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Obgleich ihre gegenseitige Abneigung nicht schwächer wurde, vergingen für Jack Beaven die drei Jahre Spitalarbeit (und Lehrlingszeit) unter Dr. Forrester rasch; die interessanten Probleme auf dem Gebiet der Forschung ließen die Zeit verfliegen.
Beavens Arbeit war schwer und ermüdend. Nicht nur, daß er die übliche Spitalsarbeit eines »jungen Haushundes« zu erledigen hatte, es wurde ihm auch in Tubbys Laboratorium immer mehr und mehr schwerere Verantwortung aufgeladen.
Tubby fiel es nie ein, Jack wegen seines Fleißes zu loben oder ein Wort der Anerkennung über die rasche Entwicklung seiner außergewöhnlichen Begabung zu sagen. Doch offenbarte das tollkühne Vertrauen, mit dem er Beaven wichtige Experimente anvertraute, wie sehr er das Wissen und die Geschicklichkeit seines getreuen Assistenten schätzte.
Ihr Verhältnis blieb nach wie vor kalt beruflich. Dr. Forrester erteilte seine Anordnungen auf eine zwingende, knappe, überlegene Art. Jack sagte in genau dem gleichen metallischen, betont respektvollen, doch niemals liebenswürdigen Ton sein »Ja, Sir«. Sie tauschten weder ein Lächeln noch eine Höflichkeitsphrase, sagten einander nie »Guten Morgen« oder »Gute Nacht«, teilten einander nie mit, daß es ein warmer oder ein kalter Tag sei. Sie sprachen auch nie über die Weltlage und über die politischen Verhältnisse, wie aufregend diese auch immer sein mochten. Ganz England konnte in den Streik treten, ein tropischer Orkan konnte die Küste von Florida verwüsten oder Lindbergh nach Paris fliegen, sie erwähnten diese Dinge nicht einmal. Ihre Gespräche waren selten lakonisch und befaßten sich nur mit ihrem Beruf. Wäre eines Morgens verkündet worden, daß die Welt um fünf Uhr nachmittags untergehen werde, keiner von ihnen hätte gewußt oder sich auch nur dafür interessiert, wie der andere dazu stehe.
Hatte jedoch ein Laboratoriumsexperiment eine Phase erreicht, da Erfolg oder Mißerfolg auf dem Spiel stand, da eine scharfsinnige Vermutung widerlegt oder bestätigt werden sollte, so fühlte ein jeder die Anwesenheit des andern sowie das einzige gemeinsame Interesse, durch das sie verbunden waren. Bei solchen Anlässen stießen sie, die gegen das Licht gehaltenen Reagenzgläser anstarrend, freundschaftlich gegeneinander, steckten die Köpfe über unverständliche Röntgenaufnahmen zusammen und frohlockten über ihre Entdeckungen. Sie teilten ihre Freuden oder fluchten gemeinsam, wenn die Sache auf einem Irrtum beruhte oder erfolglos blieb. Zu solchen Zeiten herrschte zwischen ihnen vollkommenes Einvernehmen. Ihr normales Verhältnis, das eines strengen Lehrers gegenüber einem wortkargen Schüler, verwandelte sich in eine solche Harmonie, daß ein jeder, der sie so gesehen haben würde – Seite an Seite, Kopf an Kopf auf den hohen Stühlen nebeneinander sitzend und atemlos die Reaktion einer Lösung beobachtend, in die drei Tropfen einer starken Säure gegossen worden waren –, sie für Vater und Sohn hätte halten können.
Eines Tages, gegen Ende von Beavens zweitem Jahr als Tubbys Assistent, ereignete sich ein Vorfall, der an und für sich recht belanglos war, aber ihr gegenseitiges Verhältnis dennoch grell beleuchtete. Es war Jack nach harter und mühseliger Arbeit endlich gelungen, ein launenhaftes Mikroskop richtig einzustellen. Tubby, abgelenkt durch die eigene Arbeit, wußte nicht, was auf dem Tisch seines Assistenten vor sich ging, und stampfte schwerfüßig zur Tür. Plötzlich wurde er durch Jacks scharfen Befehl aufgehalten: »Vorsicht! Die Tür nicht zuschlagen!«
Der freche Befehl war Jack herausgerutscht. Als er dessen Echo in seinen Ohren vernahm, preßte sich ihm das Herz zusammen. Es wurde ihm bewußt, daß er etwas Schreckliches getan hatte, und in der Erwartung gerechtfertigter Empörung bückte er auf. Tubby legte den Rest seines Weges auf den Zehenspitzen zurück und schloß geräuschlos hinter sich die Tür. Jack baute vor Staunen die Hände zur Faust, biß sich in die Lippe, lächelte dann äußerst befriedigt und machte eine beifällige Gebärde in Richtung der Tür. »Braver Bursche!« rief er. »Das war schön von dir!«
Tubby war eine Bestie. Jack haßte ihn. Wäre ihr Verhältnis anders gewesen, würde Jack den Wunsch empfunden haben, ihm seine ewige Gemeinheit heimzuzahlen. Wenn es sich jedoch im Laboratorium um wichtige Prozesse handelte, war Tubby nicht der feierliche Professor und Jack nicht der unreife Gehilfe. Hier waren sie einander gleich und dienten in Demut demselben Herrn. Jede persönliche Sache – ihre gegenseitige Abneigung, die Unverträglichkeit ihrer Charaktere, der große Unterschied zwischen Stellung, Alter und Erfahrung – alles, worin sie verschieden waren, alles, was der eine am andern verachtete, wurde ignoriert, sobald der gemeinsame Herr an sie eine Forderung stellte. Alles andere wurde beiseite geschoben – Platz der Wissenschaft! –
Jack wünschte häufig zu wissen, wie Tubby zu alldem stand. Er selbst grübelte hin und wieder darüber, bisweilen stirnrunzelnd, bisweilen mit einem breiten Grinsen, immer aber mit einem Gefühl des Stolzes. Das Verhältnis zwischen ihm und Forrester war für beide verdammt peinlich; doch eins ließ sich sagen: ihre persönliche Feindschaft verlieh ihrer Arbeit Würde, die Arbeit war wertvoller als sie selbst, das wußten beide.
Kiplings Ausspruch »Das Schiff ist mehr als die Bemannung« hatte auf Jack schon immer einen großen Eindruck gemacht. Diese Art Tapferkeit erfüllte ihn mit Begeisterung. Faßte jeder intelligente Mensch seine Aufgabe mit einer solchen Hingabe auf, so würde es mit dem menschlichen Fortschritt erstaunlich rasch vorwärtsgehen. Zweifellos war die träge Bewegung der Zivilisation nur durch die mit halbem Herzen gemachten Anstrengungen zu erklären, und dies war die Schuld jener Menschen, die sich durch äußere Interessen ablenken ließen. Diese Menschen wandten das Auge immer wieder vom Ziel ab, sie verbrachten unerlaubt viel Zeit und Gedanken mit den eigenen Dingen. Partner beobachteten einander, ängstlich darauf bedacht, daß der andere kein höheres Honorar erhalte, kein größeres Auto besitze, keinen längeren Urlaub nehme. Das Unglück war, daß sie sich nicht völlig ihrer Arbeit widmeten. Daran krankte die Zivilisation: der Geist der Menschen war allzusehr von Neid und Egoismus erfüllt. Diese Leute pfiffen auf das Schiff, solange sie das bekamen, worauf sie ein Anrecht zu besitzen glaubten: Posten, Lohn, Landurlaub, Pensionen.
Überall, wo Menschen am Werk waren, hatten die Motoren des Fortschritts sich durch die Reibung der nach Beförderung schreienden Persönlichkeiten knirschend heiß gelaufen. Was der Gesellschaft not tat, war ein Äquivalent des Hippokratischen Eids, ehrlich geleistet und anerkannt, getreulich gehalten von jenen, in deren Händen die Wohlfahrt der Welt lag. Bekannte der juridische Beruf, daß das Recht von Gott sei, verbannten Rechtsanwälte und Richter ihre persönlichen Wünsche, ihre Streitigkeiten, ihren Neid und beugten sie sich vor dem majestätisch gelassenen Angesicht der Gerechtigkeit, dann würde die Allgemeinheit das Gesetz achten und auf dessen Pfaden wandeln. Sähen die Pädagogen in ihrem Beruf nicht länger nur den Monatsscheck und höheren Posten, gelobten sie der Sache der Erziehung Treue, dann würden ihre Schüler sich nicht schämen, ihnen nachzufolgen. Verzichteten die Erwählten des Volkes im Parlament und in den Ämtern auf ihre Falschheit, ihre Privilegien, ihre schamlosen Gaunereien, ihre Gier nach Beifall, nach Presseruhm und wahlloser Plünderung, wären diese sogenannten Staatsmänner bereit, dem Patriotismus mit der gleichen selbstlosen Hingabe zu dienen wie die Gelehrten der Wissenschaft – dann würde die Welt in den Sonnenschein eines neuen Tages treten. Die Zivilisation brauchte eine Bemannung, die ihre Pflichten dem Schiff gegenüber begriff.
Beaven hatte das Gefühl, daß sein Verhältnis zu Tubby Forrester zu diesem höchsten Typus des Dienstes an ihrer wichtigen Aufgabe führte. Sie sahen einander nicht als Privatpersonen. Sie vergeudeten keine Zeit mit leerem Geschwätz. Waren sie zusammen, so war für sie nur eins auf der Welt von Bedeutung: ihre wissenschaftliche Forschung.
Bisweilen gestattete Jack seiner Phantasie eine erdachte Szene, die sich auf der Kommandobrücke zwischen dem Kapitän und dem mit ihm Schulter an Schulter stehenden Steuermann abspielte. Ein gefährlicher Sturm tobte, die beiden Männer fühlten füreinander böswillige Verachtung, doch sie erkannten das Schiff als ihren Herrn an. Vielleicht würden die beiden, wenn und falls das Schiff in den Hafen einlief, einen entlegenen Ort aufsuchen und dort ihre Feindschaft auskämpfen. Jetzt aber, in diesem Augenblick dienten sie einem Herrn, dessen Anrecht auf sie so groß war, daß kein anderer es antasten oder schmälern konnte. Er war ihr Gott, ein eifersüchtiger Gott, und außer ihm gab es, soweit es die beiden Männer betraf, keine andern Götter.
So stand es um ihn und Tubby. Die Wissenschaft war ihre Gottheit. Mochten sie einander noch so hassen – sobald ihre Gottheit gesprochen hatte, schoben sie alles andere beiseite. Was lag, angesichts ihrer Gottheit, an den belanglosen kleinen Zwistigkeiten, an ihrer kindischen gegenseitigen Abneigung, ja sogar an ihrem eignen törichten Ich! – Diese Anbetung, dachte Jack, bedeutet tatsächlich etwas. Sie erfüllte ihre Arbeit – eine Arbeit, die die Menschheit von ihren Leiden und ihrem Unbehagen erlösen, von ihren körperlichen Nachteilen befreien sollte. Er und Tubby waren religiös. Das Laboratorium war ihre Kapelle, der Bunsenbrenner ihr Weihrauchfaß, die Crooksröhre ihr Ewiges Licht; das farbige Glas war bei ihnen nicht in den Fenstern, sondern in den Tiefen eines ungewöhnlich starken Mikroskops. Diese Analogie erschütterte Jack. Er suchte in ihr weitere Offenbarungen, sagte sich sogar, daß die armen verstümmelten Leichen im Laboratorium das Recht auf eine glorreiche Auferstehung erhielten; nicht ein phantastisches »Aus-dem-Grab-Steigen« an einem Tag des Jüngsten Gerichts, sondern eine ehrenvolle Möglichkeit, hier und jetzt der Welt zu dienen. Er hätte viel dafür gegeben, um Tubby dies zu sagen und dabei dessen Gesicht beobachten zu können.
Häufig stürzten Kindheitserinnerungen sich auf ihn. Das gesellige Leben der Familie war so eng mit der kleinen Kirche verknüpft gewesen, daß es für ihn fast unmöglich war, an seine Kindheit zurückzudenken, ohne immer wieder auf das Religiöse zu stoßen. Es kam ihm in den Sinn, wie er sich als Junge danach gesehnt hatte, die Verzückung, das Mitreißende, das Erregende eines Geistes zu fühlen, der ihn zu Ehrfurcht, Schauer und Andacht zwingen würde. Es war unmöglich gewesen.
Jetzt, viel später, hatte er das Gefühl, von einem mächtigen Einfluß beherrscht zu werden, der aller Anstrengung wert war. Die Wissenschaft war seine Herrin. Vielleicht war sie nur ein anderer Name des wahren Gottes. Einige seltsame und dunkle Stellen der Bibel, die sein Vater als Morgengebet gelesen hatte, hafteten fest in seinem Gedächtnis. Besonders ein Satz, der damals seine kindlichen Augen vor Staunen geweitet hatte, fiel ihm wieder ein: »Jene fragen nach mir, die nicht nach mir fragen.« Vielleicht stak dahinter eine Wahrheit. Vielleicht war das eifrige Erforschen wissenschaftlicher Geheimnisse tatsächlich ein Suchen nach Gott. Bedeutete aber die Wissenschaft Gott, so wußte man wenigstens, woran man war. Die Wissenschaft kannte weder Launen noch kleinliche Voreingenommenheiten. Sie hatte keine Lieblinge, kein auserwähltes Volk. Vor dieser Gottheit konnte man sich neigen und das Knie beugen, man konnte singen und beten, soviel man wollte, und sich einreden, man sei samt den Seinen von ihr bevorzugt – aber es genügte, gewisse chemische Stoffe in eine falsche Verbindung zu bringen, um von der Gottheit durch eine Explosion als frivoler Atheist eins ausgewischt zu bekommen.
Vielleicht ergab sich eines Tages die Gelegenheit, mit Tubby all dies zu besprechen. Jack ahnte, daß Tubby in seinem Innern Anlage zur Religiosität besaß. Sein unentwegter Hohn über das banale Geschwätz der Sekten verriet jedenfalls sein Interesse für das Thema.
Jack verfügte über wenig freie Zeit und führte keinerlei geselliges Leben. Doch bekümmerte ihn das nicht. In seinem Programm gab es für Frauen keinen Platz, und gesellige Ereignisse führten einen immer mit ihnen zusammen. Jack fühlte sich von ihnen angezogen, sie beunruhigten ihn, lenkten ihn ab. Er begriff recht gut die Zwickmühle, in die die jungen Ärzte an der Klinik gerieten. Sie vernachlässigten ihre Arbeit und begingen, von einer neuen Liebe bezaubert, häufig unverzeihliche Fehler. Um sich gegen einen derartigen geistigen Zusammenbruch zu schützen, mußte man die Frauen meiden und nicht an sie denken. Noch viele Wochen nach seiner Promovierung hatte ihn die Erinnerung an jenes reizende Mädchen gequält, das er im »Livingstone Hotel« gesehen, doch hatte er damals zwischen sich selbst und ihm – dem einzigen Mädchen, das er gern gekannt hätte – einen Trennungsstrich gezogen.
Die meisten seiner jungen Kollegen schimpften über die lange Arbeitszeit und erschwerten sich dadurch diese nur noch mehr. Ihre Klagen steigerten sich bisweilen zu wilder Wut, wenn ihnen um neun Uhr fünfzehn eine unwichtige Arbeit aufgetragen und dadurch ein verheißungsvoller freier Abend verdorben wurde. Und noch dazu wegen einer Sache, die ebensogut um acht oder um eins hätte getan werden können! Einige fanden dieses Leben so schwer, daß sie offen davon sprachen, es aufzugeben. Der Teufel solle es holen!
Jack verspottete ihr Jammern, tröstete sie ironisch mit philosophischen Bemerkungen wie: »Still, still, auch das geht vorüber«, worauf die andern brummten: »Alte Sphinx! Alter Maulwurf! Alte Eule!« Jack wirkte tatsächlich viel älter als die meisten von ihnen. Manchmal verhöhnte er ihre Wut, bisweilen verhehlte er seinen Ekel nicht und erklärte, sie seien eine Eselsherde. Bei solchen Gelegenheiten waren sein Tonfall, die Wahl der Worte Tubbys Art dermaßen ähnlich, daß er darüber auch selbst verblüfft war.
Beavens Arbeit an der Klinik und als Dr. Forresters Laboratoriumsassistent war ursprünglich für die Dauer von vier Jahren geplant gewesen. Am Ende des dritten Jahres jedoch wurde dieser Plan geändert. Tubby war aufgefordert worden, in Edinburgh als Austauschprofessor ein Semester über Gehirnchirurgie zu lesen.
Die Einladung der berühmten Medizinischen Fakultät in Schottland war zum erstenmal vor drei Jahren an Tubby ergangen, doch hatte er bisher nie das Gefühl gehabt, daß er seine Arbeit hier mit gutem Gewissen im Stich lassen könnte.
Eines Nachmittags in der ersten Hälfte des Monats Mai kam er ins Laboratorium, wo Jack damit beschäftigt war, für die mikroskopische Untersuchung ein Gewebe zu färben, und sagte barsch: »Beaven, Sie bilden sich wohl nicht ein, Anatomie genug zu verstehen, um darüber Vorlesungen halten zu können, wie?«
»Für wen?« fragte Beaven gedehnt, ohne aufzublicken.
Tubby legte Hut und Stock auf den Tisch, setzte sich auf einen der hohen Sessel, runzelte die Stirn und verlangte Aufmerksamkeit.
Jack ließ von seiner Arbeit ab und hörte zu.
»Ich werde das erste Semester in Edinburgh verbringen. Ich verpachte meine hiesigen Verpflichtungen. Würden Sie mit Ihren Vorlesungen über Anatomie sehr viel Unfug anstellen?«
»Das müssen Sie wissen, Sir. Was ich über Anatomie weiß, habe ich von Ihnen gelernt.«
Tubbys Lippen verzogen sich zu einem kurzen Lächeln.
»Wahrscheinlich auch Ihre verdammte Frechheit«, brummte er.
»Ja, Sir. Aber ich hätte nie den Mut, in Ihrer Abwesenheit zu unterrichten, falls Sie das damit sagen wollten.«
»Beaven, ich weiß wirklich nicht, weshalb ich Sie hier dulde! Sie sind frech wie der Teufel!«
»O nein, Sir! Doch danke ich Ihnen für Ihre Nachsicht.«
»Das wäre also geregelt. Sie übernehmen für das erste Semester die Vorlesungen über Anatomie. Ich denke, es ist ratsam, Ihre Kenntnisse aufzufrischen. Und vergessen Sie nicht, daß man anfangs mit den jungen Burschen Geduld haben muß.«
»Ja, Sir. Ich werde mich daran erinnern, wie Sie es machen.«
»Sie haben eine leichte Neigung zur Ironie, wissen Sie das?«
Jack grinste.
»Ich höre, daß Sie unsere jungen Ärzte hart anpacken«, fuhr Tubby fort.
»Schließlich haben sie einen ernsten Beruf ergriffen«, verteidigte sich Jack. »Es ist besser, sie kommen schon jetzt darauf.«
»Bilden Sie sich nur nicht ein, daß Sie deshalb, weil Sie wie ein Mönch leben und wie ein Sklave schuften …«
»Ich habe nur Ihren Rat und Ihr Beispiel befolgt, Sir«, unterbrach Jack ihn. »Außerdem – behagt es mir.«
»Unsinn! Keinem Menschen kann eine dermaßen strenge Selbstbeherrschung behagen.«
»Und wie ist es mit Ihnen, Sir?«
Tubby ignorierte die Frage mit einem ungeduldigen Schulterzucken.
»Was ich, Pater Beaven, unter Ihre Tonsur einzugraben versuche, ist die Hoffnung, glauben zu dürfen, daß ich bei meiner Rückkehr die jungen Affen noch immer hier vorfinden werde. Und sehen Sie zu, daß Sie sich nicht verhaßt machen. Dies würde Ihnen gar nicht schwerfallen – sind Sie sich dessen bewußt?«
Dieses Gespräch veranlaßte Jack zum Nachdenken. War er daran, allzu hart zu werden? Sich von allen und allem abzusondern? Er mußte auf dem Weg zur Vereinsamung ein großes Stück zurückgelegt haben, wenn sogar Tubby es notwendig fand, ihn zu warnen.
Er überdachte sein Verhältnis zu den jungen Ärzten, den Pflegerinnen und den Patienten und mußte sich selbst gestehen, daß er für alle diese Menschen kein persönliches Interesse empfand, vielmehr ausschließlich ein berufliches, durch das er mit ihnen unter einem Dache vereinigt war. Er tröstete sich mit dem Bewußtsein, immer äußerst höflich zu allen gewesen zu sein. Dennoch ließ es sich nicht verhehlen, daß er und Tubby Forrester, ihrer persönlichen Abneigung zum Trotz, einander ähnlicher waren als zwei Erbsen der gleichen Schote.
Der junge Dr. Beaven hielt die Hörer des ersten Semesters in Spannung. Tubby, im Februar zurückgekehrt, war mit den in sein eigenes Gebiet fallenden Experimenten derart in Anspruch genommen, daß er keinerlei Lust verspürte, Vorlesungen zu halten. Bisweilen fand er sich im Anatomiesaal ein, schlenderte dort umher, blieb stehen, um einige verzwickte Fragen zu stellen, nahm Zeichnungen in die Hand und warf sie wieder auf den Tisch. Er hatte offensichtlich das Gefühl, sein Assistent leiste gute Arbeit, kümmerte sich daher nicht mehr um den Unterricht und gelobte sich insgeheim, ihn nie wiederaufzunehmen.
Die letzten acht im steten Kontakt mit medizinischen Interessen verbrachten Jahre hatten Jack Beaven eine Reife verliehen, die ihn älter als seine dreißig Jahre erscheinen ließ. Nichts Ausschlaggebendes hatte sich bei ihm verändert, doch waren seine charakteristischen Eigenheiten stärker betont und herangereift. Nie redselig veranlagt, war er äußerst lakonisch geworden. Die körperlichen Übungen hatte er auf eine Stunde täglich heruntergedrückt; er trainierte von fünf bis sechs im Turnsaal mit dem Punchingball. Doch war auch dies mehr eine hygienische Maßnahme als ein Vergnügen. Manchmal unternahm er allein einen langen Spaziergang aufs Land hinaus. Während des letzten Jahres war er mit Rücksicht auf seine Vorlesungen und Laboratoriumsarbeiten von den klinischen Obliegenheiten befreit, doch wohnte er noch immer im Flügel des Spitals.
Körperlich hatte er sich zu einer auffallenden Gestalt entwickelt. Das blonde gelockte Haar war kurz geschnitten. Die starken, durch Reife verfeinerten Züge verliehen ihm ein vornehmes Aussehen. Die tiefliegenden blauen Augen hatten einen durchdringenden Blick, der vielleicht dem neugierigen analytischen Geist hinter ihnen sowie ihrer Vertrautheit mit dem Mikroskop entsprang. Die Arbeit hatte ihn ernst gemacht. Er lachte fast niemals laut. Übrigens brachte ihn sein klösterliches Dasein nur selten mit belustigenden Dingen in Berührung. Sein Lächeln war wenn er lächelte – unerwartet jungenhaft, aber stets nur kurz.
Die Spitalpatienten gaben nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen jede heitere Familiarität mit ihm auf. Es war allen klar, daß er mit ihnen nicht scherzen wollte. Sie erkannten die Tiefe und die Unüberbrückbarkeit des zwischen ihnen und Dr. Beaven gähnenden Abgrunds, was ihr Vertrauen zu seinem Wissen und zu seiner Geschicklichkeit steigerte: sie beobachteten beruhigt die Gelassenheit und Ruhe jeder seiner Bewegungen. Dieser Arzt war kein Spaßmacher, aber er verstand sich auf seinen Beruf.
Es war nicht nötig, zu sagen, daß Dr. Beaven von seiner Arbeit besessen war. Sein starres Gesicht verriet, in welchem Maße er seine Gefühle beherrschte. Er vergeudete keine Zeit mit Komplimenten. Lobte er jedoch einen Patienten wegen seiner tapferen Haltung, so schätzte dieser die wenigen anerkennenden Worte um so mehr.
Dr. Beaven behandelte Patienten und Patientinnen fast gleich. Ohne Worte gab er den Frauen zu verstehen, daß er von ihnen Verstand und Mut erwarte. Sie hatten sein kühles Vertrauen in ihre gute Haltung gern, wenngleich sie von seiner noch kühleren Gleichgültigkeit ihrer Koketterie gegenüber verwirrt wurden. Im Spital zirkulierten allerlei drollige Geschichten über Dr. Beavens brüske Bemerkungen Patientinnen gegenüber, die sich tapfer hielten. Eine der Pflegerinnen erzählte mit Vorliebe, wie er um zwei Uhr morgens in ein Zimmer gekommen war, um nach einer spät am Nachmittag operierten Frau zu sehen, die bei einem Autounfall gebrochene Kinnbacken und tiefe Halswunden davongetragen hatte. Das Gespräch hatte folgenden Verlauf genommen:
Doktor: »Hallo!« ( barsch) »Schmerzt es sehr?«
Patientin: »Nein, Sir.«
Doktor: »Das weiß ich besser. Sie lügen.«
Patientin: »Ja, Sir.«
Doktor: »Aber Sie haben die rechte Haltung.«
Doktor: ( heiter) »Die Lügen großer Männer geben uns ein Beispiel dafür, daß wir unsere eigenen Lügen erhaben gestalten können.«
Patientin: »Ja, Sir. Danke, Sir.«
Dr. Beaven sagte nichts weiter, nicht einmal »Gute Nacht«. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, flüsterte die dickverbundene Patientin: »Er ist wundervoll.«
»Wieso wundervoll?« schnappte die Pflegerin. »Verlieren Sie nicht Ihr Herz an ihn, nur weil er Sie eine Lügnerin nannte, als Sie sagten, daß es nicht schmerze. Er wird nie zärtlich sein – nicht mit Ihnen und nicht mit andern. In seinen Adern fließt eiskalter Zitronensaft.«
Dennoch empfand das ganze Spital für Beaven eine stetig zunehmende Achtung – ein Gefühl, das eine Mischung von Angst und Bewunderung darstellte. Es wurde prophezeit, daß er einmal ein großer Mann sein werde.
»Genau wie Tubby«, fügten die meisten hinzu.
»Nur, daß Beaven keine Tobsuchtsanfälle bekommt.«
»Das stimmt. Er brüllt nicht und flucht nicht – aber bei Gott, er ist hart wie Stein!«
Mitte Juni rief Dr. Forrester eines Nachmittags Beaven in sein Zimmer. Sie standen einander, wie immer, kühl, ohne Begrüßung gegenüber. Tubby wies auf einen Sessel und wandte seine Aufmerksamkeit der umfangreichen Anamnese zu, die er gerade gelesen hatte. Jack ließ die Aufforderung, sich zu setzen, unbeachtet und wartete, zerstreut mit dem baumelnden Stethoskop spielend.
»Wir bekommen morgen vom anderen Ende des Staates einen Fall, der recht interessant sein wird.« Tubby beugte sich vor, glättete die Papiere auf seinem Schreibtisch und klopfte mit dem unvermeidlichen Zwicker vielsagend auf den Stoß. »Er wurde uns von Dr. William Cunningham geschickt. Haben Sie je etwas von ihm gehört?«
Jack nickte lässig. Einen Augenblick lang fühlte er die Versuchung, einen Kommentar abzugeben, doch beschloß er dann, seine Ansichten für sich zu behalten. Gerade damals hörte man viel von Cunningham. Die Ärzte sprachen häufig von ihm. Er genoß einen guten Ruf als Chirurg, war als Diagnostiker äußerst geachtet und als der beste chirurgische Spezialberater des ganzen Saginaw-Bay-Gebietes geschätzt. Andererseits freilich gab er selbst zu, sehr sentimental zu sein. Er war einer jener Altruisten, die sich über die nicht pathologischen Probleme ihrer Patienten graue Haare wachsen ließen: ein typisches Beispiel für das, was Tubby verächtlich »den guten alten Landarzt« nannte.
Tubby hatte Jack gegenüber Cunningham nie erwähnt. Es wäre interessant, seine Ansicht über einen weichherzigen Kollegen zu erfahren, für den die Liebe zur Menschheit das Höchste war. Eigentlich war eine solche Einstellung doch zu sentimental.
»Es handelt sich um eine Reparationsarbeit«, sagte Tubby und tötete mit diesen Worten Jacks Hoffnung auf eine vertraulichere Erklärung. »Der Fall ist chirurgisch falsch behandelt worden, ehe Cunningham ihn in die Hände bekam, der zweifellos imstande wäre, ihn selbst zu behandeln. Doch scheint er seine Gründe zu haben, den Fall einem besseren Rätselrater zu übergeben, als er selbst ist.« Der Chef verstummte und starrte seinen Assistenten zornig an. »Ich denke, Sie halten sich selbst bereits für einen guten Rätselrater, wie? Nun, wir werden sehen.« Etwas mußte Tubby an diesem Morgen ganz besonders kratzbürstig gestimmt haben. Bereit, es seinem Chef mit gleicher Münze zurückzugeben, meinte Jack: »Es kommt ganz darauf an, was ich erraten soll, Sir. Ich bin bereit, zu raten, daß sechsunddreißig Inches ein Yard ergeben, obgleich ich selbst es nie festgestellt habe und es nur vom Hörensagen weiß.«
»Hm«, brummte Tubby. »Eine dumme Bemerkung. Setzen Sie sich! Hol's der Teufel – Sie machen mich nervös!«
Jack setzte sich auf die Stuhllehne und zündete eine Zigarette an.
»Der Patient«, fuhr Tubby fort, sich von neuem in die Krankengeschichte vertiefend, »ist ein siebenjähriger Junge. Er fiel vor sechs Monaten von einer Leiter, sein Arm schlug dabei – ungeschickter kleiner Fratz! – gegen den Pfosten eines Drahtzaunes, wobei eine Spitze den medianen Teil des Armes in der Nähe der Verbindung zwischen dem Mittel- und dem Oberarm durchstieß. Die Folge war eine Kontusion und eine leichte Blutung, doch war die Funktion nicht gestört worden. Es wurde ein einfacher Verband gemacht. Tags darauf empfand der Knabe Schmerzen in der Hand, aber nicht im Arm – sind Sie mir gefolgt?«
»Ja, Sir«, erwiderte Jack hinter einer dicken Rauchwolke hervor. »Mittelnerv.«
»Selbstverständlich.« Der Ton in Tubbys Stimme drückte aus, daß jeder Esel gewußt hätte, es handle sich um eine Verletzung des Mittelnervs. »Zwei Wochen später wurde der Schmerz heftiger. Jetzt war er in der Mitte der Hand lokalisiert. Der zweite und der dritte Finger wurden steif, die Nägel brüchig und glänzend, die Haut wurde trocken. Der Junge entdeckte, daß der Schmerz etwas gelindert wurde, wenn er die Hand feucht hielt, besonders dann, wenn er sie in eine Waschschüssel tauchte.« Tubby hielt inne, um über seinen Zwicker hinweg festzustellen, ob diese Tatsachen seinem Assistenten etwas sagten.
»Natürlich«, brummte Jack in einem Ton, der dem Tubbys verblüffend ähnlich war.
»Von einem Arzt, dessen Name ich nie gehört habe, wurde eine Operation ausgeführt. Er heißt Munson und praktiziert irgendwo dort unten. Die Operation scheint ganz gut ausgeführt worden zu sein, doch blieb sie ergebnislos.« Tubby blickte auf. »Vielleicht erraten Sie, was der Arzt zu tun versucht hat?«
»Soll das eine Prüfung sein?« fragte Jack etwas gereizt. »Ich nehme an, periarterielle Sympathektomie?«
»Stimmt. Doch trat keine Besserung ein. Die Hand war jetzt bereits so empfindlich, daß jeder laute Lärm und jede Bewegung des Straßenverkehrs unerträgliche Schmerzen verursachte. Es handelt sich hierbei um ein Narbengewebe, und Cunningham spricht von einem beunruhigenden Pulsieren.«
»Wahrscheinlich ist der Nerv an der Brachialarterie angewachsen«, meinte Jack.
»Es sieht danach aus. – So, das wäre alles. Jetzt wissen Sie von dem Fall genausoviel wie ich. Ich rief Sie nur, weil sich meine neuen Brillengläser den Augen noch nicht angepaßt haben.« Tubby stand auf und schob seinen Stuhl zurück. »Diese Nervennaht wird eine kitzlige Sache sein. Vielleicht werde ich sie Ihnen überlassen. Nehmen Sie das Zeug mit, auch Cunninghams Brief, alles. Teile des Briefes sind persönlich. Ich hatte keine Zeit, ihn zu redigieren und für Sie eine gekürzte Kopie anfertigen zu lassen. Sie werden sehen, daß Cunninghams Beobachtungen eine weitschweifige Schilderung der Familie des Patienten enthalten, einen ganzen Papierkorb voll belangloser Kommentare, die mit dem Fall nicht das geringste zu tun haben.« Tubbys Stimme klang gereizt: »Das ist Dr. William Cunninghams Hauptsünde, Pater Beaven. Er ist ein guter Chirurg und ein guter Diagnostiker. Er hätte ein großer Mann werden können, er hatte das Zeug dazu – ja, er hätte sogar ein Mitglied unserer Fakultät werden können!«
Tubby war anzumerken, daß Cunninghams Brief die noch glühende Asche einer in die Brüche gegangenen alten Freundschaft geschürt hatte.
»Sie dürfen also nicht zu der Schlußfolgerung gelangen« – Tubby reichte Jack über den Schreibtisch hinweg die Papiere –, »daß Cunningham deshalb, weil er wie bei einem Tee im Mütterklub herumklatscht, nur ein alter Schwätzer ist. Er empfindet ein sentimentales Interesse für die Familie und möchte, daß auf sie besonders Rücksicht genommen werde.«
»Kein Krankensaalfall, nehme ich an?«
»Keinesfalls. Die Leute sind vermögend. Die Mutter bringt das Kind her. Ich habe für sie im ›Livingstone‹ Zimmer besteht. Später wird auch ihre Schwester kommen. Und auch Cunningham will einen Tag hier bleiben, falls er Zeit dazu findet.«
Jack faltete das dicke Dokument, steckte es in die Tasche und strebte der Tür zu.
»Und – Beaven!« rief Tubby.
»Ja, Sir?«
»Ich werde gleich nach Semesterbeginn für einige Tage verreisen. Sie werden diesen Fall während der Rekonvaleszenz behandeln. Selbstverständlich besteht die – unwahrscheinliche – Möglichkeit, daß die Operation zu keinem Erfolg führen wird und wiederholt werden muß. Sollte dieser Fall eintreten, so werden Sie sie ausführen – das ist alles.«
Jack begab sich in Tubbys Laboratorium und las aufmerksam die Anamnese. Cunningham mochte ein geschwätziges altes Weib sein, doch war die Krankengeschichte weit entfernt davon, unzusammenhängend oder oberflächlich zu wirken. Nachdem Jack sie zu Ende gelesen hatte, griff er nach dem persönlichen Brief und las diesen mit sich steigerndem Interesse. Es gingen aus ihm einige Tatsachen über das Verhältnis der beiden klar hervor. Sie waren einst intime Freunde gewesen, aber dann durch irgend etwas voneinandergerissen worden. Vielleicht durch Tubbys Ärger über Cunninghams laienhafte Einstellung dem Ärzteberuf gegenüber. Oder aber durch Cunninghams Erfolg, der Tubbys Lieblingstheorie widerlegte. Vielleicht aber war Cunningham auch etwas gereizt über Tubbys Herzlosigkeit. Jedenfalls waren die beiden seit langer Zeit einander entfremdet. Nicht etwa, daß sie unfreundlich zueinander gewesen wären, aber sie kamen auch nicht mehr einander entgegen. Jack wunderte sich, daß Tubby ihm den Brief zum Lesen gab. Jedenfalls war er ein interessantes Dokument, ein nettes kleines psychologisches Problem.
Jack wandte seine Aufmerksamkeit von dem Problem ab und der näheren Information über den Patienten und dessen Verwandtschaft zu. Der Junge, Theodore King, schien für seine sieben Jahre außergewöhnlich aufgeweckt. Seine Mutter, Mrs. Claudia King, war die Witwe eines Mannes, der in der Bauindustrie eine große Rolle gespielt hatte. Vor ihrer Ehe war sie Privatsekretärin des Präsidenten der Gesellschaft gewesen, und sie hatte diese Stellung nach dem Tode ihres Mannes wiederaufgenommen.
Ihr Vater – als ob dies irgend etwas mit der Heilung der Nervenverwachsung des jungen Theodore zu tun gehabt hätte! – war Kapitän gewesen. Dieser Henry Hilton war viele Jahre zwischen San Francisco und Hongkong gefahren, ein kluger, sparsamer, stattlicher alter Bursche, der ein recht beträchtliches Vermögen zusammengerafft und seine Töchter in guten Verhältnissen zurückgelassen hatte.
»Claudia King hatte es nicht nötig zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen«, klatschte Cunningham in seinem Brief. »Sie tut es ihrer Gesundheit zuliebe. Sie werden ihre Neigung bemerken, ihren glänzenden Geist allzusehr zu betonen. Sie denkt sozusagen in gesperrt gedruckten Worten, verbrennt im Schlaf mehr Kohlenstoff als andere am Tage. Wahrscheinlich wird sie während ihres Aufenthaltes bei Ihnen Ihr ganzes Spital reorganisieren (und es sehr gut machen). Es ist eine Freude, Claudia anzusehen, und eine Strafe, mit ihr zu sprechen. Ihre Monologe sind berühmt. Ist es unbedingt notwendig, ihr etwas mitzuteilen, so packen Sie sie mit der linken Hand beim Kragen und halten Sie ihr mit der Rechten den Mund zu – aber geben Sie acht auf die Finger! Ihre Schwester, die Sie ebenfalls bald kennenlernen werden, hat mit ihr nur drei Dinge gemeinsam: auch sie ist weiß, erwachsen und weiblichen Geschlechts. Aber das ist auch alles. Die Geschichte der zweiten Schwester verdient mehr Raum, als selbst in diesem langen Brief zu finden ist.«
Jack faltete den Brief, steckte ihn in die Tasche seines weißen Kittels und starrte lange zum Fenster hinaus. Er hätte gern die wahrscheinlich recht dramatische Geschichte der gebrochenen Freundschaft zwischen dem exzentrischen Chirurgen von Saginaw-Bay und dem närrischen alten Tubby gekannt.
Ein unwillkommener Gedanke bemächtigte sich Jacks. Wäre es möglich, daß Tubby ihm den Fall King übergab, um Cunningham auf diese Weise zu verstehen zu geben, daß er von ihm in beruflicher Beziehung nichts halte? Cunningham wird mit einem chirurgischen Problem nicht fertig und schickt den Fall an Tubby zur fachmännischen Behandlung: Tubby schnupft verächtlich auf und übergibt den Fall seinem Assistenten. Wäre der alte Tubby wirklich solch einer Gemeinheit fähig? Jack kniff gedankenvoll die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Nein, so etwas tat nicht einmal Tubby! Bestimmt war Tubbys Erklärung ganz ehrlich gewesen. Er hatte neue Zwickergläser. Das war alles.
Tief in seine Gedanken versunken, stieg Jack die Treppe hinab, so daß er nicht einmal die respektvollen Grüße der ihm begegnenden Studenten erwiderte. Er betrat die Bibliothek und begab sich in den Alkoven, wo die Werke über das vegetative Nervensystem standen, und er setzte sich, um einige besonders aufschlußreiche Fälle von Nervenverwachsungen mit der Brachialarterie nachzulesen. Cunninghams menschliches Interesse an dem Fall war vergessen. Die Tatsache, daß der kleine Bub aufgeweckt und seine junge Mutter geistessprühend war, hatte sich nicht in Jacks Gedächtnis eingegraben. Ihm war es einerlei, ob der Knabe ein Halbidiot, die Mutter eine dumme Gans und die geheimnisvolle Tante ein Ungeheuer war. Soweit es ihn betraf, handelte es sich hier eben nur um einen Fall von Nervenchirurgie. –
Eine Stunde später kehrte er in den Anatomiesaal zurück und schritt zwischen den Tischen umher, bis er ein paar junge Studenten fand, die einen Arm gerade in der ihn interessierenden Gegend sezierten.
»Erlauben Sie einen Augenblick«, sagte Jack, zwischen sie tretend. »Ich möchte mir etwas anschaun.«
Sie machten ihm höflich Platz, sie fühlten sich geschmeichelt, daß der schöne und tüchtige Dr. Beaven ihre Leiche beehrt hatte. Der eine wollte den unerwarteten Kontakt mit seinem Anatomielehrer ausnützen und machte einen etwas grausigen Scherz.
»Dieser Herr da wurde uns von der Staatlichen Irrenanstalt geschickt, Dr. Beaven. Pete und ich nennen ihn ›Mr. Plemplem‹.«
Beaven, der von seinem Problem völlig in Anspruch genommen war, runzelte die Stirn und betrachtete den jungen Studenten nur mit einem starren Blick.
»Was sagten Sie?« fragte er wie von fern her.
»Nichts Wichtiges«, erklärte der unselige junge Mann, »nur, daß wir dieses Studienobjekt ›Mr. Plemplem‹ nennen – weil es ein Narr war, wissen Sie.«
»Oh!« sagte Beaven gedehnt und fügte, nachdem er eine Weile mit einer Sonde gearbeitet hatte, hinzu: »Sie müssen sich ihm recht kongenial fühlen.«
Der andere Student unterdrückte ein Kichern, und Beaven blickte ihn über die Schulter hinweg kurz an.
»Eine glückliche Familie«, meinte der Anatom. »Danke, meine Herren.« Er wandte sich ab, nicht ohne die beiden vorher durch ein kaum merkliches Augenzwinkern versöhnt zu haben.
Die Diener des ›Mr. Plemplem‹, rot vor Verlegenheit über den ihnen zuteil gewordenen Spott, kehrten mit großem Eifer zu ihrer Arbeit zurück, hoffend, daß die andern an den Nachbartischen nichts von dem kleinen Zwischenfall mitbekommen hatten. Nach einer Weile flüsterte der, der den unpassenden Witz gemacht hatte: »Herrgott, es wäre mir schrecklich, wenn ich ihn geärgert hätte!«
»Ein lustiger Kauz, was?«
»Ja. Genau wie – Tubby.«
»Wenn ich«, meinte der andere ernst, »über ›Plemplem‹ soviel wüßte wie Beaven …«
»Dann wüßtest du nichts anderes.«
»Ich hätte es auch nicht nötig.«