meist gutartig: die Operation ist einfach, sicher, erfolgreich; frißt sie sich tiefer ein, so ist sie nicht mehr zu operieren.«
»Ein etwas phantastischer Vergleich.«
»Kein Vergleich, sondern eine solide wissenschaftliche Tatsache. Ein unheilbarer Haß ist eine bösartige Krankheit. Ich litte ebensogern an einem nicht operierbaren Krebs.«
»Wollen wir gehen?« fragte Jack nervös.
»Ja. Nur noch eins, dann lasse ich das Thema fallen. Sie wissen wahrscheinlich besser als ich, welche Rolle die Drüsen mit innerer Sekretion bei unserer Stimmung und dem aus dieser sich ergebenden Verhalten spielen. Die plötzliche Erkenntnis der Gefahr läßt eine Sekretion in unsern Blutkreislauf einfließen, die sowohl als Stimulans als auch als adstringierendes Mittel dient. Das erweist sich als sehr nützlich beim Kampf oder bei der Flucht. Wird jedoch dieses Gefühl der Angst oder des Zornes zu sehr verlängert, so verändert die unentwegte Drüsensekretion den Charakter eines Menschen. Sie macht ihn hinterlistig, mißtrauisch, asozial. Das glauben auch Sie, nicht wahr?«
»Ja, Sir«, gab Jack zu. »Das ist eine Tatsache. Aber …«
»Und es ist auch, wie Sie genau wissen, eine Tatsache, daß eine wilde Empörung ähnliche Sekretionen in den Blutkreislauf einführt, nur daß diese stärker stimulierend und weniger adstringent wirken. Sie steifen die Fibern eines Menschen, der seine Rechte, seine Selbstachtung verteidigt. Verwandelt sich jedoch diese Empörung in eine permanente Feindseligkeit, so ist das Ergebnis ungefähr das gleiche wie bei einer länger währenden Angst.«
»Das ist doch hoffentlich nicht auf mich gemünzt, Sir?« meinte Jack ironisch.
»Nein, noch nicht.« Cunningham war ernst geworden. »Ich wollte Sie nur an diese Tatsachen erinnern.« Aus seiner Stimme klang eine herzliche Bitte. »Nehmen Sie's mir nicht übel, Jack, aber Ihr Wohl liegt mir sehr am Herzen. Das glauben Sie mir doch, nicht wahr?«
Nach einem Augenblick gedankenvollen Schweigens wurde Jacks Gesicht heller.
»Ja, Bill«, sagte er warm, »ich weiß es. Und – danke für den Tip. Es tut mir leid, daß ich so lange brauchte, um ihn zu kapieren. Kommen Sie. Wir wollen gehen.«
Sie eilten zu der schlammigen dunklen Parkstelle hinunter und stiegen in Jacks Auto. Als sie die Livingstone-Garage erreichten, waren beide guter Laune. Jack freute sich auf das Wiedersehen mit Lan Ying, und Cunningham genoß die Erinnerung an den Empfang, den ihm seine Zuhörer beschert hatten. Es drängte ihn, Edith davon zu erzählen.
Die beiden Frauen erwarteten sie in der Hotelhalle.
»Höchste Zeit«, meinte Edith in mütterlichem Ton und reichte jedem eine Hand.
»Es ist meine Schuld«, gab Jack leichtherzig zu und beeilte sich, Audrey zu begrüßen.
»Ich bin so froh, dich zu sehen, Liebste.« Er drückte ihr beide Hände.
»Die Cunninghams wollten unbedingt, daß ich mitkomme«, erklärte sie leise. »Hoffentlich falle ich dir nicht lästig. Ich weiß ja, wieviel du zu tun hast, Jack.«
Edith und Bill traten Arm in Arm zu ihnen.
»Haben Sie je etwas Schöneres gesehen als unsere Audrey in dem korallenfarbenen Kleid, Jack?« fragte Edith herausfordernd.
»Herrlich!« rief Jack. Dann erinnerte er sich an seine Manieren und fügte hinzu:
»Ihr schwarzes Samtkleid ist wundervoll.«
»Ja, nicht wahr? Es steht ihr gut?« sagte Cunningham galant.
Edith machte eine wegwerfende Gebärde.
»Einer Frau, der Schwarz nicht steht, steht überhaupt nichts. – Komm, Audrey, laß uns die Bestien füttern, solange sie noch guter Laune sind.«
Sie und Bill schritten in den Speisesaal. Der Oberkellner, der sie kommen sah, schob für die Damen zwei Sessel zurecht. Edith ignorierte mit schelmischem Lächeln den ihr zugedachten. »Ich will nicht Bill gegenüber sitzen«, erklärte sie. »Das ist mir zu weit weg. Ich habe ihn so lange nicht gesehen.« Sie zwinkerte Jack bedeutsam zu. Ihr Mann bemerkte es und drohte: »Das nächste Mal lass' ich dich daheim.«
Audrey, die sich nicht gern necken ließ, legte die kleine Hand mit der Fläche nach oben neben Jack, der sofort auf ihre Stimmung einging, ihre Hand in die seine nahm und ihr lächelnd in die Augen blickte. Edith und Bill folgten mit stummer Belustigung der kleinen Szene.
»Sehr gut gemacht«, lobte Cunningham. »Das war eure Runde.«
»Pah!« meinte Edith. »Was für einen Sinn hat es, sich auf dem Tisch bei der Hand zu halten?«
Anscheinend waren die andern bereit, das Spiel zu Ende zu führen. Edith sagte »Bravo!«, da Jack Audreys Hand kühn unter den Tisch zog. Im nächsten Augenblick verschwand Ediths Lächeln: auf Audreys Gesicht erschien eine plötzliche Veränderung. Ihr ausdrucksvoller kleiner Mund öffnete sich zu einem unhörbaren »Oh!« Dann wandte sie die Augen langsam Jack zu und lächelte weich und wehmütig. Sein Gesicht war ernst, in seinen Augen lag eine stumme Bitte. Bill und Edith hielten den Atem an. Jack und Audrey schienen nicht zu bemerken, daß sie beobachtet wurden. Sie wähnten sich allein auf der Welt.
»Ja?« flüsterte Jack.
»Ja«, gab Audrey ebenso leise zurück.
Jack stieß einen langen Seufzer aus.
»Also – was in aller Welt geschieht dort unten?« platzte Cunningham heraus.
Audrey drückte mit strahlendem Gesicht ihre Finger an die Lippen und hielt dann die Hand über den Tisch.
»Wie wundervoll!« sagte Edith. »Bill, die beiden sind verlobt! Schau doch! Und uns haben sie nichts gesagt!«
»Wann ist das geschehen?« fragte Cunningham und hielt Audreys Finger mit dem Ring gegen das Licht.
Audrey blickte Jack an; beide lachten etwas verwirrt.
»In diesem Augenblick«, antwortete Jack.
»Jack macht manchmal so komische Dinge«, sagte Audrey. »Nicht wahr?«
»Das will ich meinen!« erwiderte Edith.
Cunningham ließ die beringte Hand endlich los.
»Wollen Sie behaupten, Jack, daß Sie wirklich den Mut hatten, einen Verlobungsring zu kaufen und diesen in einem Hotelspeisesaal einem Mädchen anzustecken, ohne zu wissen, ob es damit einverstanden ist?«
»Ganz so arg war es wieder nicht«, meinte Audrey.
»Engel!« sagte Jack.
Cunningham brummte, der Teufel möge ihn holen, setzte den Zwicker auf und griff rasch nach der Speisekarte, denn der Kellner hatte bereits hörbar geseufzt.
»Mich auch!« fügte Edith hinzu. »Der Teufel wird meinen William und mich holen. Und da wir angesichts dieser Katastrophe dennoch etwas essen müssen, entscheide ich mich für Pilzsuppe.« Sie wandte sich an Jack. »Was Sie wählen, mein Sohn, ist einerlei. Ihnen wird alles wie Ambrosia munden.«
Das Dinner wurde bestellt und, mit vielen Unterbrechungen, verzehrt. Dr. Cunningham berichtete, um die Spannung zu lockern, auf humoristische Weise, wie er und Edith sich verlobt hatten. Edith hatte ihm das erste Mal einen Korb gegeben, ihn dann an einem Weihnachtsabend zu einem Spaziergang in den Park verführt, auf eine verschneite Bank gelockt, ihm einen Heiratsantrag gemacht, ihn abgeküßt (»Wie schade, daß in diesem Speisesaal so viele Menschen sind!«) und der Familie die Verlobung mitgeteilt, ehe er seiner Sinne wieder mächtig war.
Diese Geschichte interessierte zwar die Cunninghams, übte aber nicht die geringste Wirkung auf Audrey und Jack aus. Die beiden lebten in einer abgesonderten rosigen Welt, die ihr eigenes Licht besaß und von keinem andern Stern erhellt zu werden brauchte.
»Edith«, sagte Dr. Cunningham und zwinkerte seiner Frau zu. »Hast du gemerkt, daß alle Kellner auf den Händen gehen?«
(»Liebste Audrey, warum haben wir so viel kostbare Zeit verloren?«)
»Ja, Bill. Und das Dach stürzt auch ein.«
(»O Jack, ich liebe dich!«)
»Das Erdbeben wird stärker, Bill.«
(»Der Ring paßt dir doch, nicht wahr, Liebling?«)
»Dr. Cunningham, wir beide sind die überflüssigsten Menschen auf der ganzen Welt.«
(»Ja, er paßt ganz genau, ganz genau.«)
»Tut nichts, Mrs. Cunningham, wir haben immer noch einander.«
(»Liebste! Liebste!«)
Als das Dessert gereicht und der Kaffee serviert war, fand Cunningham, es sei ratsam und an der Zeit, die Liebenden auf die Erde zurückzurufen. Er steckte den Zwicker ein und sagte: »Das war heute ein ereignisvoller Tag für Dr. John Wesley Beaven. Er hat sich verlobt und außerdem noch eine sensationelle Entdeckung gemacht. Ihr müßt jetzt von dem Polio-Experiment hören, Edith und Audrey.«
Er begann zu erzählen, wählte, soweit dies möglich war, laienhafte Ausdrücke, erklärte schwierige pathologische Stadien. Als er verstummte, wandte Audrey sich an Jack:
»Wie hast du entdeckt, daß es vom schlechten Wasser kam?«
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete er abwehrend.
»Bitte erzählen!« bat Edith.
Er berichtete von Thomas Buckleys Geständnis, über die dramatische Unterredung, die Buckley veranlaßt hatte, von dem gestohlenen Rohr zu sprechen, erklärte den Fortgang der Geschichte und schloß mit den Worten: »Jetzt wißt ihr genausoviel wie ich.«
»Was werden Sie unternehmen, Jack?« fragte Edith besorgt. »Sie haben hier mit gewissenlosen Menschen zu tun. Seien Sie vorsichtig.«
»Selbstverständlich – soweit Vorsicht nicht die richtige Behandlung dieser Fälle verhindert. In dem Bezirk ist ein Bub, der unbedingt in die Klinik gehört.«
»Das geht doch das städtische Gesundheitsamt an, nicht wahr?« erkundigte sich Bill.
»Für gewöhnlich, ja. Gelingt es mir nicht, das Mead-Kind in die Klinik zu bekommen, so werde ich mich an die Behörden wenden müssen. Die Meads sollen merkwürdige Leute sein. Ich möchte, wenn es irgendwie geht, Buckley vor dem Zuchthaus bewahren. Er ist zwar kein besonders sympathischer Mensch, doch ist ihm Unrecht geschehen.«
»Wenn das Gesundheitsamt die Sache in die Hand nimmt, werden Sie den Rohrdiebstahl und das Ableiten des Wassers melden müssen?« fragte Edith.
»Wenn eine Untersuchung eingeleitet wird, so wird das Amt es ohnehin herausfinden«, meinte Bill.
»Dann werden die Leute glauben, daß Sie sie angezeigt haben«, sagte Edith. »Eine gefährliche Sache.«
»Darum kann ich mich nicht kümmern«, erwiderte Jack. »Läßt es sich machen, ohne daß ich den Diebstahl enthülle, um so besser. Wenn nicht, so werde ich es eben dennoch tun müssen.«
»Wir möchten nicht, daß Jack etwas zustößt, nicht wahr, Audrey?« meinte Edith.
Jack wartete gespannt auf die Antwort. Sie hatte sich bisher nicht an dem Gespräch beteiligt. Er staunte, da er in ihr strahlendes Gesicht blickte.
»Nein, das möchten wir nicht«, erklärte sie nach einer kurzen Pause. »Aber wir sind sehr stolz auf ihn, nicht wahr?«
Jack errötete vor Befriedigung und Verlegenheit.
»Ich hoffe nur«, sagte er lässig, »daß ich die Sache in Ordnung bringen kann, ohne den Helden spielen zu müssen.«
Sie hatten den Kaffee getrunken und schickten sich gerade an, den Speisesaal zu verlassen, als eine Gesellschaft von zwölf Männern hereinkam und sich an einen reservierten Tisch setzte.
»Das Kuratorium«, flüsterte Jack. »Heute ist die Montagssitzung.«
»Tubby ist auch dabei«, sagte Bill.
»Er hat uns bemerkt«, warf Edith ein. »Hat uns angeschaut und ein unglückliches Gesicht gemacht. Er hätte wirklich an unsern Tisch kommen und guten Abend sagen können, der alte Grobian.«
»Er kam nicht, weil ich hier bin«, sagte Jack.
Tags darauf, während Cunningham an den Krankenbetten seine Vorlesungen hielt, suchte Jack die Meads auf. Er versuchte sie zur Vernunft zu bringen. Gestatteten sie, daß Donald in die Klinik eingeliefert oder zumindest daheim von einem Arzt behandelt würde, so wäre es vielleicht gar nicht notwendig, das Gesundheitsamt für den Fall zu interessieren, und die peinlichen Komplikationen könnten vermieden werden.
Die Meads zeigten sich starrköpfig. Sie gehörten einer kleinen Sekte an, die verbot, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wohl hatten sie, unter dem Druck der Nachbarschaft, Donald vor einigen Wochen widerwillig in die Klinik gebracht, doch behaupteten sie nun voll Reue, daß der gelähmte Arm des kleinen Buben Gottes Strafe für ihren Mangel an Glauben sei. – Alles, was geschieht, erklärte die fanatische Mrs. Mead, sei Gottes Wille, und das beziehe sich auch auf die Kinderlähmung. (»Falls Donald an dieser erkrankt sei.«) In Wirklichkeit aber sei der Junge deshalb krank, weil die Familie auf irgendeine Weise Gott erzürnt habe. Mr. Mead fügte hinzu, er und seine Frau beteten täglich zu Gott, daß er sein Angesicht wieder über ihnen leuchten lasse und dadurch Donalds lahmer Arm wieder heil werde. Sie meinten auch, es wäre für Dr. Beaven ratsam, Gott zu suchen, solange es noch Tag sei, schienen aber nicht recht an den Erfolg dieses Suchens zu glauben, da es den Anschein habe, als hätte Dr. Beaven durch seine Sünden die Stunde der Gnade versäumt.
Jack hatte aus verschiedenen Gründen nicht die geringste Lust, die Wasserwerksangelegenheit bekanntzumachen. Er erklärte ruhig, daß Donalds Zustand vollkommene Ruhe, gute Nahrung und eine sorgfältige Pflege erfordere, die er nur im Spital bekommen könne. Dafür seien Spitäler da. Und nichts sei schädlicher für den Buben als der Versuch, den kranken Arm immer wieder zu bewegen. Auf diese Weise könne er unmöglich gesund werden.
Einen Augenblick schien es, als machten Jacks Worte auf die Familie Eindruck. Die Meads lauschten mürrisch. Als Jack jedoch verstummte, weil er der Ansicht war, sie würden jetzt ihre Einwilligung geben, erklärte Mrs. Mead gelassen, aber energisch, Donalds Fall gehe Dr. Beaven gar nichts an. Sie hätten ihn nicht um Rat gebeten, er solle zu seiner sündhaften Einmischung in Gottes Ratschlüsse zurückkehren, die wahren Gläubigen aber in Ruhe lassen.
Jack stand auf und sagte: »Nach Ihrem Verhalten bleibt mir nichts anderes übrig, als Dr. Yarnell, den Beamten des Gesundheitsamtes, über die Sachlage zu informieren. Sobald dies geschehen ist, trägt er für alles die Verantwortung. Gelingt es Ihnen, ihn zu überreden, Donald daheim zu lassen, so werde ich mich um nichts mehr kümmern, besteht er aber darauf, daß Donald ärztlich zu behandeln ist, so müssen Sie sich seinem Befehl fügen.«
»Wir erkennen nur Gottes Befehle an«, antwortete Mr. Mead leidenschaftlich.
»Ich glaube, Dr. Yarnell wird diesen Standpunkt nicht zu würdigen wissen«, erklärte Jack, mühsam bestrebt, seinen Zorn zu beherrschen.
Als er kurz nach fünf Uhr in die Klinik kam, rief er Dr. Yarnell an und meldete ihm den Fall, ohne jedoch das verseuchte Wasser und dessen unerlaubte Ableitung zu erwähnen. Die Hauptsache war, daß Donald behandelt wurde. Buckley hatte versprochen, das Wasser zu sperren. Die Nachbarschaft wird eben wieder den alten Brunnen benützen müssen.
Der junge Yarnell, dem viel daran lag, auf ein Mitglied der Medizinischen Fakultät einen guten Eindruck zu machen, verlor keine Zeit. Er lieferte in großer Eile Donald in die Klinik ein, rannte in der ganzen Nachbarschaft herum und begegnete unterwegs zwei Reportern. Die Geschichte konnte der späten Stunde wegen nicht mehr im Abendblatt gebracht werden, dafür aber in den Acht-Uhr-Nachrichten des Rundfunks. In einem Nachbarviertel, in der Nähe der Wasserwerke, seien einige Fälle von Kinderlähmung vorgekommen. Ursache unbekannt. Das städtische Gesundheitsamt leite eine umfassende Untersuchung ein, um den Grund der Epidemie festzustellen.
Jack erfuhr von alledem nichts. Nachdem er Yarnell die Meldung erstattet hatte, fühlte er, daß er seine Pflicht getan habe. Er dachte nicht weiter an den Fall. Für den Abend hatte er die Cunninghams und Audrey in seine Wohnung geladen. Das Essen wurde von einem Restaurant geliefert.
Als Jack um sechs Uhr dreißig heimkam, stellte er befriedigt fest, daß die Vorbereitungen für das Dinner in guten Händen lagen. Er schritt durch die Zimmer, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei. Heute würde Lan Ying sein Heim bestimmt mit anderen Augen betrachten. Vielleicht las er in ihren Augen den Wunsch, dies oder jenes zu ändern. Andrerseits war es möglich, daß sie lieber alles beim alten lassen werde. Vielleicht aber wäre es gut, den ganzen alten Kram erbarmungslos fortzufegen und Lan Ying die Freude zu machen, das neue Heim von Grund aus nach ihrem Geschmack einzurichten. Wie es auch sein mochte, jedenfalls wollten sie hier ihr gemeinsames Leben beginnen und Pläne für die Zukunft schmieden.
Die Gäste trafen um sieben ein und wurden in das Schlafzimmer geführt, um ihre Mäntel abzulegen. Jack und Bill begaben sich ins Wohnzimmer, und nach wenigen Minuten erschien Edith.
»Audrey«, sagte sie nebenbei, »kann ihre Galoschen nicht ausziehen. Das ist Männerarbeit.«
»Freilich«, erklärte Jack. »Ich werde ihr helfen.«
Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, nahm Cunningham seine Frau beim Kinn und blickte ihr mit gespielter Strenge in die Augen.
»Du bist eine kleine Lügnerin, Audrey hat doch gar keine Galoschen angehabt.«
»Sie hätte sie aber anziehen sollen«, gab Edith zurück. »Ich sagte es ihr.«
»Und mit welcher erfundenen Geschichte hast du sie bewogen, im andern Zimmer zu bleiben?«
Edith trat an den Bücherschrank, und Cunningham folgte ihr.
»Das geht Sie gar nichts an, Dr. Cunningham«, erklärte Edith lässig. »Da ich jedoch weiß, was der neugierigen Katze zugestoßen ist, werde ich es Ihnen sagen: Ich sagte ihr einfach, daß Jack mit ihr unter vier Augen sprechen möchte.«
Cunningham nickte und meinte, dies werde sogar der Wahrheit entsprechen. Einige Minuten nachher blickte er auf die Uhr und fragte: »Glaubst du, sie werden bald kommen, oder sollen wir mit dem Dinner beginnen?«
Endlich kamen die beiden. Sie machten betont unschuldige Gesichter und sprachen gleichzeitig.
»Nehmen Sie doch Platz«, forderte Jack mit übertriebener Herzlichkeit auf. »Ich bat auch Audrey, sie möge sich hier ganz wie zu Hause fühlen.«
Edith zog mit der Miene einer sorgsamen Mutter das Taschentuch aus Jacks Brusttasche und wischte einen kleinen weißen Puderfleck von seinem Rock. »Sie scheint dies getan zu haben«, flüsterte sie wissend.
»Edith«, erklärte ihr Mann streng, »du bist unausstehlich.« –
Sie wurden zum Essen gebeten und begaben sich in das kleine Speisezimmer. Audrey erblickte auf ihrem Platz eine winzige Glasglocke. Auch die Cunninghams bemerkten sie und lächelten.
»Wenn ich die Hausfrau spielen soll, Jack«, sagte Audrey, »darf ich Dr. Cunningham bitten, das Tischgebet zu sprechen?«
»Bitte«, entgegnete Jack. Es würde interessant sein, noch einmal Cunninghams Latein zu hören.
Cunningham zögerte einen Augenblick und sagte dann mit ausdrucksvoller Stimme:
»Gott segne dieses neue Heim. Amen.«
Alle schwiegen eine kurze Weile. Schließlich erklärte Edith ernst: »Sie werden jetzt bald legal verheiratet sein, doch kommt es mir vor, als habe Bill Sie eben jetzt getraut.«
»Sie sind beide so gut zu uns«, flüsterte Audrey.
Als sie um neun Uhr wieder im Wohnzimmer saßen, klingelte das Telefon, und Jack vernahm Thomas Buckleys erschrockene Stimme.
»Es ist herausgekommen, Doktor!«
»Was ist herausgekommen?«
»Dieser junge Schnüffler Yarnell hat es aus Collins herausgeholt. Nachher hat er dann noch mit dem alten Bowers gesprochen. Zum Glück wußten beide nicht, daß das Rohr gestohlen war. Das zumindest ist nicht verraten worden. Nachher fragte Yarnell meine Frau, was sie von der Sache wisse, und sie sagte, ich habe beim Installieren geholfen. Und sie hat auch die Sache mit Billows erzählt. Vor einer Stunde wurde es im Radio durchgegeben. Billows wird sich aus dem Staub machen, aber er ist ein gemeiner Kerl und wird den Verrat heimzahlen. Was soll ich tun?«
»Im Augenblick überhaupt nichts«, antwortete Jack. »Vor allem aber nicht weglaufen. Das käme einem Geständnis gleich, und Sie sind ohnehin arg genug daran, verschlechtern Sie Ihre Lage nicht, indem Sie nicht Antwort stehen wollen. Morgen werden wir, Sie und ich, zu Dr. Yarnell gehen, und ich werde ihm sagen, daß Sie mir alles gestanden hatten.«
»Gut, aber auch Sie sind in die Sache verwickelt, Doktor.« Buckleys Stimme verriet ehrliche Besorgnis.
»Ja, es ist peinlich, aber ich werde Sie nicht im Stich lassen. Kommen Sie morgen gleich früh ins Laboratorium, und wir werden die Sache besprechen.«
Nachdem Jack den Hörer zurückgehängt hatte, blieb er noch einen Augenblick am Schreibtisch sitzen und überlegte. – Vielleicht konnte Cunningham ihm einen guten Rat geben. Er stand auf und setzte sich neben Audrey auf das Sofa. Die andern hatten merken müssen, daß er eine beunruhigende Nachricht erhalten habe.
»Die Sache mit dem illegalen Ableiten des Wassers wird jetzt bereits allgemein bekannt sein«, sagte Jack. »Wir brauchen uns daher nicht länger den Kopf zu zerbrechen, ob wir es melden sollen oder nicht. Es wurde bereits im Radio durchgegeben. Dr. Yarnell hat es herausgeschnüffelt und ahnt, das infizierte Wasser habe die Polio-Fälle verursacht, doch weiß er nicht, daß das Rohr gestohlen war. Buckley hat eine tödliche Angst, daß sein fragwürdiger Freund Billows, der in Detroit lebt, annehmen könnte, daß der Diebstahl ebenfalls bekanntgeworden sei. Er fürchtet, Billows, der ein hitzköpfiger und verantwortungsloser Mensch ist, werde herkommen, ehe die Polizei ihn festgenommen hat, und es seinen einstigen Nachbarn heimzahlen. Ich sagte Buckley, daß ich morgen mit ihm zusammenkommen und versuchen werde, seine Angelegenheit beim Gesundheitsamt zu regeln.«
»Gut, aber das nützt nichts gegen den Rowdy aus Detroit«, meinte Cunningham. »Falls dieser Billows erfährt, daß Buckley Kronzeuge ist, hätte er einen Grund mehr, sich zu rächen.«
»Ist Ihr Name im Radio erwähnt worden?« fragte Edith.
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht.«
»Hoffentlich gelingt es Ihnen, nicht in diese schmutzige Geschichte verwickelt zu werden, Jack«, sagte Edith besorgt.
»Er muß für den armen Teufel Buckley eintreten«, erklärte Cunningham. »Schließlich hat Buckley es ihm ermöglicht, das Polio-Experiment zu machen.«
»Das finde auch ich«, flüsterte Audrey.
Jack suchte ihre Hand. Audrey liebte Ruhe und Stille, aber sie war nicht feige. Seine Liebe zu ihr wurde noch inniger. Eine solche Frau wird, das fühlte er, alle moralischen Kräfte eines Mannes stärken.
Am folgenden Morgen wartete Jack vergeblich auf Buckley. Als er um vier Uhr nachmittags noch immer ohne Nachricht von ihm war, beschloß er, den Mann aufzusuchen, um zu erfahren, wie es um die Angelegenheit bestellt sei.
Frau Buckley war allein in der Wohnung und sehr besorgt, daß Thomas etwas zugestoßen sein könnte. Er war am Abend gegen zehn Uhr dreißig, als sie bereits zu Bett lag, heimgekommen. Im Halbschlaf hatte sie gesehen, daß er lange in einer Zeitung las. Gegen zwei war sie aufgewacht, und da er nicht neben ihr lag, war sie ins Wohnzimmer gegangen, um nach ihm zu schauen. Aber auch dort war er nicht.
»Nein«, antwortete sie, da Jack sich erkundigte, ob Thomas nachts auszugehen pflege. Um diese Zeit hätte er nirgends hinzugehen. Selbstverständlich mache er sich Sorgen. »Hätte es nicht geregnet, so würde ich an einen Spaziergang gedacht haben. Ich habe große Angst um ihn, Doktor, und fürchte, daß ihm etwas zugestoßen sein könnte.«
»Falls Thomas Ursache hatte, fortzulaufen, wohin mag er geflohen sein?« fragte Jack. Mrs. Buckley kräuselte mißtrauisch die schmalen Lippen.
»Er hatte keine Ursache fortzulaufen. Zumindest weiß ich nichts davon«, entgegnete sie.
Jack glaubte ihr. Sie war zuwenig orientiert, um lügen zu können. Thomas hatte mit ihr weder über das gestohlene Rohr noch über Billows' Drohung gesprochen. Wahrscheinlich hatte er gewußt, daß das Geheimnis bei ihr nicht sicher wäre.
»Vielleicht sollte ich die Polizei benachrichtigen«, fügte sie hinzu und bestärkte durch diese Worte Jack in seinem Glauben, daß sie von Thomas' Vergehen nichts wisse.
»An Ihrer Stelle würde ich noch ein wenig warten«, riet er. »Thomas kann jeden Augenblick zurückkommen. Lassen Sie es mich sofort wissen, wenn er kommt. Haben Sie in der Nachbarschaft nachgefragt?«
»Ja. Alle sind gestern zeitig zu Bett gegangen, die Collins' ausgenommen. Und die hatten nichts Ungewöhnliches gehört. Mrs. Collins war gar nicht wohl.«
»Fehlt ihr etwas Ernstliches?«
»Kann schon sein. Sie fühlt sich elend. Heute hat sie erbrochen, ihr Magen ist gar nicht in Ordnung. Die übrige Zeit liegt sie mit offenen Augen da und hat hohes Fieber. Sie haben keinen Arzt gerufen. Haben seit dem Besuch des Mannes vom Gesundheitsamt Angst vor Ärzten.«
Jack beschloß, Mrs. Collins aufzusuchen. Collins lugte mißtrauisch durch den Türspalt, öffnete jedoch ziemlich bereitwillig, als er Jennys Arzt erkannte. Der Doktor möge nachsehen, was der Frau fehle. Jack trat ans Bett und betrachtete die Kranke. Er wußte ohne weitere Untersuchung, was ihr fehlte. Sie wies ein Symptom auf, das ebenso schwer zu beschreiben ist wie ein Geschmack, ein Geruch, ein Farbton, aber dem erfahrenen Diagnostiker sofort einen akuten Fall von Kinderlähmung verrät. Vor allem war es an den Augen zu erkennen. Durch andere Krankheitserreger verursachtes Fieber ließ fast immer das Weiße des Auges wie glänzendes Porzellan erscheinen. Polio hingegen läßt die Lider anschwellen, und aus den Augen sprühen Angst und Feindseligkeit.
»Was fehlt ihr, Doktor?« fragte Collins besorgt.
Jack ging vor ihm aus dem Zimmer.
»Sie hat Kinderlähmung«, antwortete er. »Darf ich die Ambulanz um sie schicken?«
»Mein Gott, das ist furchtbar! Wird sie gelähmt bleiben?«
»Ich weiß es nicht. Wir werden unser möglichstes tun. Wir müssen abwarten. Ich werde für sie ein Bett reservieren. Sobald sie fortgebracht ist, gehen Sie zum Apotheker und lassen dieses Rezept machen. Es ist für Sie. Zinksulphat. Spülen Sie sich damit den Mund und gurgeln Sie. Holen Sie auch gleich eins für Mrs. Buckley. Sie sagt, sie sei hier gewesen.«
»Herrgott, Doktor, ich hab' keinen Cent!«
Jack gab ihm zehn Dollar.
»Den Rest geben Sie für Lebensmittel aus und teilen diese mit Mrs. Buckley, bei der die Speisekammer auch leer ist. Buckley ist nicht daheim, aber das wissen Sie vielleicht.«
Collins nickte.
»Wissen Sie nicht, wo er ist?« drang Jack in ihn und versuchte, Collins' ausweichende Augen festzuhalten.
»Nein«, erklärte Collins. »Keine Ahnung. Ich kümmere mich nicht um Buckley.«
Jack bedauerte die kranke Mrs. Collins aufrichtig, doch glühte er trotzdem vor Eifer, an ihr das Experiment vorzunehmen. Die Möglichkeit, daß das Serum, in die gefährdete Stelle gespritzt, diese gegen die Lähmung immunisieren werde, stand hundert zu eins. Dennoch lohnte sich der Versuch. Er würde von Celeste den Virus nehmen, ein Serum für die Einspritzung zubereiten und dieses in Mrs. Collins Arm einspritzen, solange die Infektion sich noch im Anfangsstadium befand.
Nun war es ein Viertel nach fünf. Jack sollte mit den Cunninghams und Lan Ying im »Livingstone« essen. Wollte er jedoch das Antitoxin-Experiment vornehmen, so mußte dies sofort getan werden. Als er auf dem Weg zum Autopark an Lister Hall vorbeifuhr, sah er Cunningham in einem Kreis von Studenten stehen. Anscheinend war das Nachmittagsklinikum gerade beendet. Jack hielt das Auto an. Cunningham machte sich frei und trat zu ihm. »Kommen Sie gleich mit mir oder erst später?« fragte er.
»Ich kann nicht zum Dinner kommen«, erklärte Jack, »muß in der Klinik bleiben.« Er berichtete kurz, was er vorhabe. Die Dringlichkeit des Falles war offensichtlich.
»Wenn es Ihnen recht ist, wäre ich gern dabei«, sagte Cunningham. »Wir werden Edith telefonieren, daß wir nicht kommen können; sie sollen ohne uns essen.«
»Ich bin froh, wenn Sie bleiben«, erwiderte Jack, »ich will nur schnell das Auto parken. Hier sind die Schlüssel zum Laboratorium. Benützen Sie mein Telefon. Ich bin in ein paar Minuten oben.«
Cunningham wurde von seinen Bewunderern aufgehalten und traf erst auf der Treppe mit Jack zusammen. Sie begaben sich ins Laboratorium. Jack knipste das Licht an und trat zum Kleiderschrank, während Cunningham ins Hotel telefonierte. Der Portier antwortete, die Damen seien ausgegangen. Sie hätten eine Botschaft hinterlassen: sie seien nach Detroit gefahren, um Besorgungen zu machen, und würden vielleicht etwas verspätet heimkommen.
»Richten Sie ihnen aus«, sagte Cunningham, »daß Dr. Beaven und ich im Spital aufgehalten wurden und kaum vor neun oder zehn fertig sein werden. Sie sollten nicht mit dem Dinner warten.«
»Ziehen Sie den Mantel aus, Bill«, riet Jack, »und machen Sie sich's bequem. Ich muß wegen Celeste den Raum sehr warm halten.«
Cunningham trat an den Käfig und blickte hinein.
»Hören Sie, Jack – kommen Sie her.«
Sie schauten zusammen in den Käfig.
»Sie schläft«, meinte Jack.
»Unsinn«, brummte Cunningham. »Der Affe ist tot.«
Es stimmte. Celeste war in dem Augenblick gestorben, da sie als Sozialarbeiterin große Dienste hätte leisten können.
Jack fand, um seinen Kummer über Celestes Verlust auszudrücken, nur ein hoffnungsloses: »Teufel!«
Er schlüpfte in den Rock. – Nun konnten sie doch zum Dinner gehen. Während noch der eine Ärmel in der Luft baumelte, hielt er, mit starren Augen vor sich hinblickend, im Anziehen inne.
»Wissen Sie was!« rief er. »Ich werde von Collins' Kind die Flüssigkeit nehmen und sie der Mutter einspritzen!«
»Famos. Das ist noch besser.«
»Kommen Sie, wir wollen es gleich tun.«
Wenige Minuten später standen sie vor der Tür des kleinen Zimmers, in dem Jenny noch immer abgesondert lag. Zwar befand sie sich nicht mehr in einem ansteckenden Stadium, doch war sie sehr nervös und reizbar und nicht kräftig genug für den Trubel eines allgemeinen Krankensaales. Die Pflegerin kam ins Vorzimmer.
»Slattery, das ist Dr. Cunningham.«
Es war keine konventionelle Phrase, als Miss Slattery sagte, sie freue sich, ihn kennenzulernen. Die ganze Klinik sprach über seine Methode. Es wurde gemunkelt, daß er eine magische Kraft besitze, mit den schwierigsten Patienten fertig zu werden. Vor einer Stunde war das McFey-Mädchen hier gewesen, um einen Vorfall zu berichten, der sich gestern zugetragen hatte. Die Ärzte empfanden im allgemeinen Sympathie für Cunninghams Taktik, doch gaben sie ihm mehr als eine harte Nuß zu knacken.
In den letzten Wochen hatten die ewigen Klagen eines Patienten namens Pfeifer Miss McFeys Leben vergällt. Dieser Patient befand sich in jenem Stadium eines doppelten Knöchelbruches, da man nur den einen Wunsch empfindet, unter den Gipsverband zu gelangen und den Knöchel zu kratzen. Pfeifer war von Natur aus ein unliebenswürdiger Mensch, und jeder Tag steigerte seine Unausstehlichkeit. Miss McFey dachte, es wäre eine »Hetz«, Dr. Cunningham und Pfeifer zusammenzubringen, und hatte dies Dr. Osgood gegenüber geäußert.
Nun hatte sie Miss Slattery berichtet, wie Dr. Cunningham an Pfeifers Bett getreten war und, ohne diesem Gelegenheit zu geben, sich zu beklagen, vertraulich gesagt hatte: »Sie sind der Mann mit dem doppelten Knöchelbruch, nicht wahr? Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten. Am andern Ende der Abteilung haben wir einen Patienten, der ermutigt werden muß; er glaubt, er sei für sein ganzes Leben ruiniert. Er müßte mit einem tapferen Kerl zusammenkommen, der selbst viel durchgemacht hat. Kommen Sie, Miss McFey, setzen wir Mr. Pfeifer in seinen Rollstuhl, und ich werde ihn zu Tatlock fahren, damit er mit ihm plaudert.« Pfeifer hatte gestammelt, daß er sich aufs Ermutigen nicht verstehe, aber Cunningham hatte dies gar nicht beachtet. Der Witz an der Sache war, daß Tatlock sogar drei Knochenbrüche hatte. Er lag in einem Apparat geschient, der an die Folterinstrumente der Inquisition erinnerte. Dr. Cunningham fuhr Pfeifer langsam durch die Halle in Tatlocks Zimmer. »Hallo!« brummte dieser durch die Zähne. »Was fehlt Ihnen?« Pfeifer hatte ein paarmal geschluckt, töricht gegrinst und erwidert: »Nichts Besonderes, mein Alter, ich hab' mich bloß ein wenig angeschlagen. Bin nur hergekommen, um Ihnen ›Guten Tag‹ zu sagen, ich muß jetzt wieder gehen. Auf Wiedersehen.« Miss McFey brachte Pfeifer in sein Zimmer zurück. Unterwegs sagte er kein Wort. Sie fragte, ob die Fahrt ihn ermüdet habe. Er schüttelte den Kopf. »Haben Sie Mr. Tatlock ermutigt?« hatte Miss McFey gefragt. »Herrgott«, hatte Pfeifer mit einem Schaudern erwidert. »Der wird sich in seiner Wiege nicht gerade wohl fühlen«, fügte McFey hinzu. Pfeifer wiederholte nur »Herrgott« und schüttelte dabei den Kopf, als schlucke er eine abscheuliche Medizin.
Auch der Bericht der Miss McFey über die Erlebnisse der Pflegerin Bretton mit Tatlock waren belustigend. Miss Bretton hatte es schwer mit Tatlock. Man konnte es dem armen Teufel nicht verübeln, wenn er sich mürrisch, grob und widerspenstig zeigte, denn er war davon überzeugt, daß er zeitlebens ein Krüppel sein werde. Miss Bretton hatte Pfeifers Besuch für recht unvernünftig gehalten, denn wahrscheinlich würde es Tatlock nur schaden, einen Menschen zu sehen, der sich auf dem Weg der Genesung befand. Und sie empfand auch noch nach dem kurzen Gespräch der beiden Zweifel. Doch alsbald ging ihr ein Licht auf.
Cunningham blieb länger im Krankenzimmer. »Hoffentlich war es Ihnen nicht unangenehm, daß ich Mr. Pfeifer herbrachte«, sagte er zu Tatlock. »Sie müssen wissen, daß es bei ihm nicht nur der Knochenbruch ist. Die Sache ist ihm auf die Nerven gegangen. Er hat keine Geduld mehr. Ich dachte, es könne ihm guttun, einen Menschen zu sehen, der schwerverletzt ist, dessen Leiden sich aber nur auf ein Bein beschränkt.« Tatlock schnitt ein Gesicht. Dr. Cunningham griff nach dem Temperaturzettel, betrachtete diesen aufmerksam und nickte befriedigt. »Jetzt muß ich gehen, Bob. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Vielleicht kann auch ich einmal etwas für Sie tun.« Tatlocks Gesicht erhellte sich. »Gern geschehen, Doc. Kommen Sie, wann immer Sie wollen.«
Slattery freute sich, Dr. Cunningham kennenzulernen. Er gehörte zu jenen Menschen, die andern sofort Vertrauen einflößen. Hatte sich einer kleinkriegen lassen, so brachte er es zuwege, ihm einzureden, wie tapfer er sei.
»Wollen Sie Jenny Collins sehen?« fragte die Pflegerin Beaven.
»Ja. Ich will etwas Blut von ihr nehmen, für ihre Mutter.«
Miss Slattery blickte bekümmert drein.
»Sie wird hysterisch werden«, meinte sie. »Das kleine Geschöpf kann sich absolut nicht beherrschen. Aber es hat ja auch reichlich unangenehme Dinge erlebt, seitdem es eingeliefert wurde: Blutproben, Rückenmarksanzapfungen und weiß Gott was noch. Sie werden etwas erleben, Dr. Beaven, wenn Sie Blut nehmen, solange Jenny bei Bewußtsein ist.«
Jack blickte Cunningham mit einem bedeutsamen Lächeln an.
»Sie sagten, daß Sie bei dem Experiment helfen wollen, Dr. Cunningham. Wie wäre es, wenn Sie uns eine schöne kleine Blutprobe von Miss Collins verschaffen wollten? Das wäre eine Aufgabe für Sie.«
»Vorher wüßte ich gern mehr über den Fall. Das Kind hat einen gelähmten Arm, nicht wahr? Und Sie haben hier noch einen ähnlichen Fall, oder vielleicht zwei? Die Kinder waren Nachbarn, nicht wahr? Eines davon ist ein Mädchen, soviel ich weiß.«
Slattery erwähnte das Buckley-Kind.
»Wie heißt es mit Vornamen?«
»Martha.«
»Gut. Sterilisieren Sie die Spritze, wickeln Sie sie in ein Handtuch und legen Sie sie auf den Tisch neben dem Bett. Ich komme gleich nach.«
»Sie brauchen mich jetzt nicht«, sagte Jack. »Ich will nachsehen, wie es Mrs. Collins geht.«
»Sagen Sie der Etagenschwester, sie solle mir ein reines Kopfkissen bringen«, bat Cunningham.
»Ein Kopfkissen?«
»Ja, zum Mitnehmen. Kinder erschrecken nie, wenn man mit einem Kissen unterm Arm, einem rotbackigen Apfel oder irgend etwas in der Hand kommt. Das führt stets zu einem ablenkenden Gespräch. Ist Ihnen das nie aufgefallen, Jack? Kinder sind leicht zahm zu kriegen, besonders von Fremden. Mir gelang es bisweilen ausgezeichnet, einen Patienten abzulenken, indem ich vorgab, viel mehr mit meinen eigenen als mit seinen Angelegenheiten beschäftigt zu sein.«
»Zum Beispiel?«
»Sobald ich bemerke, daß der Patient mich erblickt hat, bleibe ich an der Türe stehen, wühle in meinen Taschen und hole einen Haufen Kleingeld heraus, das ich, mich langsam dem Fußende des Bettes nähernd, zu zählen beginne. Dem Patienten wird klar, daß er mich im Augenblick nicht interessiert, und er fühlt meist eine solche Erleichterung, daß er einen Witz macht, mich fragt, ob ich irgendwo eine Münze verloren habe oder ob mein Vater ein Schotte sei, oder ob er mir fünf Cent leihen solle.«
»Aber das können Sie doch bei demselben Patienten nur einmal aufführen«, meinte Jack.
»Man braucht es fast immer nur einmal zu tun.«
Jack lachte. »Haben Sie noch andere kleine Kniffe auf Lager?« fragte er. »Das ist wirklich interessant. Wahrscheinlich haben Sie immer die Taschen voller Geduldspiele.«
»Nein, das wäre zu durchsichtig. Damit läßt ein vernünftiger Mensch sich nicht ködern. – Aber Slattery wird auf mich warten. Auf Wiedersehen.«
Er betrat das Zimmer, das Kissen unter dem Arm. Slattery beobachtete ihn neugierig.
»Jenny«, sagte sie, »das ist Dr. Cunningham, der dir einen Besuch machen möchte.«
»Hast du genug Kissen, Jenny?« fragte Cunningham. »Ich habe ein paar überzählige.«
»Was soll ich mit dem Kissen?« fragte Jenny spöttisch.
»Gut«, erwiderte er gelassen. »Dann geb' ich es deiner Mutter.«
Jenny zwinkerte mit den Augen und stützte sich auf den gesunden Ellenbogen.
»Die hat genug Kissen.«
»Ja, daheim.«
»Ist meine Mutter nicht daheim?«
»Nein. Sie ist hier. Ist krank.«
»Sehr krank?« Jenny verzog den Mund und begann zu wimmern.
»Recht krank. Aber wenn wir die richtige Medizin bekommen können, wird es ihr bald besser gehen. Möchtest du ihr die Medizin schicken?«
Jenny lächelte durch Tränen.
»Sie kann meine ganze Medizin haben.«
»Nein«, entgegnete der Arzt. »Du mußt sie für die Mutter machen. Es ist eine ganz besondere Medizin.«
»Ich kann doch keine Medizin machen!« jammerte Jenny.
Cunningham setzte sich ans Bett.
»Es ist eine komische Sache mit den Medizinen«, sagte er mehr zu sich selbst. »Wir holen das, woraus sie gemacht werden, an den seltsamsten Stellen. Einige Medizinen werden aus dem Saft der Blumen und Wurzeln gemacht, aus Baumrinde, andere aus Eisen, Gold und Kohle.«
Jenny hörte aufmerksam zu, und der Arzt fuhr fort:
»Manchmal wird die Medizin aus Blut gemacht, und die ist die allerbeste.«
Jennys Gesicht verdüsterte sich, da sie das Wort »Blut« vernahm. Sie schauderte und zog ihre Finger aus Cunninghams Hand.
»Wir hatten hier eine Äffin namens Celeste, die gerade das rechte Blut für die Medizin hatte, die deine Mutter braucht. Aber Celeste ist heute nachmittag gestorben, deshalb suchen wir jetzt jemand andern. Es gab im Spital nur drei Menschen, die das richtige Blut hatten.«
»Wer waren die?« fragte Jenny und schluckte heftig.
»Martha Buckley, Celeste und du.«
»Affen sind keine Menschen«, sagte Jenny.
»Celeste hätte dir gefallen. Sie war nur ein Affe, aber ein lieber Affe. Jetzt, da Celeste tot ist, bleiben nur noch zwei übrig, Martha und du.«
Jenny begann zu weinen, zuerst ganz leise. Dann vergrub sie das Gesicht in den Kissen und flüsterte schluchzend: »Sie werden mir weh tun! Sie werden mir weh tun! Immer tut man mir weh, mit spitzen Nadeln und solchen Dingen.« Ihre Stimme wurde schrill. »Ich lass' mir nicht mehr weh tun – ich lass' nicht, ich lass' nicht!«
»Gut, gut«, sagte der Arzt sanft. »Das ist erledigt.« Er streichelte ihre Hand. »Weine nicht, es ist alles gut. Ich hatte gedacht, du würdest es für Mammi gern tun, damit sie gesund wird. Aber wenn du nicht willst, so bitten wir Martha um das Blut. Die gibt bestimmt gern einen Löffel Blut her, damit die Mutter ihrer kleinen Freundin gesund werden kann.«
Jennys hysterischer Anfall ebbte ab. Sie schluchzte noch immer, und aus ihren Augen schrie die Angst. Plötzlich preßte sie die kleine weiße Faust fest gegen das Kinn und schrie: »Ich werd' es tun! Ich werd' es tun! – O bitte, tun Sie mir nicht weh! – Oh! Ich kann nicht! Ich kann nicht! – Aber ich werd' es tun!«
Cunningham streichelte ihre feuchten Locken und sagte zärtlich: »Du bist ein famoses Mädel, Jenny. Ich bin sehr stolz auf dich. Und wenn wir deiner Mutter erzählen, was du für sie getan hast …«
Er griff nach der Spritze. Miss Slattery schob Jennys Ärmel hoch und betupfte mit einem Desinfektionsmittel den magern Arm. Cunningham blickte sie über die Schulter hinweg an. »Slattery, dieses Baby ist tapfer. Ich freue mich, es kennengelernt zu haben.« Ein Augenblick des Schweigens trat ein. Man hörte nur Jennys Keuchen, während sie ihren schwachen Willen gegen den Schmerz zu Hilfe rief.
»So«, sagte der Arzt. Miss Slattery betupfte die Einstichstelle und zog den Ärmel hinunter. Jenny wischte sich mit dem Leinentuchzipfel die Augen und versuchte zu lächeln.
Jack war geräuschlos ins Zimmer getreten und hatte von der Tür aus stumm alles beobachtet.
»Sie haben gesagt, daß ich ein Kind bin.« Jennys Lippen zitterten.
»Das war ein Irrtum. Du bist kein Kind, bist eine erwachsene Dame, aber dennoch nicht zu groß, um mit einer schönen Puppe zu spielen. Du bekommst morgen eine Puppe. Sie ist ein Geschenk von Dr. Beaven. Er wird sie dir bringen.«
Jennys Augen schweiften zu Jack hinüber, der am Fußende des Bettes stand.
»Wird sie die Augen öffnen und schließen?« fragte Jenny.
»Ja, das wird sie«, versprach Jack feierlich. »Sie wird alles tun, was eine Puppe tun kann.«
»Morgen?«
»Ja, am Nachmittag.«
»Bestimmt?«