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Zwölftes Kapitel

Nun, nachdem alle Vorbereitungen für die Feier getroffen waren, machte Jack es sich in Pyjama und Pantoffeln bequem. Er zündete seine Pfeife an, dachte nach und entdeckte in der Tiefe seines Bewußtseins beunruhigende Zweifel.

Es war ja schön und gut, sich zu sagen, daß Lan Ying die Bedingungen ihrer Freundschaft verstand und billigte und nichts anderes erwartete als das, worüber sie sich geeinigt hatten. Sie hatte ja tatsächlich erklärt, daß dieser idealistische Pakt nicht nur wünschenswert, sondern auch unvermeidlich sei.

Aber diese Lösung des Problems entsprach weder seinen noch Lan Yings Gefühlen. Und wie auch immer Audrey sich zu diesem seltsamen Verhältnis stellen mochte, es blieb die Tatsache bestehen, daß er sie in den Augen ihrer Freunde und vor allem in denen Claudia Kings in eine peinliche Lage versetzte. Claudia konnte annehmen, daß die Einladung, den Feiertag als Jacks Gast zu verbringen, auf ernsthafte Absichten von Seiten des Gastgebers deute. Jack störte der Gedanke, jemand könne glauben, er habe mit Lan Ying nur gespielt. Es war ihm unerträglich, daß andere der Ansicht sein könnten, er habe, nachdem er zuerst ein großes Interesse für das Mädchen bezeigt, es sitzenlassen.

Während er über all dies grübelte, versuchte Jack, ihren beiderseitigen Entschluß richtig zu werten. Lan Ying war augenblicklich das Wichtigste in seinem Leben. Seit ihrer letzten Zusammenkunft kehrte die Erinnerung an den einen zauberhaften, aber beunruhigenden Augenblick mit der Häufigkeit des Themas in einer Sinfonie wieder. Mochte er mit einem beruflichen Problem auch noch so beschäftigt sein, diese seltsame Verzückung überkam ihn immer wieder wie eine Springflut. Anfangs tröstete er sich damit, daß dieses sentimentale Abenteuer zweifellos verblassen und von seinen Berufspflichten und Verantwortungen in den Hintergrund gedrängt werden würde. Doch dies war nicht geschehen. Und was er eben jetzt geplant hatte, würde auch nicht gerade diese Wirkung haben.

Vielleicht wollte er aber auch gar nicht, daß die Erinnerung verblaßte. Vielleicht wäre es das Richtige, ihrer Zuneigung den normalen Lauf zu lassen und sie mit einer Heirat zu beschließen. Sie brauchten einander. Was in dieser Hinsicht seine Selbstbeherrschung anbelangte, so büßte diese an Wirkung ein, sobald sie nicht mehr mühelos war. Eine Selbstbeherrschung, die sich Sorgen macht, einen ruhelos im Zimmer auf und ab gehen und zerstreut Bleistifte spitzen läßt, wenn Berufspflichten gesteigerte Aufmerksamkeit erfordern, ist eine Art Martyrium, das keinen praktischen Wert besitzt.

Andererseits freilich wäre es ein Verzicht auf alle schwererworbenen Verdienste, wenn er, an diesem Punkt seiner Laufbahn angelangt, einer reinen Gefühlssache zuliebe sein ganzes Leben änderte. Es ging ja nicht darum, festzustellen, inwieweit die Verantwortung für ein Heim seine Arbeit hindern konnte – nein, das Problem war viel einschneidender. Welchen Einfluß würde es auf seine Persönlichkeit haben, wollte er nach vielen Jahren völliger Hingabe an ein Programm, das für ihn mehr bedeutet hatte als Religion und Patriotismus, sich eingestehen, daß die Gottheit, der er so hingebungsvoll gedient, lange nicht so wichtig sei wie eine bestimmte Frau, die sich seiner Phantasie bemächtigte?

Das Telefon läutete. Abbott rief an und teilte Jack mit, daß er und seine Hilfe am Donnerstag um fünf Uhr kämen. Sie brächten alles Nötige mit. Dr. Beaven brauche sich um nichts zu kümmern. Und Dr. Beaven, dankbar für diese Versicherung, wünschte von ganzem Herzen, er könnte ein anderes, mit diesem Ereignis zusammenhängendes Problem ebensoleicht lösen.

»Ich würde mir vorziehen«, erklärte Abbott, der am Telefon bisweilen seine Grammatik vergaß, »für diesen Abend als Ihr Gast betrachtet zu werden. Bitte, sagen Sie Ihrem Besuch nicht, daß ich Ihr Schüler bin.«

»Gut, Abbott, wenn es Ihnen lieber ist«, erklärte Jack. »Ich hoffe, ich werde mich für Ihre Freundlichkeit bald irgendwie dankbar erweisen können.«

»Sie haben Ihren Dank schon abgestattet, danke«, sagte Abbott.

Der Blumenhändler, der neben dem »Hotel Livingstone« ein vornehmes kleines Geschäft hatte, erhielt den Auftrag, in Miss Hiltons Appartement im »Livingstone« drei Dutzend Chrysanthemen und ein Ansteckbouquet aus Orchideen zu schicken. Der Leiter des Hotels hatte für sie das hübscheste Appartement reserviert. Ja, er erinnere sich gut an Miss Hilton; sie würde aufmerksam bedient werden.

Jack wurde heiterer und beschäftigte sich eine Weile ausschließlich mit seinen erfolgreichen Vorbereitungen für Lan Yings Empfang. Es wird ein seltsam freudiges Gefühl sein, sie hier in seiner Wohnung zu sehen. Die Zimmer werden eine neue Bedeutung erlangen, werden, nachdem sie von ihrer Gegenwart gesegnet wurden, nie mehr die gleichen sein.

Das Telefon läutete abermals.

»Dr. Beaven am Apparat«, sagte Jack und hoffte, nicht wegen eines dringenden Falles in die Klinik gerufen zu werden.

»Hier Winifred Gillette«, sagte eine ihm nur vage vertraute Stimme. »Erinnern Sie sich an mich?«

Er tat es und erkundigte sich liebenswürdig nach ihrem Befinden. Seitdem sie im ersten Jahr am Ende des Semesters mitgeteilt hatte, daß sie nicht wiederkäme, hatte er kein einziges Mal an sie gedacht. Sie hatte damals keine Gründe für die Aufgabe ihres Studiums angegeben, doch glaubte er zumindest einen zureichenden Grund zu kennen. Winifred Gillette war für das Studium der Medizin nicht geeignet, oder aber sie hatte es, falls sie es dennoch gewesen, sorgfältig verborgen.

»Was tun Sie jetzt?« Jack nahm an, daß er diese Frage stellen müsse.

»Sie werden es nie erraten.« Winifreds Stimme hatte sich in einen Alt verwandelt. Sie ließ Jack Zeit zum Raten, fuhr dann fort: »Ein Jahr nach meinem Abgang von der Universität habe ich geheiratet, die Sache ist schiefgegangen …«

»Das tut mir leid«, sagte Jack.

»Oh, es hätte viel ärger sein können!« erklärte sie heiter. »Wir haben einfach Schluß gemacht und uns scheiden lassen. Es gab keine Komplikationen. Keinen Posten, kein Vermögen, keine Alimente, keine Kinder, keine Liebe, kein Bedauern … Jetzt bin ich hier, um einen Pflegerinnenkurs zu machen. Ich dachte, ich werde Sie anrufen. Sie waren immer so nett zu mir; deshalb wollte ich Sie wissen lassen, wo ich bin und wie es um mich steht.«

Jack runzelte die Stirn und fragte sich, ob sie ihm wirklich gesagt habe, wie es um sie stehe.

»Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?« erkundigte er sich im Ton eines mäßig interessierten Onkels.

»Hm, hm«, antwortete sie unsicher. »Natürlich bin ich dieses Jahr eine Sklavin. Wenn jemand sich die Einbildung austreiben lassen will, so soll er solch einen Kurs mitmachen. Und hier …«

»Ich weiß«, meinte Jack teilnahmsvoll, »aber eine Pflegerin muß vor allem Disziplin lernen. Und es ist wahrscheinlich notwendig, dies schon im ersten Jahr zu tun.«

»Ich erinnere mich an Ihre Ansichten über Disziplin.« Winifreds Stimme klang, als lächle sie schelmisch. »Sie zumindest haben Ihre Arbeit nie vernachlässigt. Wahrscheinlich hat es sich gelohnt. O ja, ich habe Ihre Karriere verfolgt! Ich gratuliere Ihnen dazu, Jack – falls ein kleiner Wurm von einer künftigen Pflegerin sich das erlauben darf. Arbeiten Sie noch immer vierundzwanzig Stunden am Tag?«

Ein gutgewähltes Stichwort. Jacks Stirn glättete sich.

»Ja«, erwiderte er ernst. »Wenn man etwas Ordentliches leisten will, läßt sich das nicht vermeiden. Und je weiter man kommt, desto größer wird der Pflichtenkreis. Ich habe sehr wenig Zeit für mich persönlich.«

»Wahrscheinlich«, sagte Winifred. Es klang, als füge sie unhörbar hinzu: »Und natürlich gar keine für meine armselige kleine Person.«

»Danke für den Anruf«, sagte Jack. »Es hat mich gefreut, von Ihnen zu hören.«

Da das Gespräch jetzt ein Stadium erreicht hatte, daß man darüber in der Vergangenheit sprechen konnte, mußte auch Winifred es als beendet betrachten. Sie dankte ihm für die Geduld, mit der er sie angehört hatte, und leistete sich eine leise Wehmut in der Stimme, die ihre Enttäuschung über seine Gleichgültigkeit verriet. Jack blieb eine kurze Weile am Apparat sitzen und rief sich das Gespräch, vor allem seinen eigenen Anteil daran, ins Gedächtnis zurück. Je weiter man bei einer Arbeit vorwärtskam, desto schwerer mußte man arbeiten. Das stimmt. Es war die wirkliche Stimme seines entschlossenen Ichs gewesen, die da teils zur oberflächlichen Winifred, teils aber auch zum verliebten Jack Beaven gesprochen hatte. Er beschloß, sein Gewissen zu beruhigen, indem er zur Klinik fuhr und nachsah, wie es Martha Buckley ging. Vorerst jedoch schritt er durch die Zimmer, die bereits auf Lan Yings bevorstehenden Besuch warteten.

Lan Ying – Audrey! Es war viel natürlicher, sie Audrey zu nennen, sie selbst jedoch hatte den Namen Lan Ying viel lieber … Um ihrem Wunsch nachzukommen, versuchte Jack an sie als an Lan Ying zu denken, wenngleich er sich eingestehen mußte, daß der chinesische Name noch mehr ihre Entfernung von den Interessen betonte, die sein Leben ausmachten.

Bis jetzt hatte der kalte, leere Kamin höchstens dazu gedient, um auf ironische Weise zu unterstreichen, daß seine Wohnung kein Heim sei. Jack läutete dem Portier und ersuchte ihn, Walnußscheite heraufzubringen und Feuer machen zu lassen. Dann stellte er die Stühle um und versuchte den Zimmern das Ansehen zu verleihen, als lebe jemand in ihnen.

Er blieb vor den gerahmten Fotografien an der Wand neben seinem Schreibtisch stehen und überlegte, wie diese Familienbilder auf einen wirken mochten, der sie zum erstenmal sah. Mit gekreuzten Armen, in der einen Hand die Pfeife, betrachtete er sie mit den Augen eines Fremden. Lan Ying wird zweifellos eine große Ähnlichkeit zwischen ihm und Jean feststellen. »Aber nicht der gleiche Mund«, wird sie vielleicht sagen und behaupten, noch immer erschrocken über ihre Zeichnung seines strengen Mundes zu sein. Vielleicht wäre es besser, nicht über Lippen zu sprechen; die ihren sind so schön, so ausdrucksvoll, so begehrenswert.

Sie wird lange das Bild seiner Mutter betrachten. Interessant wäre, dabei ihre Gedanken zu lesen. Jede Frau mußte auf den ersten Blick erkennen, daß das schöne tizianfarbene Haar der Mutter, an den Schläfen glatt gekämmt, aller Disziplin zum Trotz in rebellische Locken ausbrach. Mit weiblichem Instinkt, verstärkt durch die »Weisheit des Ostens«, wird Lan Ying sich fragen, welcher Art die Kämpfe gewesen sein mochten, die zwischen diesen freudehungrigen Locken und den kompromißlos puritanischen Augen ausgefochten worden waren. Zweifellos wird sie erkennen, daß es, sobald Locken und Augen einander im Spiegel begegneten, nur ein Ergebnis geben konnte. Die Augen wichen auch nicht um einen Zoll zurück. Sie blickten von dem Bild dem Betrachter gerade ins Gesicht, nicht zornig, nicht hochmütig, doch mit gelassener Selbstsicherheit. »Es gibt für die Menschen zwei Arten, zu denken und zu handeln, einen rechten und einen falschen Weg«, sagten die Augen. »Das gute Leben schreitet geradeaus. Es interessiert sich nicht für Nebengassen, für geschlängelte Pfade, für Pastellfarben. Wohl hast du die Wahl, doch mußt du dich für Schwarz oder Weiß, für das Oben oder Unten, für Rechts oder Links entscheiden. Da gibt es kein Spielen, kein Schwindeln, kein Sich-decken-Wollen. Hört das Wort, zahlt den Preis, hütet euch vor dem Bösen: tragt keine Rüschen, keinen Aufputz an den Kleidern, keine Locken, denn der Herr kennt die Wege der Gerechten, die Ungerechten aber wird Er zermalmen!«

So sprachen die Augen, und die Lippen, die so sehr den seinen glichen, bekräftigten es. Jack hatte immer geglaubt, es sei die unbeugsame Religion der Mutter gewesen, die ihre Augen und Lippen verhärtet habe. Das sei das Elend mit der Religion. Sie mache die Menschen engherzig. Hielt man sich streng an sie, so trennte sie einen von den schönsten und liebenswertesten Dingen der Welt. Aber war es nur die Religion, die einen Menschen einengen, verkrampfen und blind machen konnte? Das gleiche ließ sich auch der Wissenschaft zur Last legen. Jack fragte sich, ob Audrey, nachdem sie seiner Mutter in die Augen geblickt hatte, nicht die seinen suchen und prüfen werde.

Das Telefon klingelte erneut. Diesmal war es Schwester McFey.

»Sie wollten über die kleine Buckley auf dem laufenden gehalten werden – sie ist recht unruhig.«

»Wie hoch war die letzte Temperatur?«

»Knapp unter neununddreißig. Ungefähr so wie gestern um diese Zeit. Soll ich etwas unternehmen?«

»Nein. Ich komme bald.«

Jack hängte den Hörer zurück und verharrte stirnrunzelnd. Es sah dieser kleinen Tochter des unausstehlichen Buckley ähnlich, medizinische Purzelbäume zu schlagen.

In der Klinik angelangt, stellte er fest, daß sein Polio-Fall tatsächlich unruhig war, er sich aber keine Sorgen zu machen brauchte. Es handelte sich ganz einfach um das normale Unbehagen nach einer Operation; das war alles. Um ganz sicher zu sein, beschloß er, noch eine Stunde zu warten, und ging ins Ärztezimmer, wo er die medizinischen Wochenschriften durchsah, ohne etwas Interessantes zu finden. Er liebte es, die eigenen Beweggründe zu analysieren, und fragte sich nun, ob sein Entschluß, Überstunden zu machen, nicht vielleicht eine Votivgabe an einen unbekannten Gott sei, dem er sagen wollte: »Obwohl es nicht nötig ist, sitze ich noch eine Stunde hier, um eine kleine Anzahlung auf das Geschenk zu leisten, das ich von dir erwarte. Ich nehme an, daß du mich nicht vergessen und mir den Erntedanktag freihalten wirst.«

Er stellte fest, daß diese Art von Aberglauben in der einen oder andern Form alle Menschen, die sich etwas leidenschaftlich wünschten, beeinflussen und zu bestimmten Handlungen verführen dürfte. Möglicherweise war der Instinkt die Wurzel des Aberglaubens. Wenn ja, so hatte dies einiges für sich, denn der Instinkt darf nicht leichtgenommen werden. Jack beschloß, die Klinik zu verlassen, sobald die Uhr elf schlug. Er wollte noch einmal nach der unruhigen Buckley sehen und dann für heute die Arbeit Arbeit sein lassen.

 

Während Jack, Lan Ying erwartend, auf dem Bahnsteig auf und ab ging, fragte er sich, welchen Fortschritt ihre Freundschaft am heutigen Tag wohl machen werde, da dieses Zusammentreffen ihnen doch viel mehr Freiheit als bisher gestattete. Er stellte sich diese Frage, bewegt von verwirrenden Gefühlen der Hoffnung und der Furcht.

Mit heftig pochendem Herzen sah er in etwa einer Meile Entfernung die graue Rauch- und Dampfwolke hochsteigen. Dann vernahm er die Pfiffe der Lokomotive, sah, wie das schwarze Etwas größer und größer wurde und lärmend in den Bahnhof einfuhr. Mit einem Kreischen hielt der Zug. Türen flogen auf, Träger warfen Gepäck und Klappstühle heraus.

Schon hatte Jack Audrey erblickt und eilte ihr entgegen, um sie zu begrüßen. Sie hob die kleine Hand zum Zeichen des Erkennens. – In diesem Augenblick begriff Jack, daß das Gefühl, das sie beide als »Freundschaft« bezeichnet hatten, etwas ganz anderes war. – Sie reichte ihm die Hände, und ihr Lächeln beglückte ihn.

»Wundervoll!« sagte Jack.

»Ja, nicht wahr?« stimmte sie ihm zu.

»Ich habe damit dich gemeint.«

Für eine Minute kehrten sie auf die Erde zurück, um Lan Yings Gepäck zu suchen und dem rotbemützten Träger ihre Anweisungen zu erteilen. Dann schob Jack ihren Arm unter den seinen und führte sie zum Auto. Er empfand ein stolzes Besitzergefühl und glaubte, daß ihn alle beneideten, die ihn sahen.

Im Wagen saß Jack so nahe bei Lan Ying, daß er mit dem Handgelenk ihren weichen Astrachanmantel streifte und ein wohliges Gefühl der Wärme verspürte, sooft er die Geschwindigkeit wechselte. Er lächelte in ihre beseligten Augen und erklärte, seine Lieblingsfarben seien Schwarz, Weiß und Korallenrot. Lan Ying antwortete, es sei noch etwas zu früh am Tag, über Kunst zu sprechen, doch habe er recht, Korallenrot sei eine freundliche Farbe. Sie berührte mit den Fingerspitzen die kühne kleine Hutfeder, zog die kleine schwarze Toque tiefer in die weiße Stirn, so daß nur noch eine Spur der schwarzen Haarfranse zu sehen war, und wand den weißen Schal fester um den Hals. Der schwarze Pelzmantel mochte von einem Bildhauer zugeschnitten worden sein, einem Mann, der die höhere Weisheit des Schöpfers erkannte, sich an dessen Schöpfung erfreute und frohgemut deren Formen nachzeichnete.

Im »Livingstone« waren nur wenige Gäste. Während der Ferien kam niemand, um die Universität zu besichtigen. Im Speisesaal war eine große Anzahl von Tischen frei. Sie setzten sich an einen Ecktisch, von wo aus Lan Ying den kleinen Park und einen Teil des schönen marmornen Gebäudes sehen konnte, das die Alumnen beherbergte. Sie fragte, ob es ein Grabdenkmal sei, und Jack erklärte ihr die Bestimmung. Sooft sie eine derartige Frage stellte, empfand er Verblüffung und den Wunsch, sie Audrey zu nennen als wolle er sie von den chinesischen Bindungen befreien, von denen sie so sehr festgehalten wurde.

»Oh! Dort kommen alle Studenten zusammen?«

»Meine Liebste«, antwortete er neckend. »Die treffen einander im Stadion und auf dem Fußballplatz. In dem Gebäude dort drüben werden nur die Porträts der früheren Rektoren aufbewahrt, und außerdem hat, soweit ich weiß, der Sekretär der Alumnen-Vereinigung dort sein Büro.«

Sie erkundigte sich, was die Alumnen-Vereinigung für die Alumnen bedeute, und Jack mußte eingestehen, daß er es nicht wisse. Er nahm an, die Universität verliere sie später nicht aus den Augen, damit sie leicht erreichbar seien, wenn Geld für die Universität, für Bauten oder Stiftungen gebraucht werde.

»Geldgeschenke sind in Amerika sehr wichtig, nicht wahr?« fragte Audrey.

Jack nickte.

»Leute, die nicht viel Geld besitzen, müssen sich in einem großen Nachteil befinden«, meinte sie versonnen.

Jack meinte, dies sei leider der Fall, ließe sich aber kaum vermeiden.

Es sei schön, sagte sie, wenn talentierte Menschen, die kein Geld besitzen, etwas schenken könnten, das sie eigenhändig gemacht haben. Sie kamen auf den Wert von Kunstgegenständen zu sprechen. Audrey meinte, es sei wünschenswert, Kunstgegenstände nicht nur nach ihrem Wert in Dollar zu beurteilen. »Manchmal«, sagte sie, »lese ich in der Zeitung, daß ein reicher Mann einer Bildergalerie ein berühmtes Gemälde geschenkt hat. Meist steht dann noch dabei, er habe für das Bild hunderttausend Dollar oder eine ähnliche Summe bezahlt. Die Menschen strömen in die Galerie, um das Bild zu sehen, weil der reiche Mann es für so wertvoll hielt. Natürlich muß die Handlung des reichen Mannes anerkannt werden, aber wäre es nicht sehr interessant, teilte man den Galeriebesuchern mit, wieviel der Künstler von seiner Persönlichkeit, seiner Zeit, seinem Geist, seiner Erfahrung in das Bild gesteckt hat, vielleicht läßt sich das nicht in Geld umrechnen, aber die Kosten müssen trotzdem sehr, sehr hoch gewesen sein.«

Jack pflichtete ihr bei und beklagte die große Rolle, die das Geld nach amerikanischer Einstellung spiele.

»Eine der Geschichten, die mein Pflegevater ganz besonders liebt«, berichtete Lan Ying, »handelt von einem Künstler, der fünfzig Jahre lang an einer schönen Vase gemalt hatte, die er dem Kaiser schenken wollte. Der Mann lebte in einem Dorf, seine Werkstatt lag an der Landstraße und stand den ganzen Tag über offen. Die Kunde, daß er sein ganzes Leben dem Malen einer Vase für den Kaiser widme, verbreitete sich. Täglich kamen nicht nur die Dorfkinder, sondern auch alle, deren Weg auf der Landstraße dahinführte, zu seiner Werkstatt, sahen ihm bei der Arbeit zu und priesen den Patriotismus des Künstlers. Endlich war es so weit, daß die Vase in den Brennofen kam. Viele Menschen drängten sich, um zu sehen, wie sie herausgenommen werde. Als aber die Ziegeltür geöffnet ward, da stellte sich heraus, daß die Vase beim Brennen einen Sprung erlitten hatte. Der Künstler war verzweifelt. Da er ein armer Mann war, konnte er dem Kaiser nur sein Talent schenken, und nun war seine Arbeit ruiniert. Er erkrankte vor Kummer. Eines Tages erfuhr der Gouverneur der Provinz von dem Geschehen und ließ sich in seiner goldenen Sänfte zu der Hütte tragen, um den armen Mann zu besuchen. Er verbeugte sich tief vor dem Krankenbett und sagte: ›Man hat mir von der Vase erzählt, die du für den Kaiser gemalt hast. Ich höre, daß viele Jahre hindurch alte Männer, kleine Kinder, Nachbarn und Fremde sich hier versammelt haben, um den schönen Ausdruck deiner patriotischen Liebe zu bewundern. Zweifellos hatten sie, wenn sie wieder weitergingen, das Gefühl, daß auch sie durch ihre Kraft, ihre Geschicklichkeit oder ihr Talent dem Kaiser eine Gabe darbringen sollten. Heute beklagst du den Verlust deiner schönen Vase und leidest unter dem Gefühl, dein Lebenswerk sei vergeudet. Aber ich sage dir, mein Freund, du hast dem Kaiser die Vase geschenkt.‹«

»Eine schöne Geschichte«, meinte Jack, »und reizend erzählt. Kein Wunder, daß du so entzückend bist, Liebste. Wer in einem solchen Idealismus erzogen wurde, kann kaum anders sein. Er muß so werden, wie du bist« – er zögerte einen Augenblick –, »eine schöne Seele.«

»Oh!« Sie hob fragend die Augen: »Du glaubst also doch an Seelen?«

»Zumindest glaube, ich, daß du eine hast. Daß du eine bist.«

Sie hatten eine ganze Stunde beim Frühstück gesessen. Von Lan Ying danach gefragt, erzählte Jack über Abbott mehr Einzelheiten, als er in seinen Briefen geschrieben hatte. Sie zeigte großes Interesse für Abbotts Ansichten über das amerikanische Leben. Viele seiner Beobachtungen waren ihr entgangen und belustigten sie.

»Die Amerikaner begreifen gar nicht«, meinte sie, »welch große Opfer die Chinesen bringen müssen, wenn ihre Kinder in den Staaten studieren. Der Yankee sagt: ›Der junge Mann hat Glück.‹ Mag sein. Aber es ist hart für die Familie, ihn so weit von daheim zu wissen, ihn so lange zu entbehren. Und dann kommt er in anderer Kleidung heim, ißt mit Messer und Gabel und beklagt sich, daß er im Bett einen steifen Nacken bekomme. Du glaubst wahrscheinlich, daß die Familie Sen sich freute, als der junge Sen nach England reiste, daß die Tatsache, er werde von Ausländern erzogen, von ihnen als Ehre empfunden wurde. Freilich war ich damals zu jung, um zu begreifen, was es für sie bedeutete, doch war ich groß genug, um einen tiefen Eindruck von der Zeremonie zu erhalten, die am Tag vor der Abreise des jungen Sen in der Ahnenhalle stattfand. Die ganze Familie – etwa vierzig Menschen – hatte sich in der schwacherhellten Haue versammelt. Hier erwies der junge Sen mit großer Würde den Ahnen seine Verehrung. Er nahm aus den Händen seines Vaters das Weihrauchfaß und schwenkte es vor den ehrwürdigen Statuen.«

»Es muß erschütternd gewesen sein«, sagte Jack. »Und sehr traurig. Fast wie ein Begräbnis.«

»Aber ohne Tränen. Es herrschte tiefe Stille. Niemand weinte. Vielleicht weinten die Eltern, als sie allein blieben.«

Jack meinte, die Chinesen müßten eine große Selbstbeherrschung haben, und Lan Ying entgegnete, daß diese Nationaleigenschaft von den Amerikanern stark übertrieben worden sei.

»Wir sind längst nicht so stoisch, wie ihr glaubt. Die Chinesen sind weder gefühllos noch gehemmt. Sie verstehen sich auf Spaß, und im Familienkreis wird viel gescherzt. Es werden Streiche gespielt, man lacht und neckt sich.«

»Ich habe stets geglaubt, der chinesische Vater sei ein Tyrann, ein Mensch, der von Frau und Kindern erwartet, daß sie auf allen vieren vor seiner erhabenen Person erscheinen und sich wegen ihrer Existenz entschuldigen.«

Lan Ying schüttelte lachend den Kopf.

»Du scheinst amerikanische Romane über China gelesen zu haben«, erklärte sie. »Das Majestätische des chinesischen Vaters ist rein oberflächlich. Gewisse, auf den Gehorsam sich beziehende Traditionen, die dem Familienhaupt zukommen, werden wohl eingehalten, aber auf äußerst drollige Weise.« Sie verstummte, und ein belustigtes Lächeln auf ihrem Gesicht verriet erheiternde Erinnerungen.

»Erzähl davon«, bat Jack. »Es interessiert mich sehr.«

»Also«, ihr ausdrucksvoller Mund verhieß einen spannenden Bericht, »als ich etwa sechs Jahre zählte, ging ich eines Tages mit dem neunjährigen Sen Li Hand in Hand zu Sen Ling und verbeugte mich tief vor ihm. Der kleine Sen Li sagte: ›Verehrungswürdiger Vater, dein unwürdiger Sohn und seine elende Schwester haben ein Schiff mit kleinen Segeln gebaut, aber es kentert, wenn der Wind weht. Würde der verehrungswürdige Vater seinem unwürdigen Sohn sagen …‹ Ich unterbrach ihn: ›Wir brauchen etwas Schweres für den Kiel des Bootes, verehrungswürdiger Vater.‹ Sen Ling erwiderte äußerst ernst, doch wußte ich, daß er belustigt sei: ›Wir wollen gehen und das Boot besichtigen.‹«

Sie machte eine kleine Pause: »Er war so lieb, mein Pflegevater, so lieb.«

»Es muß einem chinesischen Vater schwerfallen, die Illusion der Majestät aufrechtzuerhalten«, meinte Jack. »Ich könnte mir vorstellen, daß er es nicht immer vermag und oft in Lachen ausbricht.«

»Vielleicht lacht er innerlich«, sagte Lan Ying, »aber er wahrt äußerlich seine Würde. Diese gilt ja nicht nur ihm, sondern auch seinem Sohn. Die Chinesen sind weise genug, um zu wissen, daß ein Vater sich nicht selbst ehren kann, wenn er den Sohn geringschätzt. Deshalb fällt es ihm auch so schwer, sich für die christliche Darstellung zu interessieren, daß ein allmächtiger Vater die Schläge duldete, die sein Sohn erhielt. Diese Idee sagt ihnen nicht zu.«

»Ich begreife«, bemerkte Jack trocken. »Aber man braucht kein Chinese zu sein, um dieser Ansicht zu huldigen.«

»Oh!« Lan Yings hochgezogene Brauen drückten Staunen aus. »Das wußte ich nicht.« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Stört das auch euch Christen? Das heißt stört es dich?«

»Es stört auch einige andere, wenn sie darüber nachdenken. Aber die meisten nehmen das Gelernte hin, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Es ist ja so viel einfacher. Sie tun es bei den meisten Fragen des Lebens.«

»Kann man es ihnen übelnehmen, Jack? Nur wenige haben genügend Zeit und Selbstvertrauen, um philosophische Betrachtungen anzustellen. Sie müssen sich auf die alten Traditionen verlassen, die den Vätern in jenen weit zurückliegenden Zeiten, da die alten Mythen noch geglaubt worden waren, als Trost gedient hatten.« Lan Ying schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Mein Pflegevater hat mir einmal gesagt, die alten religiösen Mythen glichen dem Mond.«

»Dem Mond?« Jack blickte sie verständnislos an.

»Wenn die Sonne hell scheint, kümmert sich niemand um den Mond. Bricht aber die Nacht herein und alles ist dunkel, so erscheint am Himmel des bekümmerten Menschen ein blasses Licht. Er sieht dabei zwar nicht gut, doch kann er sich wenigstens vorwärtstasten. Sen Ling sagte, die alten religiösen Mythen gleichen dem Mond, sie seien nichts weiter als eine tote Masse erloschener Krater, die einst Feuer gespien hätten. Heute seien sie ein Spiegel, der ein blasses Licht widergebe.«

»Ausgezeichnet!« rief Jack. »Eine Erklärung, die wie ein Handschuh paßt. Tote Mythen. Tote Krater auf einem erkalteten Mond.«

Audrey berührte mit ihren Fingerspitzen sanft seinen Handrücken und nickte langsam:

»Ja. Tote Krater auf einem erkalteten Mond, aber noch immer aus der Ferne ein Licht widerspiegelnd. Das Licht, das von einem Etwas oder einem Jemand ausgeht, der noch immer lebt, lodert und mächtig ist. Wie dunkel auch immer die Nacht sein mag, wie blaß auch immer der Mond, der bekümmerte Mensch freut sich der Gewißheit, daß die Sonne noch da ist, daß sie morgen wieder auf ihn scheinen wird.«

Jack blickte erstaunt und bewundernd in ihre verträumten Augen. Sie schien so kindlich, so unkompliziert, sprach aber dennoch bisweilen Gedanken aus, die auf einen gereiften Geist schließen ließen. Er lächelte und versuchte, dies taktvoll auszudrücken.

»Es sind ja nicht meine Ideen, Jack«, erklärte sie. »Ich habe als kleines Mädchen gelernt, über diese Dinge nachzudenken – auf einem Schemel zu Füßen meines Pflegevaters sitzend.«

»Und was haben sie aus dir gemacht, Audrey? Eine Buddhistin?«

Sie hob eine der reizenden Schultern, um dem Ernst der Frage auszuweichen.

»Die Familie Sen Ling ist seit Hunderten von Jahren buddhistisch gewesen, zumindest den Zeremonien nach. Ich erfuhr nie, wieweit sie wirklich daran glaubten. Sie machten sich keine Gedanken über ihre Religion, nahmen sie hin wie das Wetter. Die schwierigen Fragen waren für sie wie kalte Tage – weder ihre Schuld noch ihre Verantwortung. Als ich einmal diesbezügliche Fragen an meinen Pflegevater stellte, antwortete er: ›Es ist unser Glück, Lan Ying, daß der große Lehrer niemals Prüfungen abhält. Das Tröstlichste am Welträtsel ist, daß man es nicht lösen muß.‹«

»Ist das die buddhistische Lehre?«

»Ja. Zumindest ist es typisch für die buddhistische Mentalität.«

»Und auch für die deine, glaube ich.«

Sie gab eine kaum hörbare, verwirrende Antwort.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Vielleicht nicht. Vielleicht nicht ganz. Vielleicht überhaupt nicht. Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Verwirrung bestätigen. Dann lachte sie und fügte hinzu: »Vielleicht bin ich eine Heidin. Vielleicht glaube ich nur an die Sonne und an den Sonnenschein.« Eine längere Pause trat ein. Dann sagte Audrey: »Du wirst es vielleicht merkwürdig finden, Jack, aber ich glaube, ich könnte eine Christin sein, wollten die andern mich nur ihren Christus allein haben lassen – Christus im Sonnenglanz.«

»Und du würdest keinen Mond brauchen?«

»Doch«, antwortete sie leise. »Nachts.«

Tief erschüttert, zögerte Jack mit seiner Antwort. Er sah sie mit so unverhohlener Zuneigung an, daß ihre Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. Schließlich sagte er: »Es würde mich sehr interessieren, zu erfahren, wie du auf die christliche Lehre reagierst, Liebste. Hast du von dieser als Kind etwas gehört?«

»Mehr, als du glaubst. Als ich acht Jahre alt war, beschloß der gute Sen Ling, es sei an der Zeit, daß ich in der Religion meiner Eltern unterrichtet werde. Ich wurde in eine Missionsschule geschickt. Meine Amah war sehr dagegen, weil die andern Kinder nicht, nicht unseres …« Audrey suchte nach einem Wort, das aufrichtig und bescheiden zugleich war, und Jack kam ihr zu Hilfe:

»Ich weiß, was du meinst, Liebste. Erzähl weiter.«

»Wenn ich aus der Schule heimkam, stellte ich Fragen über die Dinge, die ich nicht genau verstanden hatte.«

Jack lachte und meinte, es müsse eine drollige Situation gewesen sein. Auch Audrey lachte und sagte: »Drolliger, als du es dir vorstellen kannst. Mit acht Jahren hab' ich das freilich nicht gemerkt.«

»Versuch dich zu erinnern, Audrey«, bat Jack ernst. »Deine Familie war buddhistisch, und du kamst aus der christlichen Sonntagsschule heim und verlangtest, daß sie dir die christlichen Mysterien erklärte. Ich hab' noch nie etwas so Interessantes gehört. Bitte, erzähl mir alles.«

Audrey wandte für eine kurze Weile die braunen Augen ab. Schließlich lächelte sie.

»Einmal, ich erinnere mich daran genau, weil es auf mich einen bleibenden Eindruck gemacht hat, erzählte ich meinem Pflegevater, weshalb Jesus am Kreuz gestorben sei. Ich war sehr eifrig, denn ich hatte die Geschichte zum erstenmal gehört. Trotzdem fühlte ich eine gewisse Verlegenheit, mit dem guten Sen Ling darüber zu sprechen, weil meine Amah, die mich zur Sonntagsschule brachte und dort wieder abholte, auf dem Heimweg empört gesagt hatte, dies sei keine Geschichte für kleine Kinder, die brauchen nicht zu erfahren, auf welch grausame Weise Menschen einem Mann Nägel durch die Hände und Füße schlugen.«

Jack nickte zustimmend.

»Deine Kinderfrau war sehr vernünftig. Kein Wunder, daß sie sich dagegen wandte.«

»Vielleicht. Shu-cheng hütete sich streng davor, uns kleine Kinder etwas von Roheit und Grausamkeit erfahren zu lassen. Sie meinte, derlei hinterlasse auf dem Geist Narben. Meist erzählte sie uns Geschichten von Blumen, die mit Bienen plaudern, und von kleinen Waldgeistern, die nachts in den Garten spielen kommen … Also, an jenem Tag kam ich heim und erzählte meinem Pflegevater, weshalb Jesus am Kreuz gestorben ist.«

Jack konnte kaum erwarten, mehr zu hören.

»Wie stellte er sich dazu? War es ihm nicht sehr peinlich?«

»Peinlich? – Nein«, antwortete sie langsam. »Er verhielt sich sehr ehrfurchtsvoll, sehr ernst. Er hatte mich nicht aufgefordert, es ihm zu erzählen. Ich hatte es freiwillig getan. Ich saß auf einem niedrigen Schemel vor ihm und erzählte ihm alles. Weißt du, ich hatte ihn so lieb und war so voller Vertrauen zu ihm, daß ich wußte, er werde meine Fragen aufrichtig beantworten.

So saß ich vor dem guten Sen Ling und sagte ihm, Jesus sei Gottes Sohn und deshalb sei auch Jesus Gott, und er sei gestorben. Sen Ling neigte ernst das Haupt und erklärte, daß er das wisse. Dann fügte er hinzu: ›Gottes Sohn Jesus ist wiederauferstanden, Lan Ying. Haben sie dir das nicht gesagt? Wahrscheinlich werden sie es das nächste Mal tun. Du mußt Geduld haben. Es ist schwer, in einer kurzen Stunde die Geschichte einer Religion zu erklären. Jesus ist gestorben, doch ist er auferstanden. Das werden die Lehrerinnen dir bestimmt sagen.‹«

»Sehr anständig von einem Buddhisten«, bemerkte Jack.

»Sen Ling«, sagte Audrey, »lag viel mehr daran, fair und ehrlich als bloß religiös zu sein. Der gute Sen Ling fand, man müsse vor allem – ein Gentleman sein. Ich erzählte ihm in kindlicher Art, wie Jesus am Kreuze gestorben sei, um alles in Ordnung zu bringen, was dadurch verursacht worden war, daß der erste Mensch Gott nicht geglaubt und deshalb seinen Kindern und allen Menschen für Hunderte von Jahren alles verdorben hatte. Ich sagte, der Name des ersten Menschen sei Adam gewesen, Gott habe ihn aus Staub gemacht. Der Staubmensch sei aufgestanden, habe allen Tieren Namen gegeben und vom falschen Baum einen Apfel gegessen. Und lange Zeit nachher ließ Gott zu, daß eine große Menge seinen Sohn Jesus tötete, damit die Sache mit Adam und dem falschen Apfel wieder in Ordnung kam.«

»Mein Gott«, flüsterte Jack, »wenn man das so auffaßt …«

»Ich weiß«, entgegnete Audrey gelassen, »wenn man es so auffaßt, ist es keine hübsche Geschichte. Und auch nicht ganz fair. Selbstverständlich gibt es auch eine andere Auslegung, und ein weiser Philosoph vermag eine andere Erklärung zu geben. Aber – das war die Geschichte, die ich Sen Ling erzählt habe.«

»Hat sie ihn abgestoßen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Audrey nach einer kurzen Pause. »Jedenfalls hat er es nicht gezeigt. Er saß eine Weile schweigend da und klopfte mit den langen Fingern auf die Lehne seines Sessels. Dann stand er auf und führte mich an der Hand in den Garten, zu dem Weg am runden Teich, wo unter den Wasserlilien die Goldfische spielten. Dort setzten wir uns auf eine Steinbank. Nach einer Weile sagte mein Pflegevater: ›Lan Ying, die Missionare sind keine schlechten Menschen, sie helfen den Armen und tun viel Gutes. Weil ihnen so viel daran liegt, daß du etwas über Religion weißt, erzählen sie dir Dinge, die ein kleines Mädchen nicht verstehen kann. Es ist für dich noch nicht an der Zeit, dich um die Götter zu kümmern. Es genügt, wenn du mit den jungen Katzen spielst und mit Sen Ling Drachen steigen läßt. Du bist noch zu klein, Lan Ying, um über derlei Dinge nachzudenken und dich zu fragen, wie ein Gott auf den Gedanken kommen konnte, alles sei gut, wenn sein Sohn für einen Menschen sterbe, der einen falschen Apfel gegessen hatte‹.«

Jack atmete tief, schüttelte dann mit zusammengekniffenen Augen den Kopf und brummte: »Der Heid', in seiner Blindheit.«

»Ich aber sagte: ›Verehrungswürdiger Vater. Adam aß den falschen Apfel, weil eine Frau, die aus einer seiner Rippen gemacht worden war, ihm den Apfel gab. Eine große Schlange, die sprechen konnte, hatte ihr von dem Apfel erzählt‹, und Sen Ling meinte: ›Machen wir uns darüber keine Sorgen, Lan Ying. Es ist alles so lange her, daß wir uns darum nicht zu kümmern brauchen. Sieh dir die Goldfische an und mach dir keine Sorgen über Gott und seinen Apfel. Geh und bitte die Amah um etwas Krumen. Die Fische sind hungrig.‹ Ich entsinne mich, wie froh ich war, daß der gute Sen Ling mir alles erklärt hatte, ohne mir irgend etwas zu erklären. Ich lachte und sagte: ›Wie komisch, daß der Gott wegen eines Apfels so viel Geschichten gemacht hat. Kümmern unsere Götter sich auch um Äpfel, verehrungswürdiger Vater?‹ Sen Ling erwiderte: ›Ja, meine Tochter, auch wir haben Götter, die sich um ähnliche Dinge kümmern. Aber das geht sie an, nicht uns.‹ Ich fragte: ›Verehrungswürdiger Vater, wenn Sie aus Staub einen Mann gemacht hätten und er hätte einen Apfel gegessen, so würden Sie ihn doch bestimmt nicht verfluchen und Sen Ling mit Nägeln in den Händen sterben lassen, damit die Sache mit dem Apfel in Ordnung komme?‹ Mein Pflegevater antwortete: ›Ich kann nicht aus Staub einen Menschen machen. Geh jetzt und bitte Shu-cheng um Krumen. Wir wollen die Goldfische füttern.‹ Und so …«

Jacks Augen hingen an ihren Lippen, da sie »und so« sagte. Sie lächelte zärtlich, und sein Herz klopfte rascher.

»Und so«, fuhr Lan Ying fort, »ging ich in die Küche, um Krumen zu holen, und wir fütterten die Goldfische. Ich lag auf den Knien, und mein Pflegevater stand gerade und würdevoll neben mir.« Sie lachte bei der Erinnerung. »Ich entsinne mich an mein Spiegelbild im Wasser, du hättest mich mit meinen runden Wangen, der kleinen schwarzen Haarfranse und dem bunt mit Tauben bestickten Kleid nicht von einem wirklichen chinesischen Kind unterscheiden können. Im Wasser sah ich auch das Bild meines Pflegevaters. Sein Gesicht war tiefernst. Er hielt die Hände in den weiten Ärmeln verborgen. Ich fragte mich, ob er noch an unser Gespräch denke. Deshalb wagte ich, während ich den Fischen Krumen streute, zu sagen: ›Es war wirklich arg, der arme Jesus.‹ – ›Ja, meine Tochter‹, entgegnete Sen Ling. ›Es ist wirklich eine traurige Geschichte. Jesus war ein guter Mensch.‹ – ›War er so gut wie Buddha?‹ wollte ich wissen. Und Sen Ling sagte: ›Sie waren beide gute Menschen, Lan Ying, und auch weise.‹ Ich zögerte eine Weile, ehe ich den Mut fand, schüchtern zu sagen: ›Die Lehrerin hat gesagt, wir müssen glauben, was Jesus, nicht aber, was Buddha gelehrt hat.‹ Und Sen Ling antwortete: ›Unsere Lehrer werden dir das Gegenteil sagen, mein Kind; ich aber glaube, daß weder Jesus noch Buddha damit einverstanden gewesen wären.‹«

»Du hattest Glück, Lan Ying«, meinte Jack, da sie verstummt war. »Ich wollte, meine Erziehung hätte in so kompetenten Händen gelegen. Wie seltsam! Dir wurde in China gesagt, daß Jesus ein Gentleman gewesen sei, mir aber wurde, als ich ein Junge war, hier in Amerika gesagt, er sei ein Schwächling gewesen. Es war ein Glück für dich, zu Füßen von Sen Ling zu sitzen.«

Sie schwieg eine Weile. Als sie abermals zu sprechen begann, klang ihre Stimme unsicher. »Manchmal zweifle ich daran, Jack. Die besten Dinge, die ich von meinem Pflegevater gelernt habe, sind gerade jene, die es mir so erschweren, hier glücklich zu sein.«

Jack nickte und meinte, das könne stimmen.

»Eines Tages«, fuhr Lan Ying fort, »kurze Zeit vor meiner Reise nach Amerika, sah ich ihn unter seinem Lieblingsbaum sitzen und setzte mich neben ihn ins Gras. Er lächelte, um mich zu begrüßen, und sagte: ›Ich dachte gerade an dich, meine Tochter. Du wirst bald unter Menschen leben, die aus allen Kräften nach etwas streben. Ich fürchte, der Lärm und das Getue, mit dem sie alles verrichten, werden dich verwirren.‹ Ich erwiderte: ›Verehrungswürdiger Vater, ich nehme in meinem Herzen diesen Garten mit, und wenn sich alles mit mir dreht, werde ich hierher flüchten, um zu meditieren.‹ – ›Das wird gut sein, mein Kind. Aber auch du solltest lernen zu streben, sonst wirst du einsam sein, und deine neuen Freunde werden dich für schrullig halten.‹ Ich fragte: ›Soll ich schnell laufen und Lärm machen?‹ Er lächelte über meine törichte Frage und antwortete: ›Nein, du brauchst weder zu laufen noch Lärm zu machen, doch du mußt lernen, das zu haben, was diese Menschen »Überzeugungen« nennen und mußt dich zu diesen bekennen.‹ Und ich fragte: ›Worüber soll ich Überzeugungen haben?‹«

Jack lachte und erklärte, seit langem nichts so Drolliges gehört zu haben. Auch Lan Ying lächelte und sagte:

»›Du wirst‹, belehrte er mich, ›in einer bestimmten Stadt leben, deren Einwohner glauben, daß sie die beste Stadt im ganzen Lande sei. Fragen sie dich, ob du der gleichen Ansicht seist, so mußt du dies bejahen. Denn wolltest du sagen, du könntest dies nicht beurteilen, weil du nicht in allen Städten des Landes warst, so würden sie dich für unfreundlich halten. Du mußt dich auch sehr bald für eine politische Partei entscheiden.‹ Ich fragte: ›Für welche, verehrungswürdiger Vater?‹ Er erwiderte: ›Das ist einerlei, mein Kind. In der ganzen Welt sind die politischen Parteien einfach Werkzeuge, die von den Menschen zum eigenen Nutzen verwandt werden. Trotzdem mußt du dich für eine entscheiden, am besten für jene, die von den Menschen, mit denen du lebst, vorgezogen wird.‹ Ich fragte zurück: ›Sollte ich nicht, verehrungswürdiger Vater, vorerst die Ziele und Überzeugungen aller politischen Parteien studieren, damit ich weiß, welche meinen Ansichten entspricht?‹ – ›Das ist nicht notwendig. Es wird sogar besser sein, du unterrichtest dich über keine der Parteien. Du wirst ohnehin eine einzige anerkennen und alle andern verdammen müssen.‹«

Jack lachte, doch blieb Lan Ying ernst.

»Ich meinte: ›Aber Sie haben mich doch gelehrt, keine Partei zu ergreifen, und das gefällt mir besser, verehrungswürdiger Vater.‹ Er entgegnete: ›Unsere Art wird dir immer besser gefallen, Lan Ying, aber ich möchte, daß du zufrieden lebst mit deinen Freunden, und diese werden es dir übelnehmen, wenn du nicht strebsam bist. Du darfst in Amerika auch nicht sagen, daß Buddha Gautama ebenso weise und groß war wie Jesus.‹ – ›Aber ich finde es, verehrungswürdiger Vater.‹ Sen Ling jedoch meinte: ›Du darfst diesen Gedanken für dich in deinem Garten, in deinem Herzen hegen, Lan Ying.‹«

Seltsame Stille folgte.

»Jetzt erst fange ich an zu begreifen, Liebste«, erklärte Jack schließlich, »daß du in Tiefen denkst, die ich nicht zu ergründen vermag. Aber ich will mein möglichstes tun, und du kannst gewiß sein, daß ich, mag ich auch nicht die geistigen Erfahrungen besitzen, die mich berechtigen würden, in deinem Garten zu wandeln, zumindest am Tor Wache halten werde.«

»Du bist so gut zu mir, Jack«, flüsterte sie.

»Wollen wir jetzt gehen?« fragte er.

Audrey nahm ihren Mantel.

»Ja, und dann fahren wir aufs Land hinaus«, sagte sie fröhlich. »Ich habe mich schon die ganze Zeit darauf gefreut.«

Jack war beglückt. Keines von ihnen hatte jemals die kleine Episode erwähnt, die der ersten Fahrt aufs Land so viel Bedeutung verliehen hatte. Jack frohlockte bei dem Gedanken, daß auch eine zweite Fahrt das gleiche Glück bringen könnte.

»Ich hole dich in einer Stunde ab«, sagte er, und sie nahmen voneinander Abschied.

 

Sie fuhren auf der Landstraße dahin. Jack war um zehn Uhr in die Klinik gegangen, um sich zu vergewissern, daß seine Patienten ihn nicht brauchten. Die kleine Buckley hatte eine sehr schlechte Nacht gehabt, wies aber jetzt alle Anzeichen eines normalen Fortschritts auf: die Temperatur schwankte zwischen achtunddreißig und neununddreißig Grad, sie war also nicht besorgniserregend.

Der Tag war wunderschön, wie geschaffen für ihre Fahrt ins Feenreich. Der frische Wind strich Audrey um die roten Wangen. Eine goldene Sonne leuchtete vom blauen Firmament herab; doch von Eiche und Ahorn taumelte bereits das Laub zur Erde nieder, während Tanne und Fichte weiter in sattem Grün prangten.

Die Räder summten auf dem Asphalt.

»Ist deine Schwester mit diesem Besuch einverstanden?« fragte Jack. Bisher hatten sie noch nicht über die Einzelheiten von Audreys plötzlicher Abreise gesprochen.

»Ich fürchte, nein. Sie fand es schrecklich unkonventionell«, antwortete sie ernst.

»Ein großes Wort. Kannst du es definieren?«

Audrey runzelte die Stirn, preßte die Lippen zusammen, spielte die Rolle eines auf einen Gedanken stark konzentrierten Menschen.

»Unkonventionell bedeutet in diesem Fall etwas, das wir unserer unerfahrenen Schwester verboten haben, weil Dr. Forrester damit nicht einverstanden wäre«, erklärte sie feierlich.

»Was hat Dr. Forrester damit zu tun?« fragte Jack und versuchte vergeblich, seinen Ärger zu verbergen.

»Ich weiß es nicht. Claudia meinte, Dr. Forrester würde ungehalten sein.« Sie zögerte einen Augenblick. »Hat er denn das Recht, in unsere – unsere Freundschaft dreinzureden?«

Sie hatten die Spitze des Hügels erreicht. Hier war die Straße für jene Autofahrer, die das Panorama genießen wollten, verbreitert worden. Jack fuhr an das Steingeländer und hielt an.

»Lan Ying, du kennst«, sagte er langsam, »das Verhältnis zwischen Dr. Forrester und mir. Wir mögen einander nicht, hängen aber beruflich voneinander sehr ab. Er bietet mir jede Gelegenheit, weiterzukommen, und ich schulde ihm dafür großen Dank. Einige Jahre hindurch habe ich wie ein Sklave seine Wünsche erfüllt, und es würde ihn zumindest stören, verließe ich ihn oder widmete ich ihm nicht mehr meine ganze Zeit. Er betrachtet mich wie ein Rennenthusiast sein junges Pferd, das zu schönen Hoffnungen berechtigt. Das Fohlen wird gut gehalten, streng diätetisch gefüttert, macht genügend Bewegung. Aber eines Tages ist die Zeit gekommen, da es für alle Mühen und Ausgaben, die es verursacht hat, zahlen muß. Stürbe ich, so würde Tubby mich wahrscheinlich vermissen. Würde irgend etwas meine Aufmerksamkeit von meiner Arbeit ablenken …«

»Aber ich bin doch nur eine vorübergehende Ablenkung«, meinte Lan Ying lachend. »Sollte das junge Rennpferd nicht von Zeit zu Zeit einen freien Tag haben, an dem es sich an keine Regeln halten muß? Vielleicht könnte es nach einem Tag auf der Weide noch besser laufen.«

Jack pflichtete mit einem begeisterten Nicken dieser Ansicht bei.

»Tubby freilich«, sagte er, »würde an dem Nutzen eines freien Tages zweifeln. Er selbst setzt auch nicht für einen Tag mit dem Training aus. Übrigens erweckt es den Eindruck, als habe deine Schwester mit Dr. Forrester über unsere Freundschaft gesprochen. Trifft das zu?«

»Vielleicht. Ich meine, daß sie darüber vielleicht gesprochen haben.«

»Du findest es bestimmt merkwürdig, daß ich diesem Menschen gestatte, sich dermaßen in meine persönlichen Angelegenheiten zu mischen. Wir sind nicht befreundet, doch dienen wir beide dem gleichen strengen Herrn, der uns viel mehr bedeutet als unsere Antipathie, unsere Feindseligkeit und unser Eigensinn. Ich habe dir davon bereits erzählt. Vielleicht sollte ich dir darüber noch mehr sagen. Ungefähr vor einem Jahr gelang es mir eines Nachts, bei einem Anfangsstadium von Meningitis eine wertvolle Probe von Rückenmarksflüssigkeit zu gewinnen. Es war Tubby, der mich auf diese Idee gebracht hatte. Ich will dich nicht mit medizinischen Details langweilen, aber die Probe war von ganz besonderer Wichtigkeit, weil wir die Diagnose früher stehen konnten, als das sonst der Fall ist.«

»Die Diagnose wurde doch von dir gestellt, nicht wahr?« sagte Lan Ying loyal.

»Ich erriet es, und Tubby bestätigte es. Deshalb machten wir die Rückenmarkspunktur früher, als die Untersuchung sonst eigentlich möglich ist. In jener Nacht studierten wir reihum im Mikroskop den geheimnisvollen kleinen Fleck. Dann knöpfte Tubby seinen Laboratoriumskittel auf und zog ihn aus. ›Übernehmen Sie es, Beaven‹, sagte er. ›Ihre Augen sind besser als die meinen. Entdeckt einer von uns beiden etwas, so müssen eben Sie es sein.‹ Ich konnte mich eines plötzlichen Mitleids nicht erwehren. Tubby sieht tatsächlich nicht mehr so gut wie früher. Ich hätte ja wissen müssen, daß ich kein Wort der Teilnahme äußern durfte, aber ich platzte heraus: ›Das tut mir leid, Sir. Schließlich ist es Ihr Experiment. Kann ich irgend etwas bei der Detailarbeit helfen, so bleibe ich selbstverständlich gern.‹ Tubby schwieg, bis er Mantel und Hut genommen hatte. Dann brummte er: ›Es ist unser Experiment, mein Sohn‹, und verließ das Zimmer, hinter sich die Türe zuschlagend.«

»Wie schön!« rief Lan Ying.

Jack nahm diesen unerwarteten Kommentar mit einem erstaunten Blick auf – er glaubte, sie habe es ironisch gemeint, was ihr eigentlich gar nicht ähnlich sah, und meinte gedehnt: »Ja, nicht wahr?«

»Das muß ich meinem Pflegevater schreiben«, sagte sie. »Es wird ihn sehr interessieren.«

»Ja, falls er sich für abnormale Psychologie interessiert. Am nächsten Morgen wagte ich Tubby im Operationssaal wie einen gewöhnlichen Menschen zu begrüßen. Er gab kaum ein Brummen von sich. In der Nacht – es mochte gegen eins sein – arbeitete ich wieder an dem Meningitisabstrich, als ich Tubbys Schlüssel im Schloß hörte. Ich blickte nicht auf. Er stand lange Zeit neben mir. Endlich fragte er: ›Schaut etwas heraus?‹ Ich antwortete: ›Nein, wollen Sie sehen?‹ Er zog den Mantel aus, und ich machte ihm auf meinem Sessel vor dem großen Zeiss-Mikroskop Platz. Es hatte seit Stunden geregnet. Nun sah ich, daß Tubbys Hosenbeine naß und schlammig waren. Er saß mindestens eine halbe Stunde vor dem Mikroskop. Dann seufzte er tief und schickte sich zum Gehen an. ›Versuchen Sie's weiter, Beaven‹, sagte er, ›wir werden nie eine bessere Gelegenheit haben.‹ – ›Sie sind ganz naß, Sir‹, bemerkte ich. ›Kamen Sie zu Fuß?‹ – ›Mein Auto ist in Reparatur‹, brummte er. – ›Darf ich Sie heimfahren?‹ – ›Ich kann ein Taxi nehmen‹, brummte er wieder. ›Sie sind hier nicht als Chauffeur angestellt.‹«

Lan Yings Augen waren groß vor Neugierde.

»Herrlich!« rief sie. »Mein Pflegevater wird der Ansicht sein, daß euer gegenseitiges Verhältnis des Nachdenkens wert ist.«

»Dein Pflegevater dürfte finden, daß wir beide, sowohl Tubby als auch ich, verrückt sind.«

»Gewiß nicht.« Sie legte die schlanke Hand auf Jacks Arm.

»Hier treffen sich alle großen Ideen. Bisweilen werden sie von Menschen, die wir nicht ausstehen können, empfangen und weiterentwickelt, von Menschen, die etwas gegen uns haben und die wir selbst beinahe hassen – aber es handelt sich eben um die großen Ideen. Ist es denn nicht ein Beweis für die eigene Größe, wenn wir die Größe von Ideen anerkennen, deren Hüter uns persönlich verhaßte Menschen sind?«

Er sah sie zärtlich an.

»Das ist ein schöner Gedanke, Lan Ying«, sagte er sanft. »Du hast einen gut arbeitenden Kopf – und sehr hübsch ist er auch.«

Sie schüttelte abwehrend den Kopf und erwiderte: »Die chinesische Franse gefällt dir, nicht wahr?«

Jack berührte die schwarzblaue Franse mit den Fingerspitzen und nickte beifällig.

»Als ich ein kleines Mädchen war, berührte bisweilen auch mein Pflegevater meine Stirn, genauso wie du.«

»Du hast Sen Ling sehr lieb«, meinte Jack.

»Ich glaube«, flüsterte sie, »er hätte dich gern, er hat viel für Mut übrig.«

Jack fand diese Bemerkung seltsam, denn sie hatten mit keinem Wort das Thema »Mut« berührt. Während er noch darüber nachdachte, fuhr Lan Ying fort: »Mein Pflegevater hat immer gesagt, daß es zwei Arten von Mut gibt: den Mut der Selbstbeherrschung und den der Kühnheit.«

»Zum Beispiel?« fragte Jack.

»Erinnerst du dich an die alte Legende von den Menschen, die einen Turm bauten, der bis zu den Göttern reichen sollte?«

»Ja. Er wurde nie fertig, nicht wahr?«

Lan Ying schüttelte den Kopf.

»Als sie entdeckten, was für ausgezeichnete Ziegel sie brennen konnten, änderten sie ihre Absicht und beschlossen, der Turm solle ein Denkmal für sie selbst werden. Sobald sie jedoch darauf verzichteten, die Götter zu erreichen, und nur noch für sich selbst arbeiteten, konnten sie einander nicht mehr verstehen. Deshalb wurde der Turm nie fertiggebaut.«

»Und das erklärt«, meinte Jack lachend, »weshalb es auf der Welt so viele Sprachen gibt.«

»Das ist eine phantastische Erklärung. Aber mein Pflegevater meint, alle Völker der Erde würden die gleiche Sprache reden – und einander verstehen –, wären sie weniger darauf bedacht, sich selbst ein Denkmal zu setzen. Doch interessiert nicht dieser Teil der Geschichte Sen Ling. Ihn interessiert die Kühnheit der ursprünglichen Idee. Der Mißerfolg der Turmbauer und deren Verständnislosigkeit füreinander sind nichts Außergewöhnliches. Sen Ling liebt den ersten Teil der Legende, in dem die Menschen beschlossen, mit Hilfe von Ziegeln die Götter zu erreichen.«

»Ein törichtes Streben«, sagte Jack. »Man sollte meinen, daß ein alter Stamm, der klug genug ist, gute Ziegel zu brennen, auch genügend Verstand haben sollte, sich nicht auf derartige Narrheiten einzulassen.«

»Aber das ist es ja gerade«, Lan Yings Augen glänzten. »Auf diese Art kommen die großen Leistungen zustande. Verrückte Pläne! Törichtes Streben! Die Götter geben den Menschen seltsame Gedanken ein, nicht wahr?«

»Weshalb?« Jacks Lippen kräuselten sich abweisend. »Die Götter haben damit gar nichts zu schaffen. Weder ein Gott noch eine ganze Horde von Göttern. Der menschliche Fortschritt ist nichts weiter als Anpassung an die Umgebung; eine allmähliche Verbesserung der Technik, die vom Leben gefordert wird. Vor langen Zeiten entdeckte einmal einer zufällig, man könne einen schweren Stein leichter transportieren, wenn man ihn über Baumstrünke rolle. Nach dieser Entdeckung hatten spätere Generationen nichts anderes zu tun, als bessere Räder herzustellen. Die Götter brauchten keine Eingebung zu senden. Die Urmenschen brauchten keine göttliche Offenbarung, um den Flaschenzug zu erfinden. Sobald das Rad existierte, war der Flaschenzug unvermeidlich. Ein kluger Urmensch machte einen primitiven Flaschenzug, sein Enkel lachte darüber und machte einen besseren. Dazu brauchte man keine Götter.«

Lan Yings Lächeln verhieß eine weitere Debatte.

»Einen Augenblick, Dr. Beaven«, sagte sie schelmisch. »Lassen Sie jetzt mich ein Beispiel wählen. Eines Tages wollte ein Urmensch in seinem Boot weiter aufs Meer hinausfahren. Da er fürchtete, sich zu verirren, sagte er sich: ›Ich werde eine kleine runde Schachtel machen, in der sich eine Nadel befindet, die immer nach Norden zeigt.‹ Erweckt dies nicht den Eindruck, als hätten ihm die Götter diese Idee eingegeben? Und euer Columbus – sind nicht die Götter mit auf seinem Schiff gefahren?«

»Columbus hat nicht Amerika gesucht, Lan Ying«, widersprach Jack. »Daß er es fand, war ein Zufall.«

»Möglich, daß er dies geglaubt hat. Möglich, daß der Mensch, der den Kompaß erfunden hat, etwas ganz anderes herzustellen versucht hatte.« Ihre braunen Augen wurden ernst. »Vielleicht wirst du einmal einen derart seltsamen Zufall erleben«, fügte sie leise hinzu.

»Das wäre sehr aufregend, Lan Ying.«

»Mein Pflegevater erzählte mir einmal, der große Pasteur sei zu seiner Entdeckung gelangt, als er herauszufinden versuchte, was kranken Seidenwürmern fehle. Vielleicht wirst du einmal etwas suchen, um eine verletzte Hand zu heilen, und dabei dem Manne etwas sagen, das ihn zu einer wichtigen Persönlichkeit machen wird.«

»Vielleicht wäre es besser, ich überließe dies den Gesundbetern«, meinte Jack trocken. »Ich arbeite nicht auf diesem Gebiet, Lan Ying.«

»Vielleicht ist dies dennoch dein wahres Gebiet, Jack. Zuerst heilst du die kranke Hand, dann sagst du dem Mann, wie er sie behandeln muß. Da du ihm den Gebrauch der Hand zurückgegeben hast, besitzest du, finde ich, mehr Recht als irgendein anderer, dem Mann zu empfehlen, was er mit dieser Hand tun soll.«

Jack betrachtete sie mit nachsichtigem Lächeln.

»Lan Ying, du hast die merkwürdigsten Ansichten!«

»Hast du das Gesuchte gefunden?« fragte sie, zu dem früheren Thema zurückkehrend. »Das Geheimnis im großen Mikroskop?«

»Nein«, antwortete er verstimmt.

»Ist der Patient sehr krank geworden?«

»Ja. Er war ein neunjähriger Bub, er ist gestorben.«

»Wie schrecklich für seine Familie!« Lan Yings Gesicht spiegelte Erschütterung. »Hatte er Vater und Mutter?«

»Ich fürchte, ich weiß es nicht, Liebste«, gab Jack zu. »Es war Tubbys Fall. Ich machte nur die Punktur. Meine Arbeit war eine Laboratoriumsarbeit.«

»War er ein munterer kleiner Bub wie Teddy?« beharrte Lan Ying.

»Ich habe ihn nie richtig gesehen«, entschuldigte sich Jack. »Als ich ihm die Rückenpunktur machte, lag er selbstverständlich auf dem Gesicht.«

»Und niemand hat dir von ihm etwas erzählt?« Lan Ying schüttelte ungläubig den Kopf.

»Nein. Das wäre nur der Fall gewesen, wenn ich gefragt hätte. Es lag keine Ursache vor, es zu tun. Ich sah auch niemanden von seiner Familie.«

»Du sahst also nur einen kleinen Fleck in einem großen Mikroskop?« flüsterte Lan Ying enttäuscht.

»Ja. Aber – du mußt es recht verstehen, Lan Ying.« Jack versuchte sich zu verteidigen. »Hätten wir an dem kleinen Fleck etwas entdeckt, das für eine Heilung von Nutzen gewesen wäre, das Hunderten und Tausenden von Menschen hätte helfen können – wäre das nicht eine Arbeit gewesen, die einen Menschen zu befriedigen vermag?«

»Vielleicht. Ich dachte nur, daß es schön gewesen wäre, hättest du, am Bett des Kleinen sitzend, zu ihm gesagt: ›Vielleicht hilfst du uns jetzt, etwas zu finden, das andere Kinder gesund und stark machen wird.‹«

Lan Yings Augen prüften wehmütig sein Gesicht.

»Glaubst du, das hätte bei dem Buben Eindruck gemacht?« fragte Jack zweifelnd.

»Der Versuch würde sich jedenfalls gelohnt haben«, sagte Lan Ying sanft.


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