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Elftes Kapitel

Als Tubby am achtzehnten November aus Österreich zurückkam, erfuhr er mit Bestürzung, daß er neuntausend Meilen vergeblich zurückgelegt hatte. Die Cunningham-Vorlesungen und klinischen Vorträge am Krankenbett waren noch eine Sache der Zukunft und wurden von den kindlich idealistischen Mitgliedern des Kuratoriums freudig erwartet.

Tubby hatte als sicher angenommen, daß dieser gefährliche Blödsinn bereits verzapft und – hoffentlich – wieder vergessen sei. Durch diese Annahme beruhigt, hatte Tubby keine Fragen gestellt, und niemand hatte sich die Mühe genommen, ihn aufzuklären.

Um so peinlicher war es für ihn, nun zu erfahren, daß die Unannehmlichkeit, der er hatte ausweichen wollen, ihn daheim erwartete. Die Tatsache, daß Cunningham eine einzigartige Eröffnungsansprache gehalten und den Beifall der Studenten geerntet hatte, daß er im Ärzte-Klub mit Ehren empfangen und von der Presse lobend erwähnt worden war, verschlimmerte nur noch die Situation.

Niemand versuchte, den Schock zu mildern. Tubby, der sich erinnerte, daß das Kuratorium der Medizinischen Fakultät an diesem Nachmittag seine Monatssitzung abhielt, betrachtete es als seine Pflicht, sich bei dieser zu melden und einen Bericht über seine Tätigkeit zu erstatten. Dieser Bericht wurde zwar liebenswürdig aufgenommen, aber durch Osgoods Loblied auf Cunninghams Ansprache sofort in den Hintergrund gedrängt. Die Ansprache habe, erklärte Osgood, der Medizinischen Fakultät in den Augen der Allgemeinheit mehr genützt und den Studenten in den Augen der Fakultät wohler getan als irgend etwas seit Menschengedenken. All dies führte er weitschweifig aus: Lob, Ehre, Ruhm und Preis, mit dem dazugehörigen Halleluja und Amen. Es war für Tubby schrecklich.

»Ich nehme an«, knurrte er spätabends, als er mit Beaven die Angelegenheit wütend wiederkaute, »daß Sie dasaßen und zusammen mit den übrigen applaudiert haben.«

»Wäre es Ihnen lieber gewesen, ich wäre aufgestanden und hätte ihn angegriffen, Herr Professor?« fragte Jack. »Oder hätte ich mich als Einmannkomitee konstituieren und wütend dreinsehen sollen?«

Tubby nickte, und sein säuerlicher Gesichtsausdruck verriet, daß er die Gründe begreife, die seinen undankbaren Partner bewogen hatten, ihn im Stich zu lassen.

»Ich hörte, Sie haben auch dem Empfang beigewohnt und mit Beifall geklatscht, während all das verlacht und verspottet wurde, was Sie beruflich zu repräsentieren hatten.«

Jack zögerte mit der Antwort; als er sie schließlich gab, veranlaßte sie Tubby, vom Sessel zu schnellen.

»Nein, Herr Professor, hat man Ihnen nicht darüber berichtet? Nach Cunninghams Rede im Klub stand ich auf und erklärte, ich wolle als akkreditierter Vertreter Dr. Forresters dessen Abscheu vor dem Gehörten …«

»Wie?« brüllte Tubby und raste mit vor Wut geweiteten Augen im Zimmer umher. »Wie? Sie verdammter Idiot!«

»Beruhigen Sie sich«, bat Jack mit beschwichtigender Gebärde. »Ich dachte nur, Sie möchten vielleicht hören, wie es geklungen hätte.«

Tubby sank auf seinen Stuhl zurück und betupfte sich mit dem Taschentuch die Stirn.

»Sie hätten, ohne meinen Namen hineinzuzerren, Ihre eigenen Gefühle erläutern können«, brummte er.

»Ich bin vollkommen bereit«, erklärte Jack, »hier an der Universität Ihr Sündenbock zu sein, aber Sie müssen mir erlauben, diese Rolle nicht bei einem geselligen Zusammensein des Universitäts-Klubs zu spielen.«

»Ist Ihnen klar, was Sie eben gesagt haben?« Tubby kreuzte auf dem Schreibtisch die Arme und lehnte sich mit ungläubigem Gesicht vor. Seine Stimme zitterte vor Erregung.

Jack nickte.

»Ich hätte«, meinte er, »es längst sagen müssen.«

»Ich habe Sie gemacht, Beaven«, erklärte Tubby, jedes Wort betonend, »und ich kann Sie auch wieder stürzen. Wissen Sie das nicht?«

»Es ist zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich«, erwiderte Jack mit aufreizender Gelassenheit. »Meine Stellung hängt von den Mitgliedern des Kuratoriums ab. Wenn Sie gegen mich Beschuldigungen vorbringen wollen, so werde ich mich zu verteidigen wissen.«

»Beschuldigungen? Beschuldigungen? Würde es nicht genügen, wenn ich dem Kuratorium mitteilte, daß zwischen uns eine harmonische Zusammenarbeit ausgeschlossen sei?«

Jack lachte trocken.

»Wann haben wir je harmonisch zusammen gearbeitet? Ich war jahrelang Ihr Sklave und Ihr Prügelknabe, Dr. Forrester. Das wissen hier alle.«

Von diesem Augenblick an ließen Dr. Forrester und Beaven ihrem ganzen unterdrückten Groll, den sie gegeneinander empfanden und von dem ein großer Teil in ihrem Innern als Satz zurückgeblieben war, freien Lauf. Die Prozedur dauerte über eine Stunde. Als es auf Mitternacht ging, beschlossen sie, ihre gegenseitige Abneigung nicht zu einem öffentlichen Skandal ausarten zu lassen. Jack gab aufrichtig zu, daß er seinem Chef für vieles dankbar sei, doch forderte er jetzt seine Unabhängigkeit.

»Es besteht kein Grund«, meinte er gelassen, »weshalb wir nicht wie bisher zusammen arbeiten sollten. Unser heutiges Gespräch hat unser gegenseitiges Verhältnis nicht im geringsten geändert. Wir haben einander nur offen gesagt, was wir seit langem denken. Das dürfte, glaube ich, die Luft ein wenig gereinigt haben. Und wenn ich impertinent war, so haben Sie selbst dies herausgefordert.«

»Um auf den Punkt zurückzukommen, mit dem unsere Debatte begann: wollen Sie mich glauben machen, daß Sie Cunninghams sentimentale Orgie gutheißen?«

»Nein«, antwortete Jack kurz. »Sie haben keinen Grund, dies oder dergleichen zu glauben. Ich bin ganz Ihrer Ansicht, daß Cunninghams Vorlesungen einen Schritt nach rückwärts bedeuten. Doch finde ich, im Gegensatz zu Ihnen, nicht, daß es vernünftig wäre, dagegen zu protestieren – falls Sie dies wirklich finden sollten, was ich bezweifle.«

»Sind Sie bereit, mit Cunningham freudig zusammenzuarbeiten, wenn er zu den blödsinnigen Vorlesungen am Krankenbett zurückkommt?«

»Ich werde mich ganz nach Ihnen richten, Herr Professor«, erwiderte Jack mit betonter Achtung. »Ziehen Sie in den Kampf, so werde ich mit Ihnen gehen, doch ahne ich, daß ich nicht unter die Fahnen gerufen werde.«

»Sie halten mich für einen Feigling, nicht wahr, Beaven?«

»Nein, ich halte Sie nicht für einen Feigling, Herr Professor; doch muß ich an die alte Geschichte von den tapferen Pionieren denken, die sich einst anschickten, einen Hügel gegen die Indianer zu verteidigen. Als die Rothäute auftauchten, waren ihrer zehnmal mehr, als die Helden erwartet hatten, worauf einer ihrer Weisen erklärte: ›Es gilt allgemein als gute Strategie, angesichts einer gewaltigen Übermacht den Rückzug anzutreten. Da ich etwas lahm bin, werde ich damit sofort beginnen.‹«

»Sehr komisch«, brummte Tubby. »Ich schlage vor, daß Sie Ihren weisen Freund begleiten. Ich bleibe und kämpfe.«

»Sie sind ein guter Kämpfer«, meinte Jack. »Ich sah Sie in Aktion. Sie halten einen tüchtigen Schlag aus.«

 

Während Tubbys Abwesenheit waren keine weiteren Fälle von Kinderlähmung gemeldet worden. Die beiden Fälle, die er am Vorabend seiner Wiener Reise erwähnt hatte, waren entlassen worden, sobald das primäre Stadium überwunden war. Jack hatte keinen der Patienten gesehen, noch wußte er, was aus ihnen geworden war. Er nahm an, daß sie von den Ärzten behandelt wurden, die sie ins Spital geschickt hatten.

Am Morgen nach ihrer stürmischen Unterredung meldete Jack Tubby, daß eben ein fortgeschrittener Fall von Kinderlähmung eingeliefert worden sei. Doane lasse den Professor ersuchen, sich den Patienten anzusehen. Tubby, der eine Nacht verbitternden Grübelns hinter sich hatte, war bereit, nach jeder Waffe zu greifen, mit der er seine beleidigte Würde verteidigen konnte. Er entließ das Romney-Mädchen mit einem kurzen Nicken und fragte dann, weshalb Doane den Fall nicht selbst behandeln wolle. Schließlich sei das doch seine Sache.

»Das möchte Doane eben feststellen, Sir«, erklärte Jack. »Es ist ein Fall, bei dem ein chirurgischer Eingriff nötig sein wird. Doane hat eine sorgfältige Untersuchung angestellt, ist aber der Ansicht, daß die Orthopädie hier nicht ausreiche und daß der Patient in die Hände eines Neurologen gehöre.«

Tubby nahm das Kompliment grinsend zur Kenntnis und taute ein wenig auf. Nach den Prügeln, die er bekommen hatte, brachte beinahe jede Salbe eine Linderung. Jack, ein wenig reuig über die Schläge, die er ausgeteilt hatte, bemerkte erfreut die Wirkung, die die Anerkennung der unsäglichen Weisheit und unübertrefflichen Geschicklichkeit des Chefs auslöste. Er hatte Tubby eins ausgewischt und war nun bereit, dies wiedergutzumachen. Nichts ehrt den Sieger mehr als Großmut.

Vielleicht übertrieb er etwas zu sehr. Tubby verkroch sich in seine Schale wie eine Schildkröte, bis von ihm nur noch die stahlharten mißtrauischen Augen zu sehen waren. – Ja, er wolle sich den Fall ansehen, sobald er vorbeikäme. Beaven könne jetzt gehen – der Ton dieser Worte verriet, daß Tubby ihm nichts Angenehmes wünschte.

Am folgenden Nachmittag führte Tubby die Operation aus. Doane und Jack assistierten, richtiger gesagt, sie standen als Zuschauer dabei. Als bewundernde Zuschauer, denn die Operation war besonders schwierig, und der alte Tubby zeigte sich von seiner besten Seite. Man konnte ihn aus ganzem Herzen, mit ganzem Geist und mit allen Kräften verachten, aber er war ein wundervoller Chirurg, rasch, sicher, präzis, beinahe allwissend in seiner ruhigen Unterbrechung der Nervenfasern und Muskulatur, die den entstehenden Einflüssen eines enthemmten Nervensystems unterlegen waren.

Als die Operation beendet war, flüsterte Doane: »Tubby hat einen sechsten Sinn, den der Festsetzung im Raum. Das einzige andere Geschöpf, das ihn ebenfalls besitzt, ist die Biene.« Er grinste und sagte leise: »Das ist die zweite Ähnlichkeit zwischen Tubby und einer Biene.« Jack fragte nicht nach der andern Ähnlichkeit, er glaubte sie zu kennen. Beide lachten und ließen das Thema fallen.

Einerlei, wie die Operation sich bei dem Patienten auswirken mochte, auf Tubby selbst war sie jedenfalls von einer gewaltigen Wirkung. Er hatte seit langem keine so heikle Arbeit vollbracht, und niemand brauchte ihm zu sagen, daß er an den Fingern einer Hand alle Chirurgen herzählen konnte, die diese Operation ebensogut hätten ausführen können. Das wiedergewonnene Selbstbewußtsein steifte sein Rückgrat und seinen Hochmut und betonte seinen starrenden Blick. Wenn er durch die Korridore der Klinik stolzierte, so verschwanden alle, denen er begegnete, angefangen bei den Kollegen bis hinunter zur Scheuerfrau, in einer Tür. Jack gegenüber verhielt er sich äußerst reserviert. Mußte er ihm etwas mitteilen, so geschah dies durch die erschrockene kleine Romney, die die paar Pfunde, die sie während seiner Abwesenheit zugenommen, nun bereits wieder verloren hatte. Auch das Grübchen in ihrem Kinn war von neuem verschwunden.

Jack befand sich in seinem Privatlaboratorium, das Tubby niemals betrat, als Miss Romney schüchtern den Kopf hineinsteckte und sagte: »Dr. Forrester läßt Ihnen sagen, Sie sollen die Behandlung des Buckley-Kindes übernehmen.«

»Buckley?« wiederholte Jack fragend und schielte auf die Reagenzröhre, die er eben gegen das Licht hielt.

»Die Kinderlähmung, die er operiert hat«, erklärte Miss Romney und trat ins Zimmer.

»Oh, heißt die Patientin so? Ich hatte den Namen vergessen. Warum übernimmt nicht Doane die Behandlung? Es ist doch sein Fall.«

»Ich weiß nicht, Doktor. Ich war gerade bei ihm, um ihm mitzuteilen, daß Sie die Behandlung übernehmen sollen.«

»Treten Sie näher«, sagte Jack.

Miss Romney gehorchte schüchtern und blickte ängstlich zur Tür hinüber, die der Wind zugeworfen hatte.

»Haben Sie genug zu essen?«

»Das ist es nicht, Doktor. Aber ich werde hin und her geschickt und muß Leuten Befehle übermitteln, über die sie in Zorn geraten, und dann lassen sie es an mir aus. Ich ertrage es nicht länger, Dr. Beaven.« Anscheinend zitterten ihre Knie, denn sie sank, im Gegensatz zu ihrem sonstigen bescheidenen Benehmen, auf einen Sessel.

»Sie sind viel zu empfindsam, Romney. Ihr Unglück ist, daß Sie den Instinkt einer Dame haben. Höflichkeit und gute Manieren sind hier ein Handicap.«

»An den Geruch habe ich mich gewöhnt«, meinte sie mit schwachem Lächeln. »Und auch an das Angeschrienwerden. Aber es tut mir weh, wenn Leute mich hassen, weil ich ihnen eine Botschaft überbringe, die sie kränkt. Dr. Doane hat fast der Schlag getroffen.«

»Glaubt er, ich sei daran schuld, daß er die Behandlung des Falles verloren hat?«

»Nun …« Miss Romney machte eine kleine bejahende Geste. »Sie können es ihm erklären. Ich glaube, es würde ihn freuen.«

»Danke für den Tip, Romney. Ich werde ihm die Sache erklären.«

»Er hat sich für den Fall schrecklich interessiert. Ich meine, für die Patientin. Sie ist ein süßes kleines Geschöpf und scheint es daheim recht schwer gehabt zu haben. Der Vater ist einfach unmöglich.«

»Sie scheinen ja sehr gut unterrichtet zu sein.«

»Ich bin ein paarmal hingeschickt worden, um den Temperaturzettel abzuschreiben. Martha liegt im Gemeinschaftssaal. Der Vater sitzt meist den ganzen Nachmittag an ihrem Bett, kritisiert die Ärzte und die Pflegerinnen und macht sich unbeliebt. Martha ist darüber unglücklich und schämt sich. Ich sehe nicht ein, wie sie unter solchen Umständen gesund werden könnte. Ich wette, daß …« Sie brach ab und stand auf.

»Was wetten Sie, Romney?« Er vertrat ihr den Weg.

»Erinnern Sie sich, als Dr. Cunningham hier war? Ich hatte an dem Tag wenig zu tun und hörte mir seine Ansprache an.«

»Ich verstehe. Sie wetten also, daß Dr. Cunningham, wäre er der behandelnde Arzt, etwas unternehmen würde, um die Situation zu verbessern? Was, glauben Sie, würde er tun? Etwa der Kleinen sagen, sie solle sich nicht darüber kränken, daß ihr Vater allen zur Last falle?«

»Ich glaube, er würde mit dem Vater sprechen. Vielleicht ist auch er krank. Es würde sich lohnen, das festzustellen. Jetzt muß ich gehen.« Sie schritt zur Tür und blieb, die Hand auf der Klinke, stehen. »Habe ich zuviel gesprochen?« fragte sie ängstlich.

»Sie haben nur meine Fragen beantwortet, Romney. Pax tecum.«

»Was heißt das?«

»›Geh in Frieden!‹ Reden Sie doch nicht mit mir, als ob ich der Oberhenker wäre.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Miss Romney und huschte zur Tür hinaus.

Dieser kleine Zwischenfall beunruhigte Jack sehr. Während Tubbys Abwesenheit hatte er sich mit Miss Romney angefreundet; sie war in der stillen Atmosphäre aufgeblüht, hatte ihre Sicherheit wiedergewonnen und war bisweilen fast heiter gewesen. Seit Tubbys Rückkehr war sie wieder nur noch ein Nervenbündel.

Nach dem Lunch hatte er Doane aufgesucht und gesagt: »Tubby will, daß ich Ihren Polio behandeln soll. Ich glaube, Sie wissen, daß ich damit nichts zu tun habe und nur dem erhaltenen Befehl nachkomme. Es wäre mir lieber gewesen, wenn Sie den Fall weiterbehandelt hätten, wie sich das so gehörte. Aber – meine Ansicht ist nicht ausschlaggebend. Ich werde den Fall übernehmen müssen. Möchten Sie mir irgend etwas sagen?«

Doane hatte sich sehr anständig benommen, wenngleich ihm anzumerken war, daß seine Moral einer Stütze bedurfte. Er berichtete Jack, was bisher getan worden war, und erging sich über den Ärger, den das Verhalten des Vaters bei ihm hervorgerufen hatte. Dann begaben sie sich zusammen in den Saal, um die Patientin zu sehen. Unterwegs sagte Doane: »Übrigens ist aus demselben Stadtteil noch ein Fall eingeliefert worden, der sehr nach Kinderlähmung aussieht. Eine gräßliche Gegend. Die Ambulanz mußte aus dem Schlamm gezogen werden.«

Thomas Buckley saß am Bett seiner Tochter. Er war ein schäbiger, unangenehmer Mann mit spitzer Nase, unsteten. Augen und verkümmertem Körperbau. Die Ärzte erblickend, zwang er sich zu einem Grinsen. Doane stellte Jack vor, der kurz nickte.

»Guten Tag, Doc«, höhnte Buckley. »Was machen die Trümpfe?«

»Der nächste Trumpf«, erwiderte Jack mit kalter Verachtung, »gehört uns. Sie können sich in einer halben Stunde in meinem Privatlaboratorium in Lister Hall melden. Ein Diener wird Ihnen den Weg zeigen. Falls Sie sich nicht einfinden, so werde ich im Büro mitteilen, daß Sie nicht mehr in die Klinik gelassen werden sollen.«

»Teufel!« schnaubte Buckley. »Das hier ist eine staatliche Institution!«

»Stimmt«, antwortete Jack kurz. »Aber nicht alle staatlichen Institutionen sind Spitäler. Ich rate Ihnen zu tun, was man Ihnen sagt.«

»Schon gut, Doc«, meinte Buckley mit herausforderndem Lächeln. »Ich werde kommen.«

Jack untersuchte ziemlich gereizt das verlegene kleine Mädchen und begab sich dann nach Lister Hall. Er ging die Treppe hinauf, durch den Seziersaal, wo in ordentlichen Reihen weißverhüllte Leichen geduldig auf die schmerzlose Montagsoperation warteten, in den anstoßenden Raum, in dem er seit Jahren einen so großen Teil seiner Zeit verbrachte. Während der letzten Wochen hatte er der Forschung täglich noch mehr Stunden gewidmet und war fast nie vor Mitternacht heimgegangen.

Er prüfte einige Viruskulturen, machte sich Notizen, blickte auf die Uhr und formulierte die Rede, die er dem zornigen Buckley halten wollte. Nach einer kurzen Weile wurde an die Tür geklopft. Es war nicht das arrogante Pochen, das Jack erwartete, sondern ein ganz bescheidenes, leises. Er öffnete die Tür; der Besuch blieb an der Schwelle stehen.

»Kommen Sie herein«, sagte Jack kalt.

»Mein Gott, stinkt es hier«, meinte Buckley mit schwacher Stimme.

»Das finden Sie«, erwiderte Jack trocken, »weil Sie mit den Umständen des Ärzteberufes nicht vertraut sind. Bitte, setzen Sie sich,« Er wies auf einen der hohen Sessel. »Ich staune darüber, Mr. Buckley, daß Sie dieses Laboratorium übelriechend finden. Wir haben alle den Eindruck, als hielten Sie sich für eine Autorität auf medizinischem und chirurgischem Gebiet sowie auf dem der Krankenpflege und der Leitung einer Klinik. Jedenfalls war dies, Ihrer unverblümten Kritik nach, anzunehmen. Und das ist es, worüber ich mit Ihnen reden wollte.«

»Könnte ich ein Glas Wasser haben?« fragte Thomas Buckley unvermittelt.

Jack entkorkte eine Ammoniakflasche.

»Riechen Sie daran«, riet er. »Das Wasser lassen wir für später. Ich hätte Sie nicht für so empfindsam gehalten. Sie machen nicht den Eindruck eines zartnervigen Menschen. Haben Sie was mit dem Magen?«

»Er ist nicht ganz in Ordnung«, brummte Thomas. »Hat in der letzten Zeit zuwenig zu tun gehabt.«

Jack setzte sich auf den zweiten Sessel und bot seinem Besuch eine Zigarette an, die grob zurückgewiesen wurde. Dann zündete er sich selbst eine an.

»Sie wollen damit wohl sagen, daß Sie nicht genug essen. Weshalb? Können Sie die Nahrung nicht verdauen?«

»Ich kann sie mir nicht leisten. Aber das geht Sie nichts an, Doktor. Ich bin nicht gekommen, um Sie anzupumpen. Sagen Sie mir, was Sie sagen wollten, damit ich von hier wegkomme.«

»Was Sie brauchen, Buckley, sind ein paar reichliche Mahlzeiten. Wenn Sie mittellos sind, weshalb wenden Sie sich nicht an die Leute von der Gemeinschaftskasse. Die sind dazu da, sie werden Ihnen helfen.«

»Wir sind keine Bettler! Und es paßt mir nicht, daß die Leute bei mir daheim herumschnüffeln. Sagen Sie mir, weshalb Sie mich sehen wollten, und machen Sie's kurz.«

Die strenge Predigt, die Buckley zugedacht worden war, mußte revidiert werden. Der Kerl war am Verhungern, war vielleicht deshalb so unausstehlich. Jack kamen Cunninghams Bemerkungen über die Unzulänglichkeit der Krankengeschichten in den Sinn.

»Arbeitslos, nicht wahr?«

»Ja.«

»Was für Arbeit können Sie leisten? Was haben Sie früher getan?«

»Was liegt Ihnen schon daran? Sie haben ja doch keine Arbeit für mich. Warum fragen Sie?«

»Nicht aus bloßer Neugier.«

»Warum sonst? Ich kam nicht her, um Sie wegen meiner Gesundheit zu konsultieren, und Sie haben keine Arbeit für mich. Weshalb zum Teufel sollen wir unsere Zeit mit Fragen und Antworten vergeuden?«

Jack konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Ihre Zeit scheint nicht sehr kostbar zu sein«, erwiderte er langsam. »Und ich bin bereit, Ihnen etwas von der meinen zu geben. Los! Sprechen Sie sich aus. Vielleicht wird es Ihnen guttun, mit jemandem darüber zu reden.« Und da Buckley mit nervös zuckendem Gesicht nach einer Entgegnung suchte, fügte Jack hinzu: »Ich weiß, daß es Ihnen keine Freude bereitet, über Ihre Sorgen zu sprechen.«

Thomas rieb sich das knochige Kinn mit dem Rücken der mageren Hand und lächelte gegen seinen Willen.

»Wenn Sie erlauben, Doktor, nehme ich jetzt eine von Ihren Zigaretten.«

Jack bot ihm Feuer an, der Mann paffte einen Augenblick und inhalierte so tief, daß es ihm vor den Augen schwindelte.

»Doktor, Sie sind ein Spezialist«, begann er schließlich und umfaßte mit einer breiten Gebärde alle wissenschaftlichen Instrumente in dem Raum. »In einem gewissen Sinn bin auch ich es.« Er wies auf eines der großen Mikroskope. »Wetten, daß man mit so was sorgfältig umgehen muß. Da kann man sich nicht aufs Raten verlassen. Sehen Sie, ich wurde für eine Arbeit ausgebildet, bei der man nicht raten darf, und ich verlor meine Stellung, weil ich mit Leuten, die raten, den Wettkampf aufnahm. Verstehen Sie?«

»Nein«, entgegnete Jack kurz. »Ich fürchte, daß ich kein Wort verstehe. Erzählen Sie mir mehr darüber.«

»Wissen Sie, wie Flugzeuge hergestellt werden?«

»Keine Ahnung. War das Ihre Arbeit?«

»Doktor, vielleicht glauben Sie mir nicht, aber wenn ein Flugzeug zusammengestellt wird, müssen die einzelnen Teile so genau zueinander passen, daß die Nieten bis auf ein Tausendstel Zentimeter abgefeilt werden. Diese sind so wertvoll, daß sie in einem Safe aufbewahrt werden, in einem richtigen Banksafe. Und wenn man sie einpaßt, müssen sie genau auf eine bestimmte Temperatur erhitzt werden, sonst passen sie nicht in die Löcher der Aluminiumkomposition.«

Jacks Augen glänzten vor Interesse. Er kreuzte die langen Beine, stützte seinen Ellenbogen aufs Knie, legte den Kopf in die Hand und beugte sich aufmerksam zuhörend vor.

»Das ist höchst interessant«, sagte er. »Bitte, sprechen Sie weiter.«

Buckleys Züge hatten den herausfordernden Ausdruck verloren, seine Stimme verriet nun Aufrichtigkeit und Offenheit.

»Wenn sie durchgetrieben wurden und auf der andern Seite flachgetrieben werden, so benützt man, um die andere Seite zu untersuchen, einen Zahnarztspiegel, damit festgestellt werden kann, ob der zweite Nietenkopf überall vollkommen paßt. Es ist eine heikle Arbeit, Doktor.«

»Ich verstehe«, gab Jack respektvoll zu. »Die Sache ist entweder ganz richtig – oder ganz falsch.«

»Ja. Als ich noch nicht Vorarbeiter war und selbst Nieten eintrieb«, meinte Buckley versonnen, »da pflegte ich mir zu sagen – und Sie dürfen nicht glauben, Doktor, daß ich sentimental bin –: wenn die nicht hält, so wird einer, der geglaubt hat, daß das Flugzeug in Ordnung sei, ums Leben kommen. Ich hab' bei der Arbeit immer daran denken müssen.«

»Eine schwere Verantwortung. Ich glaube, Sie hatten die richtige Einstellung.«

»Dann wurde ich Vorarbeiter. Wir hatten viel zu tun, Heeres- und Marinelieferungen. Wir mußten neue Arbeiter einstellen, meist junge Burschen, die nicht gelernt hatten, ordentlich zu arbeiten. Einige von ihnen hatten zwar Erfahrungen mit Stahl und Blech, hatten bis dahin Regenrinnen und Pumpen hergestellt. Paßten die Gewinde um ein Zoll nicht zusammen, so hämmerten sie darauflos, bis sie fast zusammengingen, und der Anstrich verbarg die Ritzen. Flugzeuge dürfen nicht auf diese Art hergestellt werden. Die kann man nicht mit einem Anstrich zusammenhalten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Jack lächelte und meinte, es klinge ganz verständlich.

»Natürlich waren alle in der Gewerkschaft. Ich ebenfalls. Sie lieferten eine Menge Arbeit, die ich nicht durchgehen lassen konnte. Ich zeigte ihnen immer wieder, wie es gemacht werden müsse, aber es lag ihnen nichts daran. Da wurde ich wütend und schmiß die faulen Luder hinaus.« Buckley seufzte und machte mit gespreizten Fingern eine hoffnungslose Gebärde. »Das Weitere können Sie sich wohl denken.«

»Ich weiß es nicht sicher. Wollen Sie sagen, daß Ihnen gekündigt wurde, weil Sie zu streng waren?«

Buckley lachte kurz und zuckte die Schultern.

»Mir wurde gekündigt, weil ich einem Gewerkschaftsinspektor eine heruntergehauen habe. Er kam in die Fabrik gewackelt, wiegte die Schultern wie ein Verkehrspolizist, der jemanden rügen will, und brüllte: ›Was, zum Teufel!‹ Sie können sich denken, wie er sich anstellte. Ich verlor den Kopf. Ich versteh' mich nicht besonders gut aufs Raufen, schlug einfach zu, und der Kerl sackte zusammen wie ein Ochse. Natürlich stand der Chef auf meiner Seite. Aber was konnte er schon tun? Die Gesellschaft verlangte, daß die Arbeit getan werde, und er mußte mir kündigen, er wurde von der Gewerkschaft dazu gezwungen. Ich war so wütend, daß ich im Betrieb vor allen andern meine Mitgliedskarte zerriß und erklärte, ich wolle meinen Namen nicht mit dem der dreckigen Schufte vermischen. Selbstverständlich hat mir das geschadet, als ich eine andere Arbeit suchte.«

»Das kann ich mir denken«, meinte Jack. »Wovon leben Sie jetzt?«

»Meine Frau macht Topflappen – wissen Sie, die Dinger, die man benützt, um sich nicht die Finger zu verbrennen. Und ich gehe damit hausieren.«

»Wo wohnen Sie?«

Buckley machte eine Geste mit dem Kopf und entgegnete düster: »Am Rand der Stadt wohne ich. Auf jener Seite des Wasserreservoirs gibt es billige Kleinwohnungen.«

Jack schob die Brauen hoch.

»Wohnten Sie schon dort, als Martha erkrankte?«

»Ja.«

»Ich hörte, daß aus jenem Viertel noch ein zweiter Fall von Kinderlähmung eingeliefert worden ist. Was für eine Gegend ist das? Die Ambulanz ist im Schlamm steckengeblieben und mußte herausgezogen werden.«

Buckleys Augen zuckten entsetzt, und sein Gesicht verzerrte sich.

»Nein, Doktor, nein! Nicht das fehlt dem Collins-Mädel! Es hatte Influenza, und der Arzt hat gefürchtet, es könne eine Lungenentzündung dazukommen. Wenn die Leute hier sagen, daß es Kinderlähmung hat, sind sie einfach verrückt!«

Jack blickte verblüfft auf den erregten Mann.

»Wir werden es gleich erfahren«, meinte er gelassen, trat ans Telefon und erkundigte sich, in welchen Saal die kleine Collins gebracht worden sei. Noch während er auf die Antwort wartete, glitt Buckley von seinem Sessel und strebte der Tür zu.

»Wenn Sie mit mir fertig sind, Doktor«, sagte er mit zitternder Stimme, »geh' ich.«

»Warten Sie noch einen Augenblick.«

Thomas Buckley lehnte sich gegen die Wand und wartete mit düsterem Gesicht.

»Bitte, verbinden Sie mich«, sagte Jack in den Apparat, »Slattery, pflegen Sie das Collins-Mädchen? – Ist es Polio? – Ja, das hörte ich bereits. – Ich wollte es nur bestätigt haben. – Wie? – Der Infektionsherd im rechten Arm? – Wie beim Buckley-Kind? – Beide sollen aus dem gleichen Viertel kommen. – Ja, sehr merkwürdig. – Nein, das glaube ich nicht. – Ein bloßer Zufall. – Nein, das ist eine phantastische Annahme. Slattery – behandelt Dr. Doane den Fall? Er ist im Saal? – Ich möchte mit ihm sprechen – Doane? Hier Beaven. Ist es Ihnen aufgefallen, daß Ihre Collins-Polio und die meine, die aus demselben Stadtviertel kommen, die gleichen Symptome aufweisen? – Ja, das sagte auch ich – ein bloßer Zufall. Aber nichtsdestoweniger wäre eine Untersuchung angezeigt. – Wir werden uns damit morgen befassen und …«

Jack hörte, daß die Tür leise geschlossen wurde. Er hängte den Hörer zurück und machte sich auf die Verfolgung des fliehenden Buckley, den er in einem der unteren Korridore einholte. Buckley sank gegen die Wand und erbrach, von plötzlicher Übelkeit übermannt.

»Lassen Sie mich los«, stöhnte er. »Das Stinkloch hat mir den Magen umgedreht.«

»Trotzdem sind Sie gelaufen wie ein Hase. Sie haben etwas auf dem Gewissen, Buckley, und Sie werden hierbleiben, bis ich weiß, was es ist.« Jacks Ton ließ keinen Zweifel zu.

»Schon gut, Doktor, ich werd's Ihnen sagen, wenn Sie versprechen, mich nicht zu verpetzen.« Jählings packte ihn die Wut, und er brüllte außer sich vor Zorn und Angst: »Sollten Sie es aber trotzdem tun, so werden Sie es bereuen!«

Jack entgegnete streng, er würde es sich überlegen, sobald sie soweit seien. Dann nahm er den zitternden Mann beim Arm und führte ihn langsam ins Laboratorium zurück. Dort goß er ihm etwas Kognak ein und sagte: »Lassen Sie sich Zeit, aber sagen Sie mir die Wahrheit – die volle Wahrheit. Ich werde sofort merken, wenn Sie lügen. Sie sind ein schlechter Lügner, Buckley. Ich weiß nicht, was Sie angestellt haben, daß Sie jetzt mit Angst und Schuldbewußtsein erfüllt sind, aber was auch immer es gewesen sein mag, es ist besser, Sie sagen es mir als der Polizei.«

»Das Collins-Mädel ist das dritte«, flüsterte Buckley, »außer unserer Martha und noch einem Kind, einem Buben namens Mead. Die Meads sind erst vor einigen Wochen eingezogen. Ich kenne sie nur oberflächlich, kannte aber den Mann, der vor ihnen das Haus bewohnt hat. Er heißt Billows, ist nach Detroit übergesiedelt und arbeitet dort als Maschinenschlosser. Er war sehr geschickt, wie ich – und unten durch wie ich.« Buckley schwieg eine Weile, fuhr dann fort: »Und ein roher Kerl. Einer, dem man nicht in die Quere kommen darf.«

»Und er hat Sie in irgend etwas Unangenehmes verwickelt, nehme ich an. Erzählen Sie weiter. Vor allem aber möchte ich wissen, was aus dem Mead-Buben geworden ist.«

»Er ist daheim. Seine Leute haben nichts für Ärzte übrig.«

»Weshalb glauben Sie, daß er an Kinderlähmung erkrankt ist?«

»Vielleicht ist er es gar nicht.« Buckleys Gesicht erhellte sich. »Er hatte hohes Fieber, und jetzt hat sich alles auf den Arm geworfen. Ich hörte Sie sagen, daß bei den beiden Mädchen der eine Arm gelähmt ist.«

»Welcher Arm ist es bei dem Buben?«

Thomas Buckley zögerte mit der Antwort.

Schließlich gab er widerstrebend zu: »Der rechte.«

»Wir müssen eine Untersuchung einleiten«, sagte Jack. »Ich werde die Behörden von dem Mead-Fall verständigen. So, und jetzt sagen Sie mir, welche Rolle Sie in der Angelegenheit gespielt haben.«

»Vielleicht gar keine. Es war so: wir hatten kein Wasser im Haus, und das alte Schwein, dem es gehört, wollte keine Leitung legen lassen. Vor einigen Monaten erkrankte der Hausbesitzer und schickte immer nur einen Buben, um die Miete einzukassieren, so daß wir nicht wußten, wie es um die Wasserleitung stand. Einer unserer Nachbarn hatte zwar einen Brunnen, doch wurde er gemein und unangenehm, wenn wir ein halbes dutzendmal am Tag Wasser holten. Billows schlug mir eines Tages vor, daß wir uns selber die Leitung legen sollen.«

»Das heißt, daß Sie sich ans Hauptrohr anschlossen, nicht wahr?«

»Ja. Es ging ganz leicht.«

»Nur Ihr und Billows' Haus?«

»Vier Häuser. Collins und ein alter Kerl namens Bower warfen den Kanal für uns aus, und dafür schlossen wir auch sie an.«

»Ach so«, Jack begann zu begreifen. »Und als Sie jetzt die Diagnose der kleinen Collins hörten, zogen Sie Ihre Folgerungen. Sie nehmen an, es komme vom Wasser. Sie haben sich wahrscheinlich zwischen dem Hauptrohr und dem Filterwerk angeschlossen, nicht wahr?«

Thomas nickte.

»Wir werden sofort eine gründliche Untersuchung einleiten müssen«, sagte Jack. »Ich sehe nicht recht, wie Sie und die andern Männer durchrutschen können. Aber da Sie alles aufrichtig gestanden haben, könnten Sie mit einem strengen Tadel von Seiten des Rathauses davonkommen. Ich werde mein möglichstes für Sie tun.«

»Das wird nichts nützen«, brummte Thomas. »Es kommt noch mehr. Dieser Billows – er ist erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden – wird es uns allen heimzahlen, falls er verhaftet werden sollte. Außerdem hat er das Rohr in Wheaton gestohlen.«

»Haben Sie ihm dabei geholfen? Wie hat er es zu euch transportiert?«

»Er wußte etwas Nachteiliges über den Kerl in Wheaton, der ein Lastauto besitzt, und zwang ihn, das Rohr zu uns zu bringen. Verraten wir Billows, so wird er gegen den Mann vorgehen, und dann sitzen wir beide, Sie und ich, in der Patsche. Verstehen Sie? Lassen Sie mich gehen, Doc. Ich werde das Wasser abstellen, damit nichts mehr passiert, und Sie kümmern sich um Ihre eigenen Sachen.«

»Aber das ist meine eigene Sache, Buckley. Das Ergebnis der Untersuchung kann für die Wissenschaft von größtem Interesse sein. Wir können vielleicht etwas entdecken, das uns hilft, diese gefährliche Krankheit besser zu verstehen. Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie nicht bereit sind, etwas zu riskieren, um Hunderte von Kindern vor dem gleichen Leiden zu bewahren, an dem Martha erkrankt ist?«

Thomas Buckley schüttelte den Kopf und machte ein verstocktes Gesicht.

»Sie werden ja ohnehin nichts finden. Ihr Ärzte seid hilflos wie neugeborene Kinder. Ihr werdet nur zum Reservoir gehen, dort herumplanschen, einen langen Artikel voll gelehrt klingender Worte schreiben, und das einzige Ergebnis wird sein, daß Sie eins mit einem Gußrohr auf den Kopf bekommen und ich ins Große Haus geschickt werde, um dort Töpfe zu machen.«

Jack knüpfte seinen weißen Kittel auf. Als er zu dem Kleiderschrank trat, folgte Buckleys Blick ihm.

»Ich gehe jetzt«, sagte er.

»Ich komme mit Ihnen.«

Buckley fluchte.

»Sie werden mich verpetzen, wie?«

Jack schlüpfte in den Regenmantel.

»Kommen Sie«, sagte er freundlich.

Buckley stand auf und schlüpfte hinter ihm her durch den Seziersaal, die Treppe hinunter, zum Autopark.

»Weshalb biegen Sie hier ab?« fragte er, als Jack den Weg zum Geschäftsviertel einschlug. »Bringen Sie mich gleich zur Polizei?«

»Wir gehen in ein Restaurant, Buckley, und essen etwas. Ich habe heute nicht geluncht und bin hungrig. Das sind Sie ja auch.«

»Ich lasse mir von Ihnen kein Essen bezahlen.«

»Gut, dann können Sie mir gegenüber sitzen und zusehen, wie ich ein Lendensteak mit Kartoffeln verzehre.«

»Okay, Doktor. Ich werd' auch eins essen, weiß Gott, ich hab's nötig.«

»Natürlich«, sagte Jack in fast kameradschaftlichem Ton.

»Sie sind ein feiner Kerl, Doktor. Es wird mir leid tun, wenn man Sie mit eingeschlagenem Schädel in einem Graben findet.«

»Ich glaube, es täte Ihnen wirklich leid, Buckley. Übrigens, wie mögen Sie das Steak, weich oder hart?«

Thomas leistete sich ein ironisches Lachen. »Weich – es war in den letzten Jahren immer verflucht hart, eins aufzutreiben.«

 

Als Jack im dritten Stock am Korridortelefon vorbeikam, sagte Miss Warren: »Anruf für Sie, Dr. Beaven. Von Miss Romney.« Sie reichte ihm den Hörer, und er griff danach mit dem Gefühl, daß er etwas Unangenehmes erfahren werde.

»Dr. Forrester«, vernahm er Miss Romneys abgehackte Worte, »läßt Ihnen sagen, daß er gerade aus New York von Dr. Mercer ein Telegramm erhalten hat. Er wurde gebeten, bei dem Jahresbankett der Medizinischen Fakultät am Freitagabend die Festrede zu halten. Dr. Carter aus Baltimore, der sie halten sollte, ist an einer Influenza oder etwas Ähnlichem erkrankt.«

»Und weshalb läßt Dr. Forrester mir das mitteilen?« erkundigte sich Jack in einem nicht gerade liebenswürdigen Ton.

»Bitte, einen Augenblick«, stammelte Miss Romney.

Tubbys Stimme tönte durch den Apparat. »Ich ließ es Ihnen sagen, damit Sie wissen, daß Sie während meiner Abwesenheit Dienst haben. Ich fahre morgen abend.«

»Ich hatte vor, das Erntefest außerhalb der Stadt zu feiern, Sir.«

»Das werden Sie nicht tun. Sie werden hierbleiben. – Wie steht's mit dem Buckley-Fall?«

»Normal.«

»Sie sind noch nicht über den Berg. Diese Regenerationen, die mit dem Narbengewebe zusammenhängen, besitzen die schlechte Gewohnheit, ganz plötzlich wiederaufzuflackern. Das wissen Sie?«

»Dr. Doane wird hiersein, Sir.«

»Ich habe den Fall Ihnen und nicht Doane übergeben, ich erwarte, daß Sie hierbleiben.«

»Gut, Sir«, schnappte Jack.

Doch war es keineswegs gut, und Jack entledigte sich der täglichen Arbeit oberflächlich und mit Unlust. Um sechs Uhr fuhr er heim. Nun war er bereits wütend über die Enttäuschung und überlegte, ob er Audrey und den Cunninghams telegrafieren oder Bill die Angelegenheit am Telefon erklären solle. Er wußte, daß es kindisch sei, derart verärgert zu sein. – Hatte er denn aus den zahllosen, im letzten Augenblick abgesagten Vereinbarungen noch nicht gelernt, daß all dies nur ein wichtiger Bestandteil im Leben eines Arztes war? Und hatte er nicht eben wegen dieser Bedrohung seiner Freiheit beschlossen, nie ein eigenes Heim zu gründen? Audrey würde enttäuscht sein, aber bestimmt die besonderen Anforderungen verstehen, die sein Beruf an ihn stellte.

Er warf Hut und Mantel beiseite, holte ein Telegrammformular aus dem Schreibtisch und begann, seine Entschuldigung an Audrey zu schreiben. Dann fiel ihm etwas anderes ein. Zuerst erschien ihm der Gedanke lächerlich. Claudia würde, selbst wenn die Sache sich arrangieren ließe, es nie erlauben. Doch lohnte der Versuch sich.

Jack suchte im Telefonbuch eine Delikatessenhandlung, um ein Dinner zu bestellen. Endlich fand er einen Namen, den er häufig gehört und gelesen hatte, rief dort an und verlangte den Geschäftsführer zu sprechen. – Er erwarte zum Erntedankfest einen Gast, ob er um sieben Uhr dreißig ein Dinner in die Wohnung geschickt bekommen könne. – Der Geschäftsführer bedauerte, sie seien mit Bestellungen überhäuft, es sei ihnen unmöglich.

Jack war betrübt über die Vereitelung seines Planes. Er schritt im Zimmer auf und ab und suchte einen Ausweg aus dem Dilemma. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. – Weshalb nicht versuchen, einen chinesischen Koch zu bekommen und ein Dinner auftragen zu lassen, das Audrey an daheim erinnerte? Abbott würde wissen, ob dies zu machen war. Er rief seinen Lieblingsschüler an und erklärte ihm, worum es sich handle.

»Wenn Sie gestatten, Sir«, antwortete Abbott, »so werde ich zu Ihnen kommen und das Dinner zubereiten.«

»Darum kann ich Sie wirklich nicht bitten, Abbott.«

»Es wäre eine Freude für mich, Sir. Ich bringe auch Hilfe mit.«

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Abbott. Ich nehme Ihr Anerbieten gerne an. Wollen Sie alle Vorbereitungen treffen? Wir müssen unbedingt Chop Suey haben und alles, was dazugehört.«

Abbott kicherte.

»Kein Chop Suey, Dr. Beaven. Wenn Sie Ihre Freundin an die Speisen erinnern wollen, die sie in Sen Lings Haus gegessen hat, so wäre sie über Chop Suey ebenso erstaunt und belustigt, wie Sie es wären, wenn Sen Ling heiße Würste servieren ließe, um Ihnen Freude zu bereiten. – Also ich werde schon für ein Dinner sorgen, Sir.«

Jack war hocherfreut. Er ließ sich mit Audrey verbinden, und nach einem nervösen Warten hörte er ihre Stimme. Er erklärte, daß er nicht fortkönne, und war gerührt über ihr aufrichtiges »Oh, das tut mir schrecklich leid!«

»Aber«, fuhr Jack fort, »dafür kommen Sie mich besuchen – falls Sie dazu Lust haben. Ich lasse für Sie im ›Livingstone‹ ein Zimmer reservieren. Am Nachmittag fahren wir spazieren. Und das Dinner nehmen wir in meiner Wohnung ein.«

»Ist das … Sie würden es mir sagen, wenn – wenn das unschicklich wäre, nicht wahr?« fragte Audrey mit gedämpfter Stimme.

»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte sie Jack, »es kommen Leute her, die das Dinner zubereiten. Madame Grundy kann ganz beruhigt sein.«

»Oh! Wird diese Madame Grundy kommen? Das ist recht. Dann wird Claudia bestimmt nichts dagegen haben, wenn ich es ihr sage.«

»An Ihrer Stelle täte ich dies nicht. Ihre Schwester kann mir Sie getrost anvertrauen. Das wissen Sie auch, Liebste, nicht wahr?«

»Ja, Jack«, kam es leise zurück.

»Sie kommen also? – Ihr Zug fährt morgen abend um acht Uhr.«

»Ja. Ich freue mich so. Danke, Jack. Es ist so lieb von Ihnen, mich einzuladen.«

»Ich werde Sie auf dem Bahnhof erwarten, Audrey.«

»Vielleicht werden Sie mich noch wiedererkennen«, scherzte sie. »Meinen Namen haben Sie ja nicht vergessen.«

»Nein, Liebste, ich hab' nichts vergessen. – Richtig, noch etwas: Bitte, bringen Sie für unser Dinner ein chinesisches Kostüm mit.«

»Aber – Ihr anderer Gast, diese Madame Grundy, trägt bestimmt amerikanische Kleidung; würde sie es nicht merkwürdig finden, wenn …«

Jack lachte.

»Madame Grundy, Liebste, ist nur ein Name. – Übrigens stammt sie aus einem Drama, das im achtzehnten Jahrhundert viel aufgeführt worden ist. – Sie werden mein einziger Gast sein, Audrey.«

»Das ist schön.« Ihre Stimme klang um vieles heiterer. »Soll ich Mrs. Cunningham anrufen und ihr sagen, daß Sie nicht kommen und daß ich zu Ihnen fahre?«

»Bitte, daß ich nicht komme, ja, was das andere anbetrifft, so tun Sie, was Sie für gut befinden.«

»Das werde ich, Jack. Dann auf Wiedersehen am Donnerstag!«

»Auf Wiedersehen, Audrey!«


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