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Sechzehntes Kapitel

Es kam häufig vor, daß das Kuratorium der Medizinischen Fakultät ein oder zwei Professoren zum Dinner einlud. Bei solchen Anlässen fühlte Tubby sich stets sehr wohl. Er war ein Feinschmecker, und der Vorsitzende, der alte Cremshaw, achtete darauf, daß die Speisen vorzüglich waren.

Außerdem gab es interessante Gespräche, und Tubby wurde ermutigt, seinen Teil beizutragen. Die Mitglieder des Kuratoriums, die den ganzen Tag untereinander gestritten hatten, genossen Tubbys trockenen Spott und kühne Impertinenz. Bisweilen grölten sie vor Lachen, wenn einer von ihnen dem Professor einen scharfen Ball servierte und diesen gleich darauf zurückbekam, ordentlich innerhalb der Linie, aber für ihn unerreichbar. Tubby wußte, was von ihm zu erwarten war, und er gab sich Mühe, die Gastgeber nicht zu enttäuschen.

Das Essen am Dienstag jedoch wurde zu einer der unangenehmsten Erinnerungen seines Lebens. Es hatte mit einem höchst unerfreulichen Nachmittag begonnen. Wäre Bill Cunningham als Fremder an die Universität gekommen und hätte hier alles auf den Kopf gestellt, hätte ein Unbekannter die Studenten mit der Ansicht verseucht, daß es wichtiger sei, »in einem Haus mit offener Tür an der Landstraße zu leben und ein Menschenfreund zu sein«, als den Ruf eines berühmten Pathologen zu genießen, so würde Tubby ihn auf offenem Feld bekämpft und jeden Griff für erlaubt gehalten haben. Doch wußten alle, daß Bill und er ihr Lebtag Freunde gewesen waren. Er wollte mit Bill nicht offen brechen, hätte er es aber wirklich gewollt, so wäre das mit Rücksicht auf Cunninghams Beliebtheit sehr unvorsichtig gewesen.

Tubby war sich noch nie so verloren vorgekommen wie auf der Plattform im Festsaal, da er sehen mußte, wie die Fakultät, deren hohe Qualität zum Teil ihm zu verdanken war, einstimmig und freudig einem Typus Mediziner Beifall zollte, für den Tubby nur Abneigung empfand.

Als die Fakultät sich nach der Aussprache um Cunningham scharte, um ihn zu beglückwünschen, erklärte Tubby Shane kurz, er habe eine Verabredung, drängte sich durch die Menge und eilte über die Hintertreppe hinaus in den Regen. Unterwegs versuchte er die Bemerkungen der Ärzte geflissentlich zu überhören. Er ging in sein Büro, hängte Regenmantel und Schirm an den Haken und griff nach der Nachmittagspost, ohne die geringste Absicht, die eingelaufenen Briefe zu lesen.

Er hatte angenommen, Miss Romney werde bereits heimgegangen sein. Sie saß jedoch noch immer an ihrem Tisch und tippte eine Krankengeschichte. Sie blickte nicht einmal auf. Tubby suchte nach etwas, das zu tun er ihr befehlen könne. Er wollte den Rest seiner Autorität, der ihm geblieben war, ausnützen. Er war so völlig niedergeschlagen, daß es ihn gar nicht gewundert haben würde, wenn die schüchterne kleine Romney ihm als Antwort auf seine Anordnung gesagt hätte, er solle ins Wasser gehen.

Vielleicht wußte sie, was aus Beaven geworden war. Während der letzten Stunden hatte Tubbys bittere Feindseligkeit gegen Jack sich etwas gemildert. Sein Assistent war klug genug gewesen, einzusehen, daß es das beste sei, Cunninghams Vorlesungen gänzlich zu ignorieren. Tubby bedauerte, nicht ebenso intelligent gewesen zu sein. Unfähig, in die allgemeine Begeisterung für Cunningham einzustimmen, hatte Beaven sich einfach ferngehalten.

Tubby räusperte sich laut, und Miss Romney erkannte in dem krächzenden Geräusch die liebenswürdige Art, in der ihr Chef sie an seinen Schreibtisch zu rufen pflegte.

»Wissen Sie, wo Dr. Beaven ist?« fragte er.

»Ich glaube, im Laboratorium, Sir. Soll ich nachsehen?«

Tubby nickte und spielte nervös mit seiner Uhrkette.

»Soll ich ihm sagen, daß Sie ihn brauchen, Sir?«

Tubby zögerte mit der Antwort. Er stand im Begriff, den Kopf zu schütteln, doch überlegte er es sich anders. Die Fehde mit Beaven begann ihn maßlos zu langweilen. Es war lästig, dem Kerl immer ausweichen zu müssen, und überdies sehr unbequem, ohne ihn auszukommen. Tubby begann einzusehen, wieviel Arbeit Beaven ihm abnahm – halb vergessene Obliegenheiten, die dem Chef in der letzten Zeit wieder zugeschoben worden waren. Beaven fehlte ihm, und das besonders im Operationssaal. Früher oder später würden sie sich ja doch versöhnen müssen. Warum nicht jetzt? Heute wurden sie beide durch etwas Gemeinsames verbunden: sie waren wütend auf Cunningham. Sprächen sie darüber zusammen, so könnte sich daraus der erste Schritt zur Versöhnung ergeben.

»Ja«, brummte Tubby barsch. »Wenn er hier ist, soll er zu mir kommen.«

Miss Romney huschte aus dem Zimmer. Eine Minute später kam sie, leicht erregt, wieder zurück.

»Dr. Cunningham ist eben ins Laboratorium gegangen, Sir. Soll ich Dr. Beaven jetzt rufen oder warten, bis er wieder frei ist?«

»Lassen Sie's sein«, knurrte Tubby. Er steckte mit wütendem Gesicht die Briefe in die Tasche, schob polternd die Schreibtischlade zu, zog den Regenmantel an und setzte den durchnäßten steifen Hut auf. Noch nie war er dermaßen deprimiert gewesen. Es war, als sei das Ende seiner kleinen Welt gekommen.

Tubby fuhr in den Universitätsklub. Es war spät, und er hielt auf Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten. Die Tatsache, daß Cunningham nicht zugegen sein werde, gewährte ihm einen kleinen Trost. Shane hatte erzählt, daß Bill eingeladen worden war, sich aber mit anderweitigen Verpflichtungen entschuldigt habe. Offensichtlich war er mit Beaven verabredet. Merkwürdig. Er hatte gar nicht gewußt, daß die beiden so intim waren.

Die Zeit wollte nicht vergehen. Tubby wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er machte es sich bequem und schlüpfte in den Schlafrock. Dann entfaltete er das Abendblatt, warf einen Blick auf die Schlagzeilen und legte die Zeitung beiseite. Nachher fielen ihm seine Briefe ein. Er holte sie aus der Rocktasche hervor und zog den Sessel näher ans Licht. Einer der Briefe war von Claudia King. – »Was«, fragte Tubby sich, »will das dumme Frauenzimmer jetzt wieder?« –

Claudia schrieb:

 

»Lieber Dr. Forrester. Seit einiger Zeit trage ich mich mit dem Gedanken, Sie in einer Angelegenheit, die meine Schwester betrifft, um Rat zu fragen. Bisher habe ich es nur unterlassen, weil ich weiß, wie beschäftigt Sie sind. Nun jedoch ist das Problem brennend geworden, und ich weiß mir nicht mehr zu helfen.

Möglicherweise ist Ihnen Dr. Beavens Interesse für meine Schwester bekannt. Ich hätte nichts dagegen, wenn er ernste Absichten verfolgte, denn er ist ein prächtiger Mensch. Doch er hat Audrey klargemacht, daß er sie nie heiraten wird. Ich glaube, sie ist sehr verliebt in ihn, und deshalb erscheint mir sein Verhalten äußerst unfair. Meine Schwester hat bisher kein normales Leben geführt. Sie ist, wie ich Ihnen erzählte, in China aufgewachsen und kann sich nicht in unser Leben finden. Es bricht mir das Herz, wenn ich sehen muß, wie einsam sie sich fühlt und wie unwahrscheinlich es ist, daß sie sich hier je glücklich fühlen wird. Dies könnte nur dann erreicht werden, wenn sie einen kongenialen Mann heiratet, der ihr ein glückliches Heim und einen Anteil an seinen gesellschaftlichen und beruflichen Interessen bietet.

Wie die Dinge heute stehen, hat sie ihr Herz verschenkt, ohne dafür einen Gegenwert zu erhalten. Dr. Beaven gibt ihr nichts als Freundschaft. Ich finde, daß dies für beide nicht das richtige ist. Selbstverständlich ist auch er in Audrey verliebt. (Sonst hätte er sie bestimmt nicht am Erntedankfest eingeladen.)«

Tubbys Augen wurden hart. So also stand es um Beaven! An allem war das Mädchen, das sich selbst als Chinesin betrachtete, schuld. Diese Audrey hatte Beaven dumme Ideen in den Kopf gesetzt. Das war klar. Beaven hat sich verliebt oder glaubt zumindest, es getan zu haben. Er weiß ja, daß er nicht das Recht hat, sich durch eine Kinderei von seiner Arbeit ablenken zu lassen. Er befindet sich in einer Lage, die ihn unglücklich und nervös macht. Das erklärt seine Impertinenz. Das Dilemma versetzt ihn in Zorn.

Wütend mit den Zähnen knirschend, griff Tubby abermals nach dem Brief.

»Ich hatte daran gedacht, diese unselige Angelegenheit mit den Cunninghams zu besprechen, da Audrey oft mit ihnen zusammen ist. Anscheinend tun sie alles, um ein Zusammenkommen Dr. Beavens mit Audrey zu fördern. Sie haben sie auch jetzt wieder überredet, mit ihnen zu fahren und in der Stadt zu bleiben, solange Dr. Cunningham an der Universität Vorlesungen hält.

Könnten Sie dieses Problem wohl mit Dr. Beaven besprechen? Sie haben ja so viel für ihn getan, und er wird sicher auf Ihren Rat hören. Erklären Sie ihm, daß er einen großen Fehler begehe. – Verzeihen Sie die Belästigung, aber ich habe niemanden, dem ich mich anvertrauen könnte. Bitte, unternehmen Sie etwas!«

 

Tubby warf den Brief auf seinen Schreibtisch, stand auf und ging im Zimmer umher. Ein schönes Benehmen von Cunningham! Es genügt ihm nicht, an der Universität seine abscheulichen Vorlesungen und Klinika abzuhalten, nein, er muß auch noch zu Beavens Verwirrung beitragen, muß den Heiratsvermittler spielen, die beiden jungen Menschen zusammenbringen und dadurch eine Verliebtheit schüren, die gar nicht aufgekommen wäre, wenn er und seine hyperkluge Frau sich nicht eingemischt hätten.

»Sicher wird er auf Ihren Rat hören.« – Das war Claudias Ansicht. Blödsinn! In seinem augenblicklichen Zustand genügte ein Wort, um Beaven zum Äußersten zu treiben. Tubby stellte sich die Szene vor. Er würde Beaven erklären, daß er sich ruiniere, seine Karriere aufs Spiel setze, den Mann, der ihn gemacht habe, bitter enttäusche, woraufhin Beaven dem Mann, der ihn gemacht hatte, sagen würde, er solle sich zum Teufel scheren. Nein, er konnte Beaven keinen Rat erteilen. Jetzt nicht mehr, und vor allem nicht in einer dermaßen persönlichen Angelegenheit. Tubby fühlte tiefe Verstimmung. Am liebsten hätte er das Dinner geschwänzt und wäre zu Bett gegangen.

Doch gab er diesem Impuls nicht nach. Seine Aktien standen ohnehin recht schlecht, es hatte keinen Sinn, sich ganz bankrott zu erklären. Ging er nicht, so konnte dadurch der Eindruck erweckt werden, daß er schmolle, ein demütigendes Erlebnis hinter sich habe, nun daheim sitze und seine Wunden kühle. Nein, er mußte mit den Mitgliedern des Kuratoriums essen und trinken und fröhlich sein.

Gegen neun Uhr dreißig jedoch wünschte er bereits, er wäre nicht zu der Gesellschaft gegangen. Es fiel ihm überhaupt nichts ein, womit er seine Gastgeber hätte unterhalten können. Niemand neckte ihn. Alle waren aufreizend höflich und rücksichtsvoll, als sei er in einem Rollstuhl, einen Schal um den Hals, angefahren gekommen. Das Pech wollte es, daß er zwischen Shane und Denham zu sitzen kam, die über seinen Kopf hinweg über Cunninghams unglaubliche Beliebtheit plauderten und darüber staunten, daß bei einem solchen Wetter der Saal dermaßen überfüllt gewesen sei. Sie besaßen sogar die Frechheit, Tubby zu fragen, ob nicht auch er es erstaunlich finde.

»Ich sehe«, sagte Denham, »weshalb Cunningham der Einladung des Kuratoriums nicht Folge geleistet hat.« Er wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung eines Tisches mitten im Saal, an dem vier Leute saßen. »Er hat selbst Gäste.«

»Wer ist die hübsche Brünette?« erkundigte sich Shane. »Eine Verwandte der Cunninghams? Ich sehe, daß Beaven die Reize der jungen Dame zu schätzen weiß.«

»Die junge Dame«, erwiderte Denham, »hat eine merkwürdige Lebensgeschichte. Sie ist in China geboren und wurde dort erzogen. Ich lernte sie vorigen Sommer bei den Cunninghams kennen.«

»Wirklich? Das erklärt auch die Stirnfransen. Sie stehen ihr übrigens reizend«, meinte Shane.

»Ich dachte nicht nur an die Fransen«, wandte Denham ein. »Die sind nur ein Symbol ihrer Mentalität.«

»Chinesisch eingestellt?« fragte Shane.

»Hundertprozentig. Sie hat die chinesische Gleichgültigkeit gegenüber den westlichen Ansichten über Fortschritt, macht sich über unsere mechanischen Spielereien lustig, meint, wir liefen immer im Kreis herum und zermürbten uns mit Arbeit und Sorgen.«

»Eine ganz nützliche Lehre für Beaven«, warf Shane ein. »Er arbeitet wie ein Vieh.«

»Deshalb hat er es so weit gebracht. Das weiß er auch selbst«, erklärte Tubby.

»Natürlich«, beeilte sich Shane zu antworten. »Natürlich.«

Tubby hätte über dieses Thema gern weitergesprochen, doch war offensichtlich, daß die beiden andern hierzu keine Lust verspürten. Sie fuhren fort, ihm in allem recht zu geben, als sei er ein Greis, dessen verschrobene Ansichten mit einem »freilich, freilich« aufgenommen werden müßten.

Das ging den ganzen Abend so. Tubby war froh, als der alte Cremshaw seinen Sessel zurückschob, sich mit einer abschließenden Gebärde auf die Knie schlug und sagte, sie hätten sich alle ausgezeichnet unterhalten – was nicht im geringsten der Wahrheit entsprach. –

Nach einer schlaflosen Nacht grübelte Tubby den ganzen Tag verstimmt darüber nach, wie er sich in dieser Angelegenheit verhalten sollte. Jetzt hatte es keinen Sinn mehr, mit Beaven wegen ihrer Ablehnung von Cunninghams Programm gemeinsame Sache machen zu wollen. Wenn Cunningham mit Beavens Ansichten auch nicht sympathisierte, so war doch offensichtlich, daß er Cunningham als Menschen sehr gut leiden konnte. Tubby gegenüber hegte Beaven genau die gegenteilige Einstellung. Es wäre sinnlos gewesen, mit dem jungen Mann über irgend etwas zu reden, und noch weit sinnloser, ihm in einer persönlichen Angelegenheit mit einem Rat zu kommen. Es wäre auch vergeblich, mit Cunningham über die Sache zu reden.

Abends daheim fiel Tubby plötzlich ein, ob es nicht angezeigt wäre, mit Miss Hilton selbst zu sprechen. Freilich erschien auch dies ziemlich aussichtslos. Einem verliebten jungen Mädchen wird es schwerfallen, sich für die Zukunft eines Mannes zu opfern. Möglicherweise wäre sie bereit, auf das eigene Glück zu verzichten, um ihn vor dem Ruin zu bewahren, doch müßte das Mädchen ein ganz außergewöhnlicher Mensch sein, um einzusehen, daß ihre gemeinsame Liebe die Arbeit des geliebten Mannes bedrohe. Normalerweise würde das Mädchen erklären, daß diese Liebe sich keineswegs störend auf die Arbeit des Mannes auswirken werde, im Gegenteil: war er zufrieden und verwöhnte man ihn, so würde er weit bessere Arbeit leisten.

Immerhin bestand eine geringe Hoffnung, daß Miss Hilton sich anders verhalten könnte als die übrigen egoistischen kleinen Koketten, die im Universitätsbereich umherliefen und nach einem unermüdlichen Tanzpartner suchten, der sie eventuell fürs ganze Leben versorgen würde. Diese Audrey Hilton genoß den Ruf, orientalisch eingestellt zu sein. Tubby wußte nicht recht, was dies bedeute, doch wurde allgemein angenommen, der Ferne Osten sei stolz auf seine Erhebung, sein Nichtwiderstehen, seinen Frieden um jeden Preis. Der Orientale ist ein Jünger des sanften Buddha, der entweder zu abgeklärt oder zu träge war, um energisch zu handeln. Den buddhistischen Heiligtümern nach war das Licht Asiens kein flammendes Fanal. Buddha saß da und lächelte süß. Nichts konnte ihn zu einer Tat veranlassen. Hielt das Hilton-Mädchen sich an diese Lehren, so konnte man es vielleicht überreden, auf Beaven zu verzichten. Möglicherweise lohnte sich der Versuch.

Tubby grübelte zwei Stunden über diesen Gedanken. Endlich beschloß er, den Versuch zu wagen. Er wollte es am folgenden Morgen tun. Er mußte mit Miss Hilton ein Gespräch unter vier Augen verabreden.

 

Die Fahrt nach Detroit war kurz, sie nahm nur eine Stunde in Anspruch. Edith Cunningham hatte nach dem Frühstück vorgeschlagen, in die Stadt zu fahren und Weihnachtseinkäufe zu machen. Audrey ging auf den Vorschlag ein. Sie verbrachten einen angenehmen Tag, wenngleich Edith nach ihrer Rückkehr über Müdigkeit und Kopfschmerzen klagte.

Als sie in der Portiersloge ihre Schlüssel verlangten, wurde Edith eine Botschaft überreicht.

»Sie kommen nicht zum Dinner«, sagte sie. »Irgend etwas hat sie in der Klinik aufgehalten. Was mich anbelangt, freue ich mich darüber. Ich bin sehr abgespannt, Audrey. Wäre es dir sehr unangenehm, Liebste, wenn ich nicht zum Essen käme? Ich sehne mich nur nach einem Bad und nach einer Tasse Tee.«

Auch Audrey hatte eine Botschaft erhalten, einen versiegelten Umschlag mit dem Monogramm des Universitätsklubs. Sie öffnete den Brief nicht.

»Kann ich etwas für dich tun?« fragte sie besorgt, als sie sich beim Lift trennten.

»Nein, nichts. Mach dir keine Sorgen. Es wird bald besser werden. Ich seh' dich morgen früh, Liebste.«

Audrey legte Hut und Mantel ab und öffnete den Brief. Ihre Augen weiteten sich vor Verblüffung, als sie die Unterschrift Dr. Forresters las.

Tubby schrieb:

 

»Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen eine äußerst wichtige Angelegenheit besprechen. Bestimmen Sie die Zeit. Ich versuchte heute, Sie telefonisch zu erreichen, erfuhr jedoch, daß Sie nicht in der Stadt seien. Vielleicht rufen Sie mich nach Ihrer Rückkehr an. Ich werde nach fünf im Universitätsklub sein.«

 

Die Unterredung mit Tubby jagte Audrey Angst ein. Sie runzelte die Stirn. Antworten mußte sie ihm selbstverständlich, das war nicht zu vermeiden. Jack zuliebe mußte sie Dr. Forresters Wunsch nachkommen.

Sie wählte die Nummer und saß nervös wartend am Apparat. Die barsche Stimme, die sich meldete, klang nicht gerade beruhigend.

»Hier Miss Hilton. Ich erhielt Ihren Brief. Können Sie heute abend herkommen? Mir ist jede Zeit recht. Wir reisen morgen heim.«

»Sind Sie bereits für heute abend verpflichtet?«

»Nein, Sir.«

»Hätten Sie Lust, mit mir im Universitätsklub zu dinieren?«

Audrey zögerte. Lud Dr. Forrester sie zum Essen ein, so mußte er guter Laune sein. Vielleicht nützte es Jack, wenn sie den Wunsch des Professors erfüllte. Wie schön wäre es, wenn es ihr gelänge, dem Hader zwischen den beiden ein Ende zu bereiten.

»Danke, Dr. Forrester, ich komme gern.«

»Soll ich Sie abholen oder Ihnen den Wagen schicken? Etwa gegen acht Uhr dreißig?«

»Ich komme mit einem Taxi, Sir, und erspare Ihnen die Mühe. Also, um acht Uhr dreißig.«

»Ich werde Sie im Empfangsraum erwarten, Miss Hilton. Danke, daß Sie meine Einladung angenommen haben.«

Etwas erleichtert, aber noch immer recht nervös, bereitete Audrey sich auf den Abend vor. Sie verharrte eine Weile versonnen vor dem Kleiderschrank, wählte dann ein modernes schwarzes Seidenkleid, das Jaspiskollier und das Jaspisarmband. Sie holte auch die Jaspisohrgehänge hervor, legte sie aber nach einigem Überlegen wieder fort.

Punkt acht Uhr dreißig wurde sie in den Empfangsraum geführt, wo Tubby ihr im Abendanzug entgegenkam. Sein Lächeln war etwas steif, doch genügte es, um Audrey zu versichern, daß er ihr nicht den Kopf abbeißen würde. Sie streckte ihm die Hand hin, und er verneigte sich mit ernster Würde. Ohne weitere Worte bot er ihr altmodisch den Arm. So schritten sie schweigend in den Speisesaal. Tubby starrte gerade vor sich hin, während sie durch den langen, schwacherhellten Raum zu einem Ecktisch gingen, wo zwei in weiße Jacken gekleidete Kellner auf ihr Kommen warteten. Der Tisch stand ganz abseits von den andern.

Ohne erst ein müßiges Geplauder zu beginnen, fragte Tubby, was sie essen wolle. Er setzte den goldgefaßten Zwicker auf und fragte, ob sie einen Cocktail trinke. Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Vielleicht könnte ich einen Fruchtsaft bekommen.«

»Und als Vorspeise?« fragte Tubby mit trockenem Lächeln. »Ziehen Sie ein vegetarisches Dinner vor? Ich hörte, daß Sie, Miss Hilton, orientalische Sitten und Gebräuche lieben. Ich würde ein Steak vorschlagen, aber vielleicht essen Sie kein Fleisch. Verbietet Ihre Religion Ihnen, Tiere zu Nahrungszwecken zu töten?« Es war offensichtlich, daß Tubby darauf bestand, sie als Ausländerin zu behandeln.

»Ich glaube nicht, daß ich das könnte, Dr. Forrester.«

»Wie bitte?« Tubby lehnte sich vor und sah sie prüfend an. Es wirkte sehr komisch, und Audrey bewahrte nur mit Mühe ihren Ernst.

»Ich habe noch nie ein Tier zu Nahrungszwecken getötet, Sir«, sagte sie naiv. »Aber wenn der Ochse schon einmal tot ist, so kann ich wohl von seinem Fleisch essen. Danke.«

Von da an gab Tubby es auf, ihre exotische Abkunft zu betonen, doch behandelte er sie auch weiter mit besonderer Höflichkeit, als fürchte er, gegen seinen Willen die Ausländerin in ihr zu verletzen. Nun ahnte Audrey bereits, was Forrester dachte. – Sie sei nicht die rechte Frau für Jack, sie sei anders als die übrigen Mädchen, sie entspreche nicht der Norm, und sie hatte Lust, um Eßstäbchen zu bitten.

Tubby arbeitete umsichtig an einer guten Einleitung für sein Argument. Miss Hilton, erklärte er, habe in China wohl eine höchst interessante Zeit verbracht, es müsse ihr schwerfallen, sich der amerikanischen Art anzupassen, und sie freue sich bestimmt auf die Rückkehr in ein Land, das viel stiller und weit weniger verwirrend sei. – Es klang fast, als biete er eine Fahrkarte für die Heimkehr an.

Ja, gab Audrey zu, sie habe das Leben in China und die herzliche Freundschaft im Hause des Pflegevaters sehr geschätzt, doch trage sie sich nicht mit der Absicht, nach China zurückzukehren, zumindest nicht für immer. Jetzt sei Amerika ihre Heimat.

»Aber es gefällt Ihnen hier nicht, wie?« fragte Tubby. »Wir alle sind hier viel zu sehr von unseren Maschinen abhängig, nicht wahr?«

»Wirklich? Ich weiß nur wenig von diesen Dingen.«

Sie waren bereits beim Nachtisch angelangt, als Tubby seine verschiedenen strategischen Versuche aufgab und zum offenen Angriff überging.

»Tatsächlich, Miss Hilton – gerade darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. – Es ist offensichtlich, daß Sie das Schicksal eines vielversprechenden jungen Mannes in der Hand halten.« Er beugte sich vor, beide Ellenbogen auf den Tisch stützend. »Der junge Beaven hat das Zeug in sich, ein bedeutender Wissenschaftler zu werden. Ich beobachte nun bereits seit Jahren seine Fortschritte. Er ist nicht nur ungewöhnlich begabt, sondern auch von starkem Charakter. Er hat sich völlig seiner Arbeit gewidmet, erträgt Mühen und Härten wie ein Soldat, verzichtet auf alle Vergnügungen, auf die seine Jugend ein Recht besäße – nur, um seine ganze Zeit und seinen ganzen Verstand seinem Beruf weihen zu können. Es ist eine edle Aufgabe, die er erwählt hat. Und ich wage zu hoffen, daß er Mittel finden wird, die viel zur Linderung menschlicher Leiden beitragen werden. – Und jetzt, gerade in dem Augenblick, da er die ersten Früchte seiner jahrelangen Aufopferung zu ernten beginnt, kommen Sie.« Tubbys Stimme war nicht ganz fest. Er sprach mit leidenschaftlichem Ernst. »Lassen Sie mich zu Ihnen sprechen wie ein Vater, der seinem Kind einen guten Rat erteilt. Ich verstehe, daß Beaven sich in Sie verliebt hat. Sie sind ein reizendes Mädchen. Ich möchte Sie nicht sympathisch finden, da Sie ja Beavens Karriere im Wege stehen, aber ich tue es dennoch. Sie sind anziehend, begehrenswert. Wären Sie nicht so entzückend, ich würde mir weniger Sorgen machen. – Doch Ihre Schönheit verpflichtet Sie, und darauf setze ich alle meine Hoffnung. Ich glaube, Sie sind vernünftig und, wenn ich nicht irre, stark. Deshalb wende ich mich an Sie im Geiste des fair play. Ich möchte, daß Sie auf Beaven verzichten. Geben Sie ihn seinem Beruf zurück. Er ist verwirrt, unruhig, unglücklich. Sein Geist ist gespalten. Er verliert den Boden unter den Füßen. Sie glauben, daß er Sie liebe. Vielleicht ist das der Fall. Doch hat er lange, ehe er Sie liebte, seinen Beruf geliebt. Wird er Sie noch nach fünf Jahren lieben, wenn er entdeckt, daß das selbstgesetzte, mit so vielen Opfern verfolgte Ziel für ihn nicht mehr erreichbar ist?«

Tubby seufzte tief auf.

»Natürlich können Sie ihn haben. Er wird außerstande sein, Ihrer Zuneigung zu widerstehen. Wenn Sie ihn morgen fragen, ob Sie bei ihm bleiben oder aus seinem Leben verschwinden sollen, so wird er Sie zweifellos bitten zu bleiben. Auch dieses Problem kann nicht von Beaven gelöst werden – es ist Ihr Problem, und soll es gelöst werden, so müssen Sie allein dies tun. Vielleicht werden Sie zur Wohlfahrt der Menschheit nie mehr beitragen können als durch Ihren raschen und endgültigen Entschluß, den Weg des Mannes, den Sie lieben, freizugeben.«

Audrey hatte anfangs versucht, ihre Haltung zu bewahren, doch vermochte sie gegen Tubbys Flehen nicht aufzukommen. Sie fühlte sich hilflos in die Enge getrieben, wehrlos. Nun war der große Speisesaal bis auf sie und Tubby leer. Die letzten Gäste waren bereits gegangen.

»Lieben Sie ihn genug«, fragte Tubby, »um ihm den Weg freizugeben?«

Audrey blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten, und starrte erschrocken, überwältigt in die stählernen Augen ihr gegenüber.

»Finden Sie wirklich, daß ich es tun soll?« fragte sie, halb zu sich selbst sprechend.

»Ja«, antwortete Tubby.

Sie wandte das Gesicht ab und versuchte, sich zu beherrschen. – War es möglich, daß Tubby recht hatte? – Sie erinnerte sich voll Wehmut an jenen Nachmittag am See, da Jack so entschlossen, fast kalt erklärt hatte, sein Leben gehöre der Arbeit, und er habe nicht das Recht, jemanden zu lieben. Vielleicht fühlte er auch jetzt noch so. Vielleicht war er insgeheim wirklich so unglücklich, wie Tubby behauptete. Hatte sie Jack wirklich in eine Lage versetzt, die er selbst hatte vermeiden wollen?

»Ich glaube«, sagte Tubby, als lese er in ihren Gedanken, »nein, ich weiß, daß auch Sie selbst ernste Zweifel hegen. Ist es nicht so?«

Audrey blickte ihn mit verwirrten Augen an und nickte.

»Sie sind ein tapferes Mädchen«, Tubbys Stimme klang belegt, »ich wußte es ja. Ich bin froh, daß ich den Mut aufbrachte, mit Ihnen zu sprechen. Nun überlasse ich es Ihnen, den nächsten Schritt zu tun. Sie werden es selbst am besten wissen. Vielleicht wäre es das einfachste, Sie kehrten für ein oder zwei Jahre nach China zurück, um Beaven die Möglichkeit zu geben, sich zusammenzureißen.«

Eine lange Pause trat ein. Audrey saß, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, die kleinen Fäuste gegen den Hals gepreßt, schweigend da. Schließlich nickte sie. Sie hielt die Augen geschlossen, und heiße Tränen sickerten jetzt durch ihre langen Wimpern.

»Gut«, sagte sie. »Ich werde – nach China zurückgehen.«

Tubby machte eine Verbeugung.

»Kann ich etwas für Sie tun, liebe Freundin?« fragte er beinahe sanft.

»Nein – nichts, danke.«

»Können Sie die Reise unternehmen – ich meine, geht es finanziell?«

»Bitte, sagen Sie nichts mehr, Dr. Forrester.«

»Es war gut gemeint«, erklärte Tubby.

Audreys Aufmerksamkeit wurde durch einen Mann abgelenkt, der eilig auf ihren Tisch zukam. Er mochte ein Büroangestellter sein.

»Sie werden ans Telefon gebeten, Dr. Forrester«, sagte er, sichtlich erregt.

»Ich habe doch hinterlassen, daß ich nicht gestört werden will«, erklärte Tubby ärgerlich. »Sagen Sie, man soll mich später anrufen.«

»Bitte, Sir«, beharrte der Mann, »es ist sehr wichtig! Ich sagte, Sie dürften nicht gestört werden. Aber jemand ist schwerverletzt.«

»Ich komme in einer halben Stunde.«

»Aber, Sir!« beharrte der Mann weiter. »Dr. Beaven ist schwerverletzt, er ist nicht in der Klinik.«

»Wie?« Tubby schob den Sessel zurück, erhob sich mit einem Ruck und folgte dem Mann, ohne noch einen Blick für Audrey übrig zu haben.

Eine Sekunde blieb sie wie betäubt und zitternd sitzen, dann stieß sie einen leisen schmerzlichen Schrei aus, stand auf und folgte den beiden Männern.

Tubby war bereits in der Telefonzelle. Die schmale Tür stand offen. Audreys Knie zitterten. Sie lehnte sich, eine Stütze suchend, gegen die Tür und stand nun so dicht neben Tubby, daß ihre Wange gegen seinen Arm gepreßt war. Sie lauschte mit geöffneten Lippen, alle Fibern bis zum Reißen gespannt.

Eine Frauenstimme sprach aus der Klinik. Aus Wheaton sei ein geheimnisvoller Anruf gekommen. Dr. Beaven sei anscheinend unter einem Vorwand irgendwo hingelockt und in eine Schlägerei verwickelt worden. Der Mann, der anrief, sagte, er sei bei Dr. Beaven geblieben, um ihn nicht sterben zu lassen. Er verlange zweihundert Dollar, um fliehen zu können. »Sie sollen auf der Straße nach Wheaton Highway Nummer 6, Bürgerschule, fahren. Dort werden Sie erfahren, wo Dr. Beaven sich befindet.«

»Einen Augenblick«, sagte Tubby mit erstickter Stimme. Er wandte sich an Audrey: »Bringen Sie Papier und Bleistift – rasch! Dort drüben in der Portiersloge.«

Sie war in ein paar Sekunden zurück, legte einen Notizblock auf das schmale Sims in der Telefonzelle und reichte Tubby einen Bleistift.

»Weiter!« sprach er in den Apparat. »Bürgerschule. Und dann?«

»Auf der obersten Stufe der Freitreppe werden Sie Dr. Beavens leere Tasche finden, zum Beweis, daß es kein Schwindel ist. Sie sollen das Geld in die Tasche legen und fortgehen. Nach fünfzehn Minuten sollen Sie zurückkommen. In der Tasche werden Sie einen Zettel mit der Auskunft finden, wie Sie zu Dr. Beaven gelangen können.«

»Sofort die Ambulanz!« befahl Tubby. »Sie soll mich hier abholen. Ich warte am vorderen Eingang.«

»Nein«, widersprach die Stimme im Telefon. »Das war besonders betont worden: Keine Ambulanz! Keine Polizei! Sie sollen im eigenen Auto kommen! – Können wir inzwischen irgend etwas tun, Sir?«

»Lassen Sie ein Zimmer in Ordnung bringen und warten Sie auf weitere Instruktionen.« Tubbys zittrige Stimme klang wie die eines alten Mannes. Als er die Telefonzelle verließ, taumelte er und stieß gegen Audrey.

»Ich muß gehen«, sagte er. »Sie werden wohl allein ins Hotel zurückfinden?«

»Bitte«, flehte Audrey, »lassen Sie mich mitkommen!«

»Nein! Nein!« wehrte Tubby energisch ab. Er schritt eilends in Richtung des Lifts. Audrey klammerte sich an seinen Arm. Doch er blieb hart. »Nein! Es ist zu gefährlich! Wir wissen nicht, was uns dort zustoßen kann! Es hat keinen Sinn, daß Sie sich einer Gefahr aussetzen. Sie können ja doch nichts tun!« Er schüttelte ihre Hand ab und stieg in den Lift, dessen Tür sich zwischen ihnen schloß.

Eine Weile stand Audrey wie betäubt da und überlegte fieberhaft. Der Hotelangestellte trat zu ihr und fragte, ob er für sie etwas tun könne. Sie schüttelte den Kopf, und zitternd suchte sie die Garderobe auf, wo Tubby ihren Pelzmantel abgegeben hatte. Da hörte sie das Telefon klingeln und den Telefonisten sagen: »Sofort, Sir.« Und gleich darauf sagte dieselbe Stimme: »Bringen Sie Dr. Forresters Auto zum vordern Eingang! Aber schnell!«

»Soll ich ein Taxi rufen, Miss?« fragte der Hotelangestellte, dem Audreys Verwirrung offensichtlich leid tat.

»Nein. Danke«, lehnte sie kurz ab.

Kurz darauf trat Audrey ins Freie. Es schneite. Sie zog den Kragen hoch und wartete. Wenige Augenblicke später fuhr eine große blaue Limousine vor. Ein Garagendiener stieg aus. Er ließ den Motor laufen und blickte erstaunt auf, als Audrey den Autoschlag öffnete.

»Das ist Dr. Forresters Wagen, Madam«, sagte er höflich.

»Ja, ich weiß es«, erwiderte sie.

Tubby kam die Treppe herunter, riß den Schlag auf und stieg ein.

»Ich sagte Ihnen doch, daß Sie nicht mitkommen können!« erklärte er zornig.

»Ich tue es trotzdem«, antwortete Audrey. »Ich habe für ihn ein ebenso großes Interesse wie Sie. Das Ihnen gegebene Versprechen werde ich halten – aber jetzt fahre ich zu ihm!«

 

Die Herstellung des Serums war nicht besonders schwierig gewesen. Kurz vor acht Uhr war Jack damit so weit, daß es verabreicht werden konnte. Cunningham fand, es liege kein Grund vor, daß er länger bleibe. Er wolle seinen Freund Tony aufsuchen, um mit ihm alte Erinnerungen auszutauschen.

Mrs. Collins jammerte ein wenig, als sie den jungen Arzt mit dem erschreckenden Instrument in der Hand eintreten sah. Um ihren Mut anzuspornen, sagte er: »Das ist ein Serum, das ich aus Jennys Blut bereitet habe. Sie hat es gern hergegeben, als ich sagte, es sei für ihre Mutter. Sind Sie nicht stolz auf Ihre Tochter?«

Nachdem er ihr dann die Spritze gegeben hatte, stellte Jack mit Befriedigung fest, daß er jetzt den ganzen Abend für sich habe. Lan Ying wartete bestimmt schon auf ihn. Er eilte ins Laboratorium zurück, um sich umzukleiden. Als er die Tür öffnete, vernahm er das Klingeln des Telefons. Er eilte an den Apparat und hoffte, es werde Edith oder Lan Ying sein.

Der Anruf kam aus einer öffentlichen Telefonzelle. Eine unbekannte Stimme sagte leise, als fürchte der Sprechende, von andern gehört zu werden: »Dr. Beaven? – Ich bin ein Freund von Tom Buckley. Er hat hier draußen in Wheaton einen Unfall erlitten und bittet Sie, zu kommen und ihm ärztliche Hilfe zu leisten.«

»Ist er schwerverletzt?«

»Ziemlich schwer.«

»Blutet er?«

»Ja, sehr stark.«

»Dann ist es dringend. Es ist am besten, Sie rufen den dortigen Arzt, damit er die Blutung stille. Ich komme dann morgen früh.«

»Er will niemanden außer Ihnen, Doktor, er sagt, Sie wüßten, warum. Kommen Sie?«

»Gut. Wo befindet er sich?«

»In einem Haus in Wheaton. Wissen Sie, was das beste sein wird, Doktor? Sie fahren auf der Landstraße nach Wheaton. Ich erwarte Sie am Rand der Stadt und zeige Ihnen den Weg, damit Sie sich nicht verirren.«

»Was für Verletzungen hat er erlitten? Kontusionen, Quetschungen, Schnittwunden, Knochenbrüche?«

»Ja, von allem etwas. Danke, Doc. Ich erwarte Sie in ungefähr einer halben Stunde.«

Jack hängte den Hörer zurück und dachte einen Augenblick über das Gespräch nach. Die Stimme hatte nicht nach der eines Rowdys geklungen; möglicherweise war Buckley tatsächlich etwas zugestoßen. Er hatte ja immer befürchtet, daß ihm etwas geschehen werde. Vielleicht war Buckley viel mehr in die peinliche Angelegenheit verwickelt, als er zugegeben hatte. Und in diesem Fall würde er Gründe genug haben, die ein Zusammenkommen mit Unbekannten, selbst mit einem andern Arzt, alles eher als wünschenswert erscheinen ließen.

Jack kleidete sich hastig um, packte seine Arzttasche, eilte in den Regen hinaus und stieg in sein Auto. Als er in die Nähe der Polizeistation kam, verlangsamte er das Tempo. Die Vernunft gebot, bei einem solchen Anlaß Polizeischutz in Anspruch zu nehmen. Dazu war ja die Polizei da. Er hielt den Wagen an, gab aber sein Vorhaben sofort wieder auf. Befand Buckley sich in einer Patsche, so würde das Erscheinen eines Polizisten die Situation nur noch verschlimmern. Jack fuhr weiter, entschlossen, die Angelegenheit ohne polizeiliche Hilfe zu erledigen.

Eigentlich freute ihn der Entschluß. Er sagte sich, er sei nicht im geringsten darauf eingebildet und fühle sich auch nicht als Held, doch empfand er immerhin eine gewisse Befriedigung bei dem Gedanken, daß er sich nun freiwillig in Gefahr begab. Anfangs hatte er gar nicht daran gedacht, inwiefern er von der Angelegenheit persönlich berührt werden konnte, jetzt jedoch fiel ihm ein, daß die Wahrscheinlichkeit bestand, einem Überfall auf Buckley könne auch ein Angriff auf ihn selbst folgen. Je weiter Jack fuhr, um so stärker wurde in ihm die Gewißheit, daß Thomas Buckley und er einen gemeinsamen Feind haben mußten.

Trotzdem verspürte er nicht den geringsten Wunsch umzukehren. Diese Feststellung erfüllte ihn mit Freude. Der Geschwindigkeitsmesser kletterte höher und höher. Die Reifen zischten auf dem glitschigen Asphalt. Die Straße lag verödet. In das Bewußtsein der Gefahr mischte sich eine seltsame, fast freudige Erregung. Er war auf der Hut.

Dieses körperliche Phänomen interessierte Jack. Bill Cunningham hatte neulich darüber gesprochen, aber nichts gesagt, was er nicht bereits gewußt hätte. Wie oft hatte er selbst bei seinen Vorlesungen hergeleiert, daß das Bewußtsein einer nahenden Gefahr die Funktionen der Nebenniere beschleunige, sie veranlasse, ihre geheimnisvolle Flüssigkeit in den Blutkreislauf strömen zu lassen und dadurch die Wachsamkeit des Soldaten zu steigern, seine Muskeln zu straffen, ihn mit so starken Adstringenzien zu versorgen, daß sein Mund austrockne.

»Selbstverständlich«, hörte er sich sagen, »besteht der Hauptzweck dieses Dringlichkeitsadrenalins darin, ein rascheres Stocken des Blutes herbeizuführen – falls es zu einer mit Blutungen verbundenen Verletzung kommt. Die Natur«, pflegte er humoristisch hinzuzufügen, »hat Augenblicke, da man sie beinahe rücksichtsvoll nennen kann.«

Nun hatte Jack das Gefühl, daß er jetzt seinem Vorlesungskommentar auf diesem Gebiet noch einiges hinzufügen könnte. Er hatte eine Bestätigung der medizinischen Lehrbücher gefunden, und nicht nur das. Die von der Nebenniere gegebene Dringlichkeitsspritze des Adrenalins wirkte auch als anspornendes Rauschmittel. »Könnte ein Mensch immer unter dem Einfluß dieses aufpulvernden Zeugs leben«, sinnierte Jack halblaut vor sich hin, »er wäre ein ganzer Kerl.«

Er vertiefte sich dermaßen in die Beobachtungen seines eigenen Geisteszustandes, daß er kaum merkte, mit welcher Geschwindigkeit er auf der Landstraße dahinraste.

Bisher war sein Leben ziemlich vorgezeichnet gewesen, jeder Schritt vorher bestimmt. Es hatte für ihn die üblichen Raufereien auf dem Spielplatz gegeben, später dann die rohen Fußball- und Baseballspiele, doch hatte ihn nie jemand mit böswilliger Absicht überfallen. Sein Mut entsprang hauptsächlich den vielen Jahren der Selbstbeherrschung, er war eine negative Tugend. Es erschütterte Jack ein wenig, festzustellen, daß er sich jetzt zum erstenmal im Leben in eine bedrohliche Lage begab. Nicht etwa, daß er sich zu seiner Tapferkeit beglückwünschte, aber er erkannte, daß er sich erniedrigt haben würde, hätte er heute abend weniger entschlossen gehandelt. Die kleine Jenny Collins war nur ein Slumfratz, man durfte von ihr nichts erwarten – doch war sie in einem schmerzlichen Augenblick dennoch bereit gewesen, sich zu überwinden, und er hatte sie dafür gelobt. Hätte er sich vor dem problematischen Ausgang seiner heutigen Mission gedrückt, wie wäre es ihm fürderhin möglich gewesen, in ein Paar erschrockener Augen zu blicken und ihren Besitzer aufzufordern, tapfer zu sein.

Trotz ihrer Grausamkeit, ihrer Irrtümer, ihrer wahnwitzigen Verschwendung, ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den Verbrechen in der Welt, ihren Unglücksfällen und ihrem Elend – war die Natur ja doch ein ganz braves altes Weib. Zeigte man sich, wenn sie ihr Adrenalin ausschüttete, auch nur im geringsten zur Mitarbeit bereit, so machte man eine Erfahrung, die sich wirklich lohnte.

Ein Wegweiser mit schwarzen Lettern flog vorüber. Eine Meile bis Wheaton. Jack verlangsamte das Tempo. Nun waren bereits verstreute Lichter sichtbar. Er holte einen Wagen ein, der mitten auf der Straße fuhr. Es war ein schäbiges altes Auto, das schneckenlangsam dahinkroch. Jack ahnte sofort, daß er den Mann getroffen hatte, der ihn zu Buckley bringen sollte. Der Fahrer streckte einen Arm vor und winkte Jack, er möge ihm folgen. Jack hupte ein paarmal, um den andern wissen zu lassen, daß er das Signal verstanden habe, und das Auto vor ihm beschleunigte seine Fahrt.

Sie fuhren durch die verschlafene kleine Stadt Wheaton. Nach einer weiteren Meile bog der Fahrer nach Süden auf eine kiesbestreute Straße ab. Auf dieser fuhren sie etwa fünf Meilen, erreichten dann einen Kreuzweg und eine andere schlammige Straße. Beide Autos fuhren sehr vorsichtig. Noch eine Weile, und das vordere Auto hielt bei einem Pfad. Ein Mann mit einer Taschenlampe trat vor und öffnete den Schlag von Jacks Auto.

»Sie sind angelangt, Doc«, sagte er. »Steigen Sie aus. Ich führe Sie hin. Ich fürchte, Sie müssen durch den Schlamm waten, aber auf diesem Pfad kann das Auto nicht fahren.«

Weder der Ton der Stimme noch das Verhalten des Mannes schien bedrohlich. Er versuchte auch nicht, sich zu verbergen. Seine Entschuldigung wegen des Schlammes berührte Jack ausgesprochen angenehm.

»Kann ich das Auto mitten auf der Straße lassen?« fragte er. »Kommt hier niemand vorbei?«

»Fast nie. Jedenfalls nicht um diese Zeit. Lassen Sie die Lampen brennen.«

»Wie geht es Buckley?« Jack watete hinter dem Mann durch den Schlamm, der Fahrer des andern Autos folgte ihnen. Dessen Gesicht hatte Jack bisher noch nicht gesehen. Der Mann mit der Taschenlampe hatte anscheinend die Rolle des Sprechers übernommen. Seine Stimme war es gewesen, die Jack am Telefon gehört hatte.

»Etwas besser. Er hat heute abend recht unangenehme Dinge erlebt und ist auf weitere gefaßt. Sie haben nicht zufällig einen Revolver mit, wie, Doc?«

Die Frage wirkte leicht beunruhigend. Jack wußte nicht recht, weshalb sie gestellt worden war. Vielleicht wäre es ein Fehler, zu verraten, daß er unbewaffnet sei.

»Haben Sie wirklich geglaubt, daß ich so spätnachts ohne Waffe aufs Land hinausfahre?«

Der Mann hinter ihm kicherte unangenehm und kam näher. Sie gingen schweigend noch etwa achtzig Meter. Dann erreichten sie ein kleines Tor in einem von Schlingpflanzen überwucherten zerfallenen Zaun. Sie traten durch das Tor und sahen vor sich ein ungestrichenes einstöckiges Haus. Soweit man im Licht der Taschenlaterne sehen konnte, mochte das Haus seit langem vernachlässigt, vielleicht auch unbewohnt sein.

Aus einem schlechtverhangenen Fenster schimmerte im Rechteck Licht hervor und verriet, daß das Zimmer rechts von der Vordertür benutzt wurde. Der Rest des Hauses lag in Dunkelheit gehüllt. Der Mann, der die zwei geführt hatte, öffnete eine Tür, die in eine enge unmöblierte Halle führte. Jack rannte gegen den Pfosten einer schmalen Treppe. Sie standen in einem engen, trübseligen dunklen Raum dicht beieinander.

»Ich werde Ihren Hut und Mantel nehmen, Doc«, sagte der Sprecher. »Tom ist dort drin.« Er nickte in die Richtung der Tür des Vorderzimmers. Einen Augenblick zögerte Jack, den Mantel auszuziehen, dachte aber dann, er würde sich ohne ihn freier bewegen können, falls es zu einer Prügelei kam. Er öffnete die Tür in das erhellte Zimmer.

In der Mitte stand ein rohgezimmerter Tisch mit schmutzigen Papiertellern und den Überresten einer Mahlzeit. Thomas Buckley, der an dem Tisch saß, war damit beschäftigt zu essen. Er blickte auf, grinste töricht und brummte mit vollem Mund: »Hallo, Doc!« Jack erriet, daß Buckley seit längerer Zeit nichts gegessen hatte und dies nun nachhole.

»Ich glaubte, Sie seien verletzt«, sagte Jack barsch. »Was soll das heißen?«

»Das werden die Ihnen sagen, Doc«, erklärte Buckley und kaute weiter an seinem Steak.

Die andern waren nun ebenfalls ins Zimmer getreten. Jack stellte seine Tasche auf den Boden und betrachtete die beiden Männer voll Interesse. Der mit der Taschenlampe war an die Vierzig, etwas über Durchschnittsgröße und gut gebaut. Er hatte ein intelligentes Gesicht, mager, entschlossen und tief gefurcht, mit zahllosen Krähenfüßen um die Augen. Das Haar über der Stirn war schütter. Er trug einen blauen Overall und schien, wenn man nach seinem steifen Kragen und der ordentlich gebundenen Krawatte urteilen konnte, darunter gut gekleidet zu sein. Er sah aus wie ein Mensch, der ein schweres Leben hinter sich hat, aber nicht wie ein Gauner. Der andere war jünger, schäbiger, gedrungener, schwerfälliger. Man merkte sofort, daß er die zweite Geige spielte.

Die Männer schritten durchs Zimmer, setzten sich auf alte, an der Wand stehende Küchenhocker und betrachteten Jack interessiert. Der intelligenter Aussehende zündete sich eine Zigarette an. Sie forderten den Gast nicht auf, sich zu setzen. Jack blieb stehen und wartete auf eine Aufklärung.

»Sehen Sie, Doc«, begann der Ältere. »Die Sache steht so. Mein Freund Buckley hat neulich, als er Ihnen erzählte, daß wir in den verlausten kleinen Hütten beim Wasserwerk Installateurarbeiten ausgeführt haben, einen argen Fehler begangen. Deshalb haben wir ihn hierhergebracht, um sicher zu sein, daß er eine Zeitlang nicht mehr schwätzen wird. Zuerst hatten wir, Rusty und ich, beschlossen, ihm für das Verpetzen eine tüchtige Tracht Prügel zu verabreichen, ihn irgendwohin zu verschleppen und dort zu lassen. Nachdem er uns aber gestanden hatte, daß Sie wissen, woher das Rohr stammt und auch alles andere, hatte es wenig Sinn, Buckley das Maul zu stopfen, ehe wir wußten, ob Sie bereit sind, alles, was er Ihnen gesagt hat, zu vergessen. Verstanden?«

Jack nickte.

»Ich verstehe nur nicht recht«, meinte er, »weshalb Sie mich in dieses teuflische Schlammloch gelockt haben, um mir dies zu sagen. Sie hätten mir doch die Fahrt ersparen und mich in der Klinik aufsuchen können.«

»Ja, nicht wahr, das wäre das richtige gewesen«, höhnte der Sprecher der Bande. »Nein, Doc, wir bedauern, Ihnen diese Mühe gemacht zu haben, aber wir hatten wirklich nicht den Wunsch, eine Verabredung in Ihrem Sprechzimmer zu treffen. Rusty und ich haben schon gesessen und keine Lust, es wieder zu tun. Verstanden?«

Jack erwiderte, daß er verstehe, und der andere fuhr fort:

»Sie haben, Doc, nichts weiter zu tun, als kaltes Blut zu bewahren und unsere Instruktionen zu befolgen. Ich glaube, wir haben alles so arrangiert, daß niemandem etwas zu passieren braucht. Das heißt, wir hoffen, daß es glimpflich abgeht. Diese halbverhungerte Laus hier«, er wies mit einer Kopfbewegung auf Thomas, der sich eben eifrig in den Zähnen stocherte, »begibt sich heute nacht auf eine größere Reise, vielleicht nach Florida, und wird eine Zeitlang dort bleiben und sich einen schönen Bart wachsen lassen, der seinen Mund verdeckt. Rusty bringt ihn hin. Es wäre nett von Ihnen, Doc, wenn Sie uns Ihr Auto leihen wollten, obgleich nicht dies der Grund ist, weshalb wir Sie hierher gebeten haben. Dieser Gedanke kam uns erst kurz vor Ihrem Eintreffen.«

Jack wurde während dieser Rede etwas unruhig; er blickte sich im Zimmer um und betrachtete Türen und Fenster.

»Ich denke, Sie denken nicht daran fortzulaufen, Doc, ehe wir Ihnen gesagt haben, weshalb Sie hier sind. Das wäre unhöflich. Und da wir gerade von Höflichkeit sprechen, fällt mir ein, daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe. Ich bin Ted Billows, der Mann, der zusammen mit Rusty das Rohr gestohlen hat. Rusty hat freilich nichts weiter getan, als das Rohr hierhertransportiert; sollte die Polizei sich mit der Vorgeschichte beschäftigen, so würde auch das allerdings genügen. Wir haben kein besonders schweres Verbrechen begangen, jeder Winkeladvokat könnte uns eine milde Strafe verschaffen, aber ich bin schon so oft 'reingefallen, ich habe zweimal im Zuchthaus gesessen und möchte nicht in zu nahe Berührung mit der Polizei kommen. – Inwieweit das Sie angeht, Doc, dürften Sie wohl wissen. Merken Sie sich's: Sie müssen alles vergessen, was diese lausige kleine Ratte Ihnen erzählt hat – sonst müßten wir anders gegen Sie vorgehen.« Billows beugte sich rauflustig vor und ballte die Hand zur Faust. »Gefällt Ihnen das nicht, schöner junger Mann, so sagen Sie es nur, und Sie können sofort eine Probe bekommen. Verstanden?«

Rusty stand auf und trat hinter Jacks Rücken. Jack drehte sich um, damit er ihn im Auge behalten könne.

»Durchsuch ihn, Rusty!« befahl Billows. »Wenn es sich vermeiden läßt, wollen wir hier kein Feuerwerk haben.«

»Sie brauchen sich keine Mühe zu machen«, brummte Jack. »Ich habe keine Waffe bei mir.«

»Schau trotzdem nach, Rusty«, sagte Billows und stand auf. »Vielleicht hat er doch eine, und wer weiß, was er in der Aufregung tut. Ich will inzwischen die hübsche kleine Tasche in Augenschein nehmen.«

Rusty trat vor, betastete Jacks Hüften und erklärte: »Ich glaube, er hat vorhin gelogen, daß er eine Waffe hat.« Billows grinste und beugte sich über die Tasche. In diesem Augenblick geschah das Unerwartete. Wäre er nicht dermaßen im Nachteil gewesen, hätte Jack es vorgezogen, einen Schlag zu führen, wenn Billows aufrecht stand und vorbereitet war. In dieser Lage jedoch konnte er es sich nicht leisten, übertrieben korrekt zu sein. Er landete einen prächtigen Kinnhaken und, ohne sich um die Wirkung zu kümmern, wandte er sich gegen den verblüfften Rusty und schlug diesem mit der Faust mitten ins Gesicht. Taumelnd, halb betäubt raffte Rusty sich auf und kam mit ausgestreckten, zu Krallen gebogenen Händen auf Jack zu. Die erhobenen Hände ließen einen äußerst verwundbaren Punkt zwischen dem dritten und vierten Westenknopf ungedeckt. Jacks Rechte traf ihn mit voller Wucht. Rusty griff unwillkürlich nach der schmerzenden Stelle, und Jack benützte die Gelegenheit, um Rustys Nase mit einem Schlag zu treffen, der den Mann zum Wanken brachte. Rusty blutete stark, und ein weiterer Schlag würde ihn erledigt haben. Billows hatte sich nicht gerührt, und Jack nahm an, daß er sich noch nicht erholt habe. Er beschloß, zuerst Rusty zu erledigen. Da hörte er das Scharren eines Sessels auf dem Fußboden.

»Vorsicht, Doc!« schrie Buckley.

Ein furchtbarer Krach. Eine Viertelsekunde lang hatte Jack das Gefühl, daß in seinem Kopf etwas explodiert sei.

 

Drei tödlich erschrockene Männer verharrten eine Weile stumm.

Es war sehr still im Zimmer, die drei hockten mit blassen, angstvollen Gesichtern um Beaven, der reglos auf dem Boden lag.

»Weshalb – zum Teufel! – hast du das getan?« flüsterte Rusty und wischte sich mit dem blutigen Taschentuch den Mund.

»Halt's Maul!« fuhr Billows ihn an.

»Sollen wir nicht lieber Reißaus nehmen?« fragte Rusty. »Der Kerl stirbt.«

Buckley sank auf alle viere und erbrach sich.

»Bleibt hier«, brummte Billows. »Ich hol' einen Arzt.«

»Das sollen wir dir glauben?« höhnte Rusty. »Du machst dich dünn, und wir können die Sache auslöffeln!«

»Okay«, erwiderte Billows. »Geh du den Arzt holen, und ich bleib' hier. Nimm die Laus mit.«

»Ich hol' keinen Arzt«, brummte Rusty. »Mich kennt hier ein jeder.«

»Dann muß ich doch gehen«, erklärte Billows. »Buckley, du bist so vertraut mit der Klinik. Wer ist dort der beste Arzt? Wir werden ihn anrufen und uns dann verziehen.«

»Es gibt da einen alten Kerl namens Forrester«, belehrte Buckley sie. »Der ist der Boss von dem da, oder so was Ähnliches.«

»Dreht ihn um. Ich will seine Schlüssel haben«, kommandierte Billows. »Ich nehme sein Auto.«

»Ja – und kommst nicht wieder, wie? Läßt uns hier sitzen?«

Billows gab keine Antwort. Sie legten Beaven auf die Seite. Die Verletzung in der Kopfhaut blutete stark – auf dem Fußboden breitete sich eine Blutlache aus. Billows kramte in den Taschen, fand die Schlüssel, stand auf, eilte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

Rusty hielt das Ohr nahe an Beavens Mund und lauschte.

»Er atmet noch«, flüsterte er, »aber sehr schwach. Gehen wir. Ich will nicht hier sein, wenn der Arzt und die Polizei kommen. Schau in dem Pillenkasten nach, Buckley, ob du nicht ein Pflaster oder so was findest.«

»Wo ist denn die Tasche?« fragte Buckley rülpsend. »Ich finde sie nicht. Billows hat sie mitgenommen. Was sagst du dazu?«

Von draußen vernahmen sie das Surren eines Motors.

»Los!« sagte Rusty. »Wir können für den Kerl nichts tun. Hol deinen Mantel.«

»Er kann sterben«, warf Buckley ein.

»Das sag' ich ja. Schaun wir, daß wir weiterkommen!«

Sie zogen die Mäntel an, schlichen aus dem Haus und gingen bis zur Straße. Es schneite. Sie schlugen die Mantelkragen hoch.

»Wohin gehen wir jetzt?« fragte Thomas.

»Wir fahren nach Süden, bis wir kein Geld und kein Benzin mehr haben. Nachher – ich weiß es nicht. Ein jeder für sich, nehme ich an.«


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