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Neuntes Kapitel

Die regnerische und stürmische Nacht eignete sich so recht zum Erzählen von Geschichten, und Cunningham wußte eine besonders interessante. Es war die ungewöhnlichste und spannendste Erzählung, die Jack je gehört hatte, vielleicht auch die beunruhigendste, denn je tiefer sein Gefährte in sie eindrang, desto ferner erschien China und mit diesem selbstverständlich – Lan Ying.

Die beiden Ärzte in ihren Badekostümen, in Decken gehüllt vor dem Feuer sitzend, machten einen drolligen Eindruck. In der einzimmrigen Holzhütte waren die Sessel, bis auf zwei, auf jeder Seite des großen Feldofens in einer Reihe aufgestellt. Schmutzige und dampfende Kleidungsstücke hingen an ihnen herunter.

Es regnete wie toll, und die Luft, die tagsüber unerträglich heiß gewesen war, hatte sich abgekühlt. Gegen drei Uhr hatte sich der Himmel bewölkt. Aus den blauschwarzen Wolkenvorhängen waren von Zeit zu Zeit purpurne Flammen herabgeschossen: ein aufregender Anblick. Dazu kam noch der stetig sich steigernde Lärm des Windes. – Die Seebrassen gebärdeten sich wie toll.

Jack schien es, als habe er noch nie ein derart verwirrendes Naturschauspiel erlebt. Am Himmel krachte und flammte es, im Wasser kämpfte Jack mit einem zähen, sich windenden Fisch, dessen Widerstand anscheinend nicht zu brechen war. Für ihn war es der größte Fisch, der sich jemals von einer künstlichen Fliege hatte ködern lassen. Später stellte sich dann heraus, daß die Beute doch nicht zentnerschwer war, sondern nur ein paar Pfund wog.

Cunningham stand aufrecht im Boot und holte den Anker ein. Beaven griff nach den Rudern, die in den Riemen knarrten. Der Sturm wurde heftiger.

»Wie Richard Wagner!« entfuhr es Cunningham. »Einfach wundervoll!« Er wies mit großartiger Gebärde zum Himmel. Jack rief lachend: »Freut mich, daß es Ihnen gefällt!«

Worauf Cunningham eine eindrucksvolle Rede vom Stapel ließ. – Jeder, meinte er begeistert, müsse erkennen, daß dies Schauspiel wie eines der gewaltigen Werke Wagners wirke – einfach überwältigend! –

»Und naß«, meinte Jack nüchtern, »sehr naß.« Es goß in Strömen. Jack, der mit kräftigen Ruderschlägen das Boot vorwärts trieb, schmerzten die Hände. Er warf den Kopf zurück, damit ihm das Wasser von seinem Panamahut nicht in den Nacken rinne, und fragte, wie weit die Seereise denn noch gehe.

»Noch eine halbe Meile«, gab Cunningham Auskunft.

Unter allerlei Neckereien und Späßen verging der Nachmittag, wobei sich Cunningham als ausgezeichneter Gesellschafter erwies und Beaven von der Fröhlichkeit des Kollegen angesteckt wurde.

Endlich legten sie wieder am Ufer an, stiegen steif und müde aus dem Boot und stapften beutebeladen, wenn auch patschnaß, der Hütte zu.

Der Gastgeber bewies dann, daß er ein guter Koch war, und bald konnten sie an einem schmackhaften Fischgericht ihren gewaltigen Hunger stillen.

Nachdem die Mahlzeit eingenommen und der Tisch abgeräumt war, wurde das Feuer geschürt. Dann zündeten sie ihre Pfeifen an und stellten übereinstimmend fest, daß sie mit sich und der Welt zufrieden waren.

»Ja, die Welt ist wirklich nicht so schlecht, wie allenthalben behauptet wird«, griff Cunningham sein Lieblingsthema auf.

»Ich will es Ihnen gern glauben«, sagte Jack, »Sie sind mehr herumgekommen als ich.«

Cunningham wurde plötzlich ernst. »Nein, gerade das trifft nicht zu. Mein Lebtag habe ich unter Fernweh gelitten, und nie war es mir vergönnt gewesen, die weite Welt kennenzulernen.«

Jack sagte, daß auch er häufig daran gedacht habe, seinen Horizont im Ausland zu erweitern, doch liege ihm nicht sonderlich viel daran. »Das Leben, wie ich es führe, ist mir nun einmal bestimmt«, meinte er.

»Das ist es vielleicht keinem von uns«, widersprach Cunningham, »es ist für uns eben nur schwer freizukommen; aber ich bin davon überzeugt: ein Mensch, der sich immer nur in seinem engen Kreise bewegt und höchstens gelegentlich einen Abstecher in die nächste große Stadt unternimmt, doch nie die Ferne kennenlernt, der läßt sich das Beste im Leben entgehen.«

»Vielleicht ist es nicht ganz so arg«, hielt Jack dagegen. »Will man die Fremde kennenlernen, so kann man das ja auch in den Staaten, in denen genügend Ausländer leben, und man braucht gar nicht nach Italien oder sonstwohin zu reisen.«

Cunningham blieb bei seiner Ansicht. »Das ist es ja gerade«, erklärte er, »wir haben zwar viele Ausländer im Lande, doch repräsentieren diese ihre Rasse oder Nation ebensowenig, wie unsere eigenen Landsleute dies im Ausland tun. – Was erfahren Sie zum Beispiel im Spital von der Tschechoslowakei? Was lernen Sie von dem Dago, der sich umsonst behandeln läßt, über die italienische Mentalität, afrikanische Sitten, französische Kunst usw.? Was ich am liebsten möchte, Beaven«, setzte Cunningham verträumt hinzu, »was ich mir schon immer erhoffte, wäre, eines Tages China zu sehen.«

»Weshalb gerade China?« Jack richtete sich auf – er war aufmerksam geworden.

»Ich denke nicht an das China des Touristen, Beaven«, fuhr Cunningham fort, »Schwärme von Kulis, phantastische Umzüge, Pagoden, Teehäuser, Antiquitätenläden und Dschunken, Lärm und Gestank – und dann mit einem Vergnügungsdampfer zurück nach Honolulu. Nein, nein! Ich möchte das chinesische Heim sehen, ein wenig länger im Lande bleiben, die Menschen dort studieren!«

»Da werden Sie wenig Chancen haben«, meinte Jack. »Aber was in aller Welt hat gerade diesen Wunsch bei Ihnen aufkommen lassen?« wollte Beaven wissen und versuchte, Gleichgültigkeit hervorzukehren.

Cunningham stand auf und legte ein Scheit auf das glimmende Feuer. Dann setzte er sich wieder, streckte die Beine vor und stopfte von neuem seine Pfeife. Hierauf fragte er unvermittelt:

»Beaven, was wissen Sie von Audrey Hiltons Leben?«

»So gut wie gar nichts. Sie erzählte mir lediglich, daß sie in China aufgewachsen sei.«

»Interessiert es Sie, Beaven, mehr über ihr Leben zu erfahren?«

Da konnte Jack sein Interesse nicht länger verheimlichen, und seine Antwort kam schnell:

»Ja – bitte! Erzählen Sie!«

 

Nachdem Cunningham es sich bequem gemacht hatte, erzählte er zuerst jenen Teil von Audreys Lebenslauf, der Jack bereits bekannt war. Von dem reichen und kultivierten Sen Ling, der tief verletzt durch die in Amerika erlittenen Kränkungen an Bord gekommen und von Kapitän Hilton taktvoll getröstet worden war. Der Kapitän hatte seine eigene Kabine mit ihm geteilt, ihm gestattet, auf die Kommandobrücke zu kommen, und ihn mit allen Ehren und aller Rücksicht behandelt. Sen Ling war ihm dankbar gewesen.

»Möglicherweise waren Hiltons Beweggründe nicht ganz einwandfrei: ich weiß es nicht. Mag sein, daß er das Gefühl hatte, der alte Chinese sei schlecht behandelt worden, und er ihm deshalb helfen wollte, sein Gesicht zu wahren. Es kann aber auch sein, daß Hilton bei seinen Geschäften in Hongkong diplomatisch vorgehen mußte und hoffte, Sen Lings Wohlwollen könne für die Dampfschiffahrtsgesellschaft von Nutzen sein. Wie es auch sei, er hatte sich nicht verrechnet. Als der Kapitän starb, ließ er ein ansehnliches Vermögen zurück – Gratifikationen des dankbaren Aufsichtsrates. Jahrelang hatte Hilton die wertvollsten Frachten transportiert, die jemals von einem Schiff im Stillen Ozean transportiert worden waren. Sen Ling hatte überall verbreitet, daß Hilton ein Freund der Chinesen sei.

Doch war das nicht alles, es war nur ein unwesentlicher Teil. Der Chinese hatte Hilton so hoch eingeschätzt, daß er stets, wenn das Schiff den Hafen anlief, zur Begrüßung des Kapitäns erschien. Bisweilen hatte Hilton noch drei bis vier Stunden an Bord zu tun, ehe er an Land gehen konnte. Dann stand der Chinese wartend da und bat, Hilton möge als sein Gast mit ihm heimkommen. Monate hindurch schlug Hilton die Einladungen ab: er war zu beschäftigt – vielleicht wollte er auch den Einladungen nicht Folge leisten. Eines Tages gab er dann nach. Sen Ling schien durch das Verschmähen seiner Gastfreundschaft tief gekränkt, und Hilton beschloß, seinen Wunsch zu erfüllen. Es könnte sein, daß er es aus Geschäftsinteresse tat. Ich möchte betonen, daß Hilton nie Anstrengungen machte, um Sen Lings Achtung zu gewinnen.«

»Vielleicht war gerade das der Grund, warum der Chinese ihn bei sich sehen wollte«, meinte Jack.

»Vielleicht – doch nach dem ersten Mal bedurfte es keiner Überredung mehr. Welcher Art auch immer die Beweggründe des Kapitäns im Anfang gewesen sein mochten, wir können getrost annehmen, daß später seine Besuche frei von jeglichem Geschäftsinteresse waren. Warf das Schiff Anker, so wartete sein chinesischer Gastgeber mit luxuriösen Sänften und mit Trägern auf Hilton, und der etwas rauhe alte Seemann stieg bereitwillig ein und ließ sich auf der gewundenen Straße zu Sen Lings prächtigem Haus tragen. Es lag auf halbem Weg zu dem Gipfel des Hügels, der auf die Stadt hinabblickt.«

»Er muß instinktiv verstanden haben, sich den Sitten und Gewohnheiten des Sen Lingschen Hauses anzupassen«, warf Jack ein. »Sonst hätte er sich dort nicht wohl gefühlt.«

Cunningham nickte.

»Dazu kommt noch, daß Henry Hilton lang genug mit China Geschäfte gemacht hatte, um die Eigenheiten der Chinesen zu kennen. Dennoch war Sen Ling auf den ersten Blick kein offenes Buch für den Kapitän. Er war ein tief veranlagter Mensch. Hilton besuchte ihn bereits seit mehr als drei Jahren, als er durch bloßen Zufall und nicht von Sen Ling selbst erfuhr, daß dieser ein großer Philanthrop war. So steuerte er zum Beispiel den größten Teil zum Unterhalt des englischen Spitals bei und hatte mehr als ein halbes Dutzend junger Chinesen nach England geschickt, damit sie dort Medizin studierten.«

»Weshalb nach England? So weit weg?«

»Das wurde, glaube ich, nie zu erklären versucht. Vielleicht hatten damit Sen Lings unglückselige Erfahrungen in den Staaten etwas zu tun. Jedenfalls entdeckte Hilton, daß sein chinesischer Freund nichts gegen ausländisches Wissen habe, sofern dieses China zum Nutzen gereichte. Trotzdem hielt er sich streng an die Sitten und Prinzipien seines Landes. Seine Großmut dem englischen Spital gegenüber beweist meine erste Behauptung und spielt in dieser Geschichte eine große Rolle.«

Cunningham nahm Tabak aus der Dose und schob sie zu Jack hinüber. Das Feuer war am Erlöschen. Beaven schürte es von neuem. Er hatte das Gefühl, das erste Kapitel sei jetzt beendet. Es war ja recht interessant gewesen, doch hatte er den Wunsch, etwas über Audrey zu hören.

»Wir dürfen annehmen«, fuhr Cunningham fort, »daß Sen Lings Einfluß in Hongkong sowohl bei den Ausländern als auch bei den Chinesen beträchtlich war. Trotzdem muß er am Ende des Jahrhunderts, während des Boxeraufstandes, seine Sorgen gehabt haben. Ich weiß nicht, wie er es anstellte, aber das englische Spital in Hongkong war eine der wenigen Institutionen, die in jenen unruhigen Zeiten ohne Unterbrechung in Betrieb blieben. Ein Jahr lang war der Auslandhandel gelähmt, die Schiffahrt desorganisiert, alles ging drunter und drüber, aber Henry Hiltons Schiff konnte sich auch in diesen Zeiten genau an seinen Fahrplan halten. Die Tatsache, daß Hilton geborener Engländer war, genügte nicht als Erklärung, waren doch damals die Chinesen gegen England ungleich feindseliger eingestellt als gegen Amerika.

Henry Hilton weigerte sich in jenen Tagen, Sen Lings Gast zu sein; er wollte den Freund nicht in eine peinliche Lage versetzen. Nachdem der Aufstand niedergeschlagen war, nahmen sie das alte Verhältnis wieder auf, das durch die Unterbrechung nur noch herzlicher geworden zu sein schien. Sen Ling hatte eine Frau und vier Söhne. Die Freunde hielten seine Monogamie für eine Marotte. Eine große Rolle mochte hierbei die Tatsache gespielt haben, daß Madame Sen Ling aus der berühmten Familie King Wang stammte.«

»Sie sind in die Familienverhältnisse erstaunlich gut eingeweiht«, meinte Jack. »Woher haben Sie alle diese Einzelheiten?«

Cunningham lächelte; und als ihm plötzlich etwas einfiel, lachte er sogar.

»Meine Erzählung ist synthetisch, Beaven, sie ist aus Berichten zusammengestückelt, die ich von Audrey und deren Schwester, hauptsächlich aber von Ted King, Claudias verstorbenem Mann, erhalten habe. Teds Vater war über zwölf Jahre Henry Hiltons Steuermann und bester Freund. Auf diese Weise hatte Ted Claudia kennengelernt. Auch diese Geschichte ist nicht uninteressant, doch will ich Sie jetzt nicht damit belästigen.«

»Wie Sie meinen«, sagte Jack. »Erzählen Sie weiter.«

»Wo bin ich nur stehengeblieben? – Ach ja, Sen Ling hatte nur eine Frau und vier Söhne, außerdem freilich noch zahllose Geschwister, Onkel, Tanten, Vettern, Kusinen, Nichten und Neffen. Bei Familienfesten war stets das ganze Haus voll.«

»Lebten alle zusammen?«

»Ja, auf einem großen Grundstück, das von einer hohen Mauer umgeben und durch wunderschöne Tore geschützt war. Das Ganze war so organisiert, daß jede Familie vollkommen für sich lebte. – Aber ich schweife ab. Hoffentlich langweile ich Sie nicht.«

»Durchaus nicht, ich bin ganz Ohr.«

»Claudia Hilton wurde im Jahre 1896 geboren. In San Franzisko. Es war eine schwere Geburt, und ihre Mutter kränkelte noch lange nachher. Sie mußte sich einige Male in Spitalpflege begeben, und das kleine Mädchen wurde in einem vornehmen Internat in der Nähe von Monterey untergebracht. Die Ärzte rieten Mrs. Hilton, keine Kinder mehr zu bekommen. Ich kenne diesen Fall nicht, aber Sie wissen ja selbst, daß es dafür ein Dutzend Gründe geben kann. 1904 kam Mrs. Hilton abermals in Hoffnung. Henry machte sich begreiflicherweise große Sorgen. Er konnte keinen Urlaub nehmen, denn es war ja gerade um jene Zeit, da in China alles drunter und drüber ging. Die ganze Lage, sowohl politisch als auch kommerziell, schien mit Unsicherheit und Dynamit geladen. Der Schiffsarzt, dem Henry Hilton seine Besorgnisse mitteilte, war der Ansicht, Mrs. Hilton wäre am besten in Honolulu aufgehoben. Henry Hilton brachte seine Frau dorthin, doch fühlte sie sich einsam und hatte Angst. Einmal, da ihre schwere Stunde bereits nahte, traf Henry sie bei einem Besuch in einem vollkommen hysterischen Zustand an. Da sie keineswegs zu Hysterie neigte, erschreckte ihn dies. Der Schiffsarzt riet, sie an Bord zu nehmen. Sie taten es, und als sie Hongkong erreichten, bedurfte Mrs. Hilton sorgfältiger Pflege. Sie wurde ins Spital gebracht.«

»In Sen Lings Spital?«

Cunningham nickte.

»Erraten. Die Familie Sen Ling war sehr hilfsbereit. Als Henry nach einer Woche fortmußte, versprach sie, für Mrs. Hilton ihr möglichstes zu tun. Der Kapitän stach schweren Herzens in See. In jenen Zeiten gab es noch kein Radio, und als Henry in San Franzisko Anker warf, erwartete ihn ein Telegramm von Sen Ling. Es war ganz kurz:

Sie liegt bei meinen Ahnen begraben
Ihr kleines Mädchen ist bei uns«

Beaven stieß einen Ausruf des Erstaunens aus.

»Sie nahmen das Kind in ihre Familie auf?«

»Ja. Sie engagierten eine Pflegerin aus dem Spital. Niemand war Zeuge der Szene, die sich abspielte, als Henry wieder nach Hongkong kam und zum erstenmal seine Tochter sah. Es muß ein ergreifender Anblick gewesen sein. Madame Sen Ling war glücklich, ein kleines Mädchen im Hause zu haben. Wahrscheinlich freute es sie, daß ihre Kinder lauter Buben waren, doch mochte sie sich insgeheim nach einer Tochter gesehnt haben. Es war klar, daß das Baby einstweilen in China bleiben mußte. Henry hatte kein Heim mehr. Claudia war im Internat besser aufgehoben als unter der Obhut einer Haushälterin. Als Henry das nächste Mal nach Hongkong kam, sagte er Madame Sen Ling, daß er die Kleine nach ihrer Mutter Audrey nennen möchte. Madame Sen Ling lächelte und wagte es, ihren Mann fragend anzublicken. – ›Sie sollte zwei Namen haben, Kapitän Hilton‹, meinte dieser. ›Sie werden die Kleine Audrey nennen. Wir bitten um die Erlaubnis, sie Lan Ying nennen zu dürfen.‹«

»Bedeutet der Name etwas?« fragte Jack.

»Ja. Aber ich weiß nicht, was.«

»Hat sie es Ihnen nie gesagt?« Jack versuchte, gelassen zu sprechen.

»Nein. Und Claudia weiß es nicht. Ich habe sie gefragt.«

Jack biß beinahe seinen Pfeifenstiel entzwei. Nicht einmal ihre Schwester weiß es! – Aber ihm würde Audrey es vielleicht sagen!

»Beaven, ich fange an zu frieren. Außerdem habe ich Ihnen bereits alles erzählt, ausgenommen, daß dieses Mädchen erst vor wenigen Jahren nach Amerika kam. Claudias Widerstreben gegen Audreys Verbleiben in China steigerte sich allmählich zu einer Art von Besessenheit. Sie konnte an nichts anderes denken, von nichts anderem sprechen. Schließlich überredete sie mich, nach China zu schreiben, ich fände es wünschenswert – was ja auch stimmte –, daß Audrey wenigstens zu Besuch herkomme, weil Claudia sonst krank würde. Sen Ling und seine Frau brachten Audrey her. Sie fuhren die weitere Strecke und verbrachten einige Zeit in England, wo Sen Ling persönliche Geschäfte zu erledigen hatte.«

»Das erklärt die englischen Ausdrücke, die Aud …, Miss Hilton verwendet«, meinte Jack. »Sie sind mir im Spital aufgefallen.«

»Sie haben ein gutes Gedächtnis«, sagte Cunningham schmunzelnd. »Aber Audrey brauchte nicht nach England zu reisen, um diese Ausdrücke zu lernen. Wie Sie wissen, ist Hongkong fast ganz englisch. Alle kaukasischen Kinder, die das Mädchen kannte, waren fast ebenso gute Engländer wie John Bull.«

»Sie ist demnach trotzdem mit Englisch sprechenden Menschen in Berührung gekommen? Ihrer seltsamen Aussprache nach nahm ich an, sie habe Englisch nur aus Büchern, nicht aber durch Konversation gelernt. Sie betont einzelne Silben auf eine so drollige Art.«

Cunningham lachte. »Diese kleine Eigentümlichkeit geht auf den Einfluß einer Gouvernante zurück, die von den Sen Lings für sie engagiert worden war. Die Frau war Französin, sie unterrichtete Audrey im Französischen und brachte ihr jenes Englisch bei, über das eine Französin verfügt. Bisweilen beweisen Audreys Sätze, daß sie mit der französischen Syntax besser vertraut ist als mit der englischen. Aber wie geläufig auch immer sie Englisch und Französisch spricht, so bin ich dennoch überzeugt, daß sie chinesisch denkt.«

»Sie wird sich mit der Zeit schon amerikanisieren, nicht wahr?« fragte Jack in einem hoffnungsvollen Ton, der verriet, daß er auf diese Frage nur eine Antwort erwarte.

»Ich bezweifle es«, erwiderte Cunningham überzeugt. »Die unheimliche Geschicklichkeit der Chinesen, alle zu assimilieren, die sich im Spinnennetz ihrer seltsamen Kultur fangen, gehört mit zu den ungelösten Rätseln. Sie sind weder Kreuzfahrer noch Missionare, noch Propagandisten, es liegt ihnen gar nichts daran, Proselyten zu machen. Sie haben stets eine abgeklärte Gleichgültigkeit gegenüber der Philosophie und der Art der Ausländer an den Tag gelegt. Doch beweist die Geschichte, daß Menschen, die nach China gehen und lange genug dort bleiben, um sich dem Einfluß des chinesischen Geistes und der chinesischen Stimmung auszusetzen, dessen Gefangene werden. Die alten Griechen besaßen die gleiche Eigenheit. Die Römer konnten sie unterjochen, mußten aber dennoch zugeben, daß sie geistig von den Griechen erobert worden waren. Zu einer Zeit, da die Romanen die Griechen zu ihren Sklaven gemacht hatten, mußte jeder römische Gentleman Griechisch sprechen. Sie werden sehen, Audrey Hilton kann sich nur in China heimisch fühlen, was sehr schade ist. Nach unserer Art, die Dinge zu sehen, wird dadurch ihr ganzes Leben ruiniert werden. Sie könnte keinen Chinesen heiraten, mag sie ihm eine auch noch so große Achtung entgegenbringen; und ein Amerikaner, der sie zur Frau nähme, müßte sie entweder völlig umformen, was die Unterdrückung ihrer Persönlichkeit zur Folge hätte, oder …«

Cunningham sprach den Gedanken nicht aus.

Eine lange Pause trat ein. Endlich gestattete sich Jack die Frage: »Oder … was?«

Cunningham machte mit den Handflächen eine hilflose Gebärde nach oben und brummte: »… oder er müßte selbst chinesisch werden.«

»Das – das ist wirklich ein Elend«, meinte Jack töricht.

Sie verharrten einige Minuten schweigend. Dann stand der Gastgeber auf und kratzte mit der Feuerschaufel die Kohlen zusammen. Jack beobachtete ihn zerstreut mit düsteren Augen.

»Ich hielt es für ratsam, Ihnen dies zu sagen«, erklärte Cunningham.

 

Es fiel Jack nicht leicht, Cunningham von der geplanten Autofahrt mit Audrey zu berichten. Wäre es nicht unhöflich gewesen, darüber zu schweigen, er hätte es bestimmt unterlassen. Aber es ließ sich nicht umgehen. Wohl konnte er es hinausschieben, aber nicht vermeiden.

Der wahre Grund dieser Zurückhaltung war der Zweifel, ob er recht daran tue, häufig mit Audrey zusammenzukommen. Eigentlich wußte er genau, daß dies eine Torheit war. Gab er sich der Schönheit und dem Charme des Mädchens noch mehr hin, so riskierte er, seinen eigenen Lebensplan aufs Spiel zu setzen. Und es wäre auch unfair gewesen, Audrey sein Interesse zu verraten; käme er häufiger mit ihr zusammen, so mußte dies aber unweigerlich geschehen.

Das Programm, das er vor vielen Jahren aufgestellt und an das er sich getreulich gehalten hatte, forderte die Verfolgung eines einzigen Zieles – das der Wissenschaft. Jack war bewußt und kompromißlos der Überzeugung treu geblieben, daß die Arbeit, die er zu leisten gedachte, seine volle Aufmerksamkeit verdiene. Er hatte entschlossen alle Gedanken an ein eigenes Heim verbannt, an ein Leben, in dem unvermeidliche Sorgen immer mehr von seiner Zeit und seinem Interesse in Anspruch nehmen müßten. Je glücklicher das Heim wäre, desto ärger für seinen Ehrgeiz.

Als er sich gestattete, zärtlich an Audrey Hilton zu denken, hatte er den mit sich selbst geschlossenen Vertrag keineswegs gebrochen (so glaubte er zumindest). Er wollte dafür sorgen, daß die Sache nicht zu weit gehe. Niemand konnte behaupten, es sei seine Schuld, daß er in Ausübung seiner Berufspflichten mit diesem prächtigen Mädchen in Berührung gekommen war; denn er hatte, tröstete er sich, damals die Unterredung mit ihr im Hotel Livingstone ausschließlich deshalb gesucht, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Auch diese Ferienreise war völlig natürlich. War ihm denn nicht geraten worden, in Urlaub zu gehen? Er selbst hätte nie daran gedacht. Der Vorschlag war von Shane gekommen, der behauptet hatte, einige Tage der Erholung würden ihm und daher auch seiner Arbeit guttun. Und von sich selbst aus hätte er auch Cunningham nie besucht. Das war Osgoods Vorschlag gewesen. Er, Jack, hatte nur einen geeigneten Ort zum Fischen finden wollen. Das war sein Beweggrund gewesen. Und wenn Audrey Hilton zu den Cunninghams zum Dinner kam, so konnte er wirklich nichts dafür. – Schließlich durfte er sich ja auch nicht wie ein Wilder benehmen. Die Wissenschaft fordert nicht, daß ein Mensch grob und ungesellig sei. Es war eine Forderung der bloßen Höflichkeit gewesen, Audrey zu sagen, er habe bedauert, mitten in ihrer Geschichte fortgerufen worden zu sein. Und es war ja auch nur natürlich, sie zu bitten, ihm den Rest zu erzählen. Ein Mann konnte ein hingebungsvoller Gelehrter und dennoch ein Gentleman sein, nicht wahr? Und als Audrey erklärt hatte, weshalb sie ihre Geschichte in Gegenwart der Schwester nicht weiter berichten konnte, blieb ihm da etwas anderes zu tun, als ein Gespräch unter vier Augen vorzuschlagen? Das alles war doch vollkommen klar und eindeutig. In seinem Innern grinste der Zensor, zwinkerte und verzog höhnisch den Mund. Jack versuchte dieser Frechheit seine Rechtfertigung entgegenzusetzen.

Wohl konnte er sich die Zufälligkeit seines Zusammentreffens mit Audrey einreden, nicht aber leugnen, daß er mit ihr allein zu sein wünschte. Wohl vermochte er Bill Cunningham mitzuteilen: »Ich fahre heute nachmittag mit Audrey spazieren« – aber wie sollte er seine Verteidigung vorbringen und Cunningham klarmachen, daß alles ganz von selbst gekommen sei? Es klänge zu töricht. Der Zensor in seinem Innern kicherte und bemerkte: »Es klänge töricht, weil es töricht ist, und das weiß niemand besser als du selbst.«

Als sie auf der Heimfahrt waren, sagte Jack: »Ich mache heute nachmittag mit Audrey Hilton eine Spazierfahrt.«

»Edith hat es mir schon gesagt«, bemerkte Cunningham. »Sie hatte Audrey eingeladen, heute mit ihr zu einem Gartenfest zu gehen, aber Audrey entschuldigte sich damit, daß sie mit Ihnen ausfahre. Das ist nett. Ich hoffe, Sie werden sich gut unterhalten. Wir erwarten, daß Sie bei uns übernachten. Ja? Und was ist mit dem Dinner?«

»Danke, hoffentlich nehme ich Ihre Gastfreundschaft nicht zu sehr in Anspruch. Morgen fahre ich heim. Zurück in die Tretmühle. Ich bin an Ferien nicht gewöhnt und empfinde ein Schuldbewußtsein, als vernachlässige ich meine Arbeit.«

»Meiner Ansicht nach«, meinte Cunningham, »kann ein Mann, der einen dermaßen nervenaufreibenden Beruf hat wie wir, in elf Monaten mehr leisten als in zwölf. Niemand braucht so sehr Ferien wie ein Arzt und – niemand kommt seltener dazu, welche zu haben.«

Jack stimmte zu und sagte: »Ich habe mich bisweilen gefragt, ob es nicht klüger wäre, hin und wieder zwei oder drei Tage auszuspannen, als elf Monate zu schuften und dann während eines Ferienmonats seine ganze Technik zu verlernen.«

»Da sind wir.« Cunningham hielt vor der Garage. »Wir essen jetzt, und dann geht jeder seine eigenen Wege. Edith ist nicht daheim, sie ist auf dem Gartenfest, als eine der Gastgeberinnen. Wir werden sie am Abend sehen.«

Cunningham aß rasch seinen Lunch, er hatte es plötzlich eilig. Jack kleidete sich sorgfältig um, er zog einen Sportanzug an. Von Zeit zu Zeit blickte er zu der Uhr auf dem kleinen Schrank. – Merkwürdig, dachte er, während er dann in den Spiegel blickte und seine Krawatte noch einmal band, wie die Zeit bisweilen stehenbleibt und ein andermal wieder dahinrast. Anscheinend besitzt das Gehirn kein Präzisionsinstrument, um die Zeit zu berechnen. Die drei Minuten, die man dazu verwendet, ein Ei zu kochen oder ein Stadtgespräch zu führen, sind keineswegs das gleiche. Man weiß aus Erfahrung, was für Lasten man heben, wie schnell man laufen, wie weit man springen kann. Man kennt fast auf einen Zoll die Länge und Breite seines Autos, weiß, ob man in einem starken Verkehr zwischen andern Autos durchfahren oder ob man seinen Wagen in einem überfüllten Autopark noch unterbringen kann. Kommt es jedoch darauf an, den relativen Wert von fünf, zehn oder fünfzehn Minuten zu beurteilen, so versagt man. Es ist seltsam, daß der Mensch, der nur sein Leben hat und dessen Zeit kostbar ist, nicht genügend Sinn für die Zeit besitzt, um mit dieser kostbarsten aller Gaben hauszuhalten. Der Zensor in Jacks Innerem erhob die Stimme: »Wenn du wissen willst, weshalb du über dieses Thema philosophische Betrachtungen anstellst, so will ich es dir sagen: du lenkst deine Gedanken von dem Zusammensein mit Audrey ab, weil du Angst davor hast. Du sehnst dich danach, sie zu sehen, aber du weißt nicht, was du ihr sagen sollst. Du bist in sie verliebt und weißt, daß du es nicht sein darfst. Du möchtest wissen, wie sie zu dir steht, und hoffst, daß sie dich gern hat. Du glaubst, daß sie dich mag. Aber – wenn sie dies wirklich tut – was wirst du dann anfangen?«

Audrey wohnte in einem geräumigen bungalowartigen Haus. Als Jack anhielt, stand sie bereits für die Ausfahrt gekleidet in der Haustür. Ihr weißes Flanellkostüm war ausgesprochen amerikanisch und betonte ihre Figur weit mehr als die weiten chinesischen Gewänder, in denen er sie im Hotel Livingstone gesehen hatte. Ein rotes Tuch hob den schwarzen Glanz ihres Haares hervor, und ein schmales Seidenband hielt die reizenden schwarzen Fransen auf der weißen Stirn fest. Sie streckte ihm die Hand hin und verriet so offensichtlich ihre Freude, daß es seinen Puls ins Rasen brachte. Sie fuhr also gern mit ihm aus und scheute sich nicht, dies zu zeigen.

»Es tut mir so leid, daß Sie Teddy nicht sehen werden«, sagte sie. »Er ist am Samstag in ein Ferienlager gereist. Dort geht es ihm gut, und er ist glücklich. – Wollen wir losfahren?« Bei dieser Frage weiteten sich ihre Augen, und sie nickte ihm kindlich lächelnd zu. Es war, als kennten sie einander schon viel zu lange, um zurückhaltend zu sein. Jacks Herz fühlte eine wohlige Wärme bei diesem Zeichen des Vertrauens. Irgendwie bedurfte Audrey seines Schutzes. Er verspürte eine fast besitzerhafte Freude.

Das Dach des Autos war zurückgeschlagen. Anscheinend fuhr Audrey heute zum erstenmal im offenen Auto. Das Gefühl der Freiheit beglückte sie. Dies erklärte sie mit so viel Freude, daß Jack sich fragte, ob sie nicht ein ziemlich unfreies Leben führe. Er fragte, ob sie irgendeinen besonderen Wunsch für die Fahrt habe, und sie antwortete: »Fahren wir einfach irgendwohin!«

Sie ließen die Stadt zurück, und Jack bog auf die Straße ab, auf der er vor kurzem mit Cunningham gefahren war. Es war eine Kiesstraße, die sich entlang dem waldigen Ufer eines kleinen, in der Nachmittagssonne leuchtenden Sees« schlängelte. Das Auto fuhr langsam durch eine von hohen Tannen beschattete Allee. Audrey tat mit offenem Mund ein paar tiefe Atemzüge und brach in Bewunderungsrufe über die Schönheit der Landschaft aus.

»Kommen Sie nur selten aufs Land hinaus?« fragte Jack.

»Ja. Tagsüber ist meine Schwester immer beschäftigt, und ich kann nicht chauffieren.«

»Es wäre für Sie angenehm, einen kleinen Wagen zu haben, dann wären Sie unabhängiger.«

Audrey lächelte versonnen und schüttelte langsam den Kopf.

»Es gibt Menschen, die nicht zur Unabhängigkeit bestimmt sind, und ich glaube, zu diesen gehöre auch ich.«

»War Ihre Freiheit, solange Sie in China lebten, sehr beschränkt?«

»Selbstverständlich. Die chinesischen Mädchen, vor allem aus solchen Familien, die sich an die alte Tradition halten, führen ein sehr abgeschlossenes Leben. Damals habe ich darüber nie nachgedacht. In Amerika ist es anders. Hier haben alle mehr Freiheit.«

»Aber Sie nicht«, warf Jack teilnahmsvoll ein.

»Vielleicht ist es meine Schuld«, gestand Audrey. »Es fällt mir schwer, mich den amerikanischen Gepflogenheiten anzupassen. Ich kenne nur wenig Menschen. Und meine Schwester, die genau weiß, wie unselbständig ich bin, führt mich herum, als sei ich ein kleines Kind.«

»Das dürfen Sie nicht zulassen«, sagte Jack energisch. »Sie müssen Ihrer Schwester beibringen, daß Sie erwachsen sind.«

»Ich fürchte, Claudia wird es nicht glauben.«

»Sie müssen sich unabhängig von ihr machen, sich von Ihrer Schwester nicht bevormunden lassen.«

Audrey lachte; doch es klang etwas schuldbewußt.

»Ich glaube, ich tue es eben jetzt«, gestand sie. »Ich komme mir wie eine Sünderin vor. Claudia wäre mit meiner Ausfahrt gar nicht einverstanden. Es ist«, fügte sie hinzu, »ein seltsames Gefühl, so auf eigenen Füßen zu stehen.«

Jack, der sich als Mitverschworener fühlte, setzte sie in Erstaunen, indem er zugab, daß auch er eine ungewohnte Freiheit genieße.

»Ich führe ein streng begrenztes Leben«, erklärte er. »Und wenn Sie jetzt Ihre gestohlene Stunde der Freiheit genießen, so ergeht es mir ebenso.«

»Fordern denn die Klinik und die Medizinische Fakultät, daß Sie ununterbrochen arbeiten? Ich finde das grausam.«

»Um gerecht zu sein, muß ich gestehen, daß ich mir meinen Lebensplan selbst aufgestellt habe. Das ist eine lange Geschichte. Ich möchte Sie damit nicht langweilen. Der Tag ist für solche Erinnerungen viel zu schön.«

»Bitte«, sagte Audrey sanft, »ich möchte es hören wenn Sie es mir erzählen wollen.«

Jack verlangsamte die Geschwindigkeit um ein beträchtliches und begann:

»Als ich zuerst an die Universität kam, hatte ich über meine künftige Arbeit ungefähr die gleichen Ansichten wie die Mehrzahl meiner Kollegen. Ich hatte eine natürliche Vorliebe für wissenschaftliche Forschungen und freute mich auf das Studium der Medizin. Doch fiel mir nie ein, mein Beruf würde mein Leben dermaßen beherrschen, daß in meinen Gedanken für nichts anderes Platz bliebe.«

»Und dann ereignete sich ganz plötzlich etwas?« ermutigte Audrey ihn.

»Ja. Aber nicht das, woran Sie denken. Viele Menschen haben nach irgendeinem tragischen Erlebnis, vielleicht nach einer unglücklichen Liebe, ihr ganzes Ich einer Aufgabe oder einer Mission geweiht. Bei mir war das nicht der Fall. Ich hatte meine Jugend auf normale Weise verbracht, frei von allen sentimentalen Verwicklungen, die mein Gefühlsleben hätten berühren können. Mein erstes großes Erlebnis war, am ersten Tag meiner Studentenzeit, die Ansprache eines sehr begabten und eifrigen Professors. Das Bild, das er von einem völlig der Wissenschaft geweihten Leben zeichnete, erschütterte mich zutiefst. Er sagte, um in einem Beruf Höchstleistungen zu erzielen, müsse man nicht nur unentwegt Selbstbeherrschung üben – in lieben Gewohnheiten, im Verzicht auf gesellige Zerstreuungen –, sondern diese Selbstbeherrschung müsse auch zu etwas Automatischem, Unwillkürlichem werden.«

»Ich verstehe«, erläuterte Audrey, »damit man keine Zeit mit dem Bedauern darüber vergeudet, was man aufgegeben hat.«

»Richtig«, stimmte Jack zu, erfreut über ihr rasches Verständnis.

»Und Sie haben es getan? Aber natürlich, ich sehe ja, daß Sie es getan haben. Ist es Ihnen sehr schwer gefallen?«

»Nicht lange. Ich glaube, ich begann sehr bald, darauf stolz zu sein – wie ein Mensch, der sich etwas erspart.«

»Und nachher ein Geizhals wird«, meinte sie lächelnd.

»Mag sein«, gab Jack zu. »Ich habe mir nie viel aus Geld gemacht, deshalb weiß ich nicht, wann Sparsamkeit in Geiz ausartet.«

»Sie hatten es nicht nötig, viel von Geld zu halten, da Sie ja nirgends hingingen und nur Ihre Arbeit kannten. Nach einer Weile …« – Audrey schüttelte in Erwartung seiner ablehnenden Antwort den Kopf – »… vermißten Sie die Zerstreuungen, die Ihnen entgangen waren, gar nicht?«

Er überlegte einen Augenblick, ehe er antwortete:

»Ich müßte lügen, wollte ich behaupten, daß ich nicht Tage der Unrast gekannt habe; im allgemeinen jedoch hatte ich zuviel Interesse für meine Arbeit, um mich noch mit etwas anderem zu befassen.« Er wandte sich mit einem Lächeln, das ein Geständnis verhieß, ihr zu. »Nehmen wir zum Beispiel die Mädchen. Es gibt wohl kaum etwas, das den Verstand eines jungen Mannes mehr abzulenken vermag als die Verliebtheit. Ich war zu der Erkenntnis gelangt, ich würde dieses Problem am leichtesten umgehen können, wenn ich die Existenz der Frauen völlig ignoriere.«

Audrey lauschte diesem Bekenntnis schweigend, mit gesenkten Augen. Und Jack fuhr fort:

»Sie sehen also, daß dies auch für mich eine Stunde der gestohlenen Freiheit ist.« Er lachte etwas verlegen. »Sie sind vor Claudia davongelaufen, und ich …«

»Vor sich selbst«, meinte Audrey ernst.

»So etwas Ähnliches.«

»Aber«, sie blickte mit einem aufrichtigen Lächeln der braunen Augen zu ihm auf, »Sie haben eine Entschuldigung, Dr. Beaven. Schließlich ist dies für Sie eine Forschungsreise. Sie baten mich, Ihnen den Rest meiner Lebensgeschichte in China zu erzählen. Vielleicht«, fügte sie nachdenklich hinzu, »werden Sie einmal chinesische Patienten haben, nicht wahr?«

Jack sah ihr forschend in die Augen, doch konnte er nicht feststellen, ob sie ihn necken wollte.

»Das ist wahr«, entgegnete er dankbar. »Diese Möglichkeit besteht. Fahren Sie jetzt bitte in Ihrer Geschichte fort. Ich bin sehr neugierig.«

»Es ist schwer zu wissen, wo da anfangen.« Audreys Stimme klang weich, als sie den seltsamen Bericht begann. Vieles hatte Jack bereits von Cunningham gehört, doch sagte er es ihr nicht, sondern lauschte aufmerksam der Erzählung über die seltsamen Umstände ihrer Geburt und ihrer Adoption durch die Sen Lings. Sie fuhren langsam bis zu einer Biegung, von wo aus sie eine wundervolle Aussicht auf den silbern schimmernden See und das von der Brise leicht gekräuselte Wasser hatten.

»Erzählen Sie mir von Ihrer Kindheit«, bat Jack, »ich weiß so gut wie nichts vom Leben der Chinesen. War es sehr schwer für Sie, Chinesisch zu lernen?«

Audrey lachte übermütig.

»Aber Dr. Beaven – es ist doch meine Muttersprache! Sie zu erlernen, ist mir kaum schwerer gefallen als Ihnen Englisch.« Sie zwinkerte schelmisch, als sie hinzufügte: »Ich nehme doch an, daß auch Sie einmal ein Baby waren, aber Sie sind ein so ernster Mann, daß ich dessen nicht ganz gewiß bin.«

Jack lachte, um zu beweisen, daß er nicht ganz so ernst sei, wie er scheine, und Audrey fuhr in ihrer Geschichte fort:

»Ich erinnere mich genau an meine ersten kleinen Schuhe«, sagte sie verträumt. »Sie waren rot, und auf den Zehen waren graue Katzengesichter gemalt. – Damit ich nicht falle, wissen Sie. Die Katzen machten mich sicher auf den Füßen.«

»Wollen Sie damit sagen, daß die Familie das wirklich geglaubt hat?«

»O nein!« Audrey wies diese Verdächtigung lächelnd zurück. »Das heißt«, verbesserte sie sich hastig, »ich bin nicht ganz sicher, daß Mutter es nicht glaubte. Der weise Sen Ling tat es selbstverständlich nicht. Aber – der alte chinesische Mythus ist unsterblich, und die alten Symbole werden respektiert. Vielleicht hat Shu-cheng an die Katzen geglaubt. Shu-cheng – meine Kinderfrau – war von einem starken Aberglauben beherrscht. Die kleinen Kinder lernen das meiste aus Märchen. Aber das ist ja hierzulande auch so, nicht wahr? Vielleicht haben wir in China mehr von den Taten der Götter gehört, ich weiß es nicht. Ihr Jehova … hat er nicht in den Flüssen einen trockenen Pfad geschaffen, damit seine Freunde keine nassen Füße bekommen?«

»Ja, aber das ist schon sehr lange her«, meinte Jack belustigt.

Audreys Gesicht wurde plötzlich lebhaft.

»Das ist der Unterschied zwischen euren Göttern und den unsern«, sagte sie. »Eure Götter haben ihre Arbeit getan. Die unsern leben noch und sind den ganzen Tag über beschäftigt.«

»Zum Beispiel?« Jacks Interesse steigerte sich immer mehr.

»Zum Beispiel unser Küchengott, der alles, was gesagt wird, hört und den andern Göttern wiederholt.«

»Wird in der Küche mehr gesprochen als anderswo?«

»Vielleicht. Ich glaube, in den Küchen wird immer aufrichtiger geredet. Vielleicht hängt das Bild dieses Gottes auch deshalb in der Küche, weil er hier der Zuckerdose näher ist. Sobald etwas Unfreundliches oder Grobes gesagt wird, das wir vor den anderen Göttern verheimlichen wollen, berühren wir die Lippen des Küchengottes mit Zucker.«

»Damit sein Bericht schmackhafter ausfalle?«

»Ja. Und wir zahlen durch irgendeinen Dienst für den Zucker.«

»Oder Sie werden in die Ecke gestellt und müssen über Ihr Vergehen nachdenken«, meinte Jack.

»Nein«, erwiderte Audrey ernst. »Chinesen würden nie ein Kind auf diese Art strafen. Nachdenken ist dort überhaupt keine Strafe, sondern eine Belohnung. Der chinesische Vater wäre bestürzt, fände sein Kind eine Stunde gedankenvoller Einkehr langweilig.«

Diese Idee war für Jack neu, doch gab er zu, daß sie etwas für sich habe.

»Sollte ich Gelegenheit haben, dies den Eltern eines kleinen Kindes mitzuteilen«, meinte er, »so werden sie etwas zum Nachdenken haben.«

Audrey meinte offenherzig: »Vielleicht werden Sie sich daran erinnern, wenn Sie in die Lage kommen werden, Ihre eigenen Kinder zu strafen – falls Sie welche haben sollten.«

»Ich werde keine haben«, erklärte Jack energisch. »Ich sagte Ihnen doch, daß es in meinem Leben keinen Raum für Verpflichtungen gibt, die einem durch ein Familienleben auferlegt werden. Diesen Gedanken habe ich bereits vor Jahren aufgegeben. Mir fehlt für solche Verantwortung die Zeit.«

»Ich fürchte, daß ich mich, wenn auch aus andern Gründen, in einer ähnlichen Lage befinde«, sagte Audrey nach einer kurzen Pause gedankenvoll. »Ich könnte mich kaum mit dem Leben in einem amerikanischen Heim abfinden und könnte andrerseits, sosehr ich die Chinesen achte, doch auch keinen Chinesen heiraten.«

»Wir haben vieles gemeinsam, Audrey. Es macht Ihnen doch nichts aus, daß ich Sie Audrey nenne?«

Sie lächelte und schüttelte den Kopf.

»Nein, aber es wäre mir angenehm, wenn Sie mich bei dem Namen nennen wollten, den ich viel lieber habe, bei meinem chinesischen Namen, den ich noch vor kurzem führte. Es würde mich freuen, wollten Sie mich Lan Ying nennen. Ich sehne mich danach, diesen Namen zu hören. Wollen Sie?« Sie beugte sich leicht vor, ihre Augen wurden von einem neuen Interesse erhellt. Dann, die Bewegung der Lippen leicht übertreibend, als lehre sie ein kleines Kind die Worte, sagte sie: »Lan Ying.«

»Lan Ying«, wiederholte Jack zärtlich und versuchte, den Namen in dem singenden Tonfall auszusprechen, wie sie es getan hatte. Sie klatschte beglückt in die Hände.

»Sehr gut für das erste Mal«, lobte sie. »Sie können gut nachahmen, Dr. Beaven. Ich werde Sie einige Worte, die ich besonders liebe, lehren, nur um sie zu hören. Ich hungere nach dem Klang meiner Muttersprache. Vielleicht ahnen Sie gar nicht, wie heftig solch ein Hunger sein kann.«

»Ich habe nie darüber nachgedacht«, gab Jack zu, »doch kann ich begreifen, Lan Ying, wie Ihnen zumute ist. Jetzt, da wir darüber sprechen, fällt mir ein, daß auch ich seit langem meinen Namen nur noch selten höre. Die Kollegen, die mich Jack nannten, sind fast alle fort. In der Klinik und im Anatomischen Institut bin ich Dr. Beaven.« Nach einer langen Pause fragte Lan Ying:

»Soll ich …« Ihre Augen blickten ihn fragend an.

»Möchten Sie es gern?« Jack versuchte, gelassen zu erscheinen.

»Wenn ich darf. Wir kennen uns zwar kaum, und vielleicht schickt es sich nicht; aber Sie würden es mir sagen, nicht wahr, wenn es für mich unziemend wäre?«

»Ja, ich würde es Ihnen sagen, Lan Ying.« Sein Herz pochte heftig. Er hoffte, sie bemerke seine Erregung nicht.

Sie hatte die Lippen leicht geschürzt und die Augen abgewandt, als überlege sie, ob sie ihm etwas anvertrauen solle.

»Ihr Name wird für mich nicht schwer auszusprechen sein«, wagte sie schließlich zu sagen. »In der Klinik hörte ich Miss Warren mit einer andern Pflegerin über Sie sprechen, und sie nannte Sie bei Ihrem Vornamen. Ich glaube, Pflegerinnen tun das oft. Wissen Sie, wie Dr. Forrester genannt wird?« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

Jack nickte grinsend.

»Ja, ich weiß es.«

»Weiß er es?«

»Selbstverständlich.«

Sie schüttelte in Erwartung seiner Antwort den Kopf: »Hat er es ungern?«

»Ich weiß es nicht. Es gibt so viele Dinge, die Tubby nicht liebt. Dies kann eins von ihnen sein.«

»Was sind die andern?« erkundigte Lan Ying sich voller Interesse.

»Ich zum Beispiel.«

Lan Ying machte eine kleine ungläubige Gebärde.

»Ich hatte davon gehört. Aber das ist doch sicher nicht wahr.«

»Warum glauben Sie das?«

»Weil er meiner Schwester sagte, Sie würden der beste Chirurg der Klinik werden. So etwas sagte er nicht, wenn er Sie nicht leiden könnte!«

»Es wäre nicht ausgeschlossen. Ein Mann kann die Leistungen eines andern auch dann anerkennen, wenn er ihn persönlich nicht mag. Bisweilen glaube ich, daß zwei Männer, die einander nicht gern haben, zusammen mehr leisten können als zwei gute Freunde, die ihre Zeit mit Schwatzen vergeuden.«

»Aber – Sie haben Dr. Forrester gern, nicht wahr?«

»Ich denke nicht daran!«

»Und Sie arbeiten den ganzen Tag mit ihm zusammen?«

»Bisweilen auch die ganze Nacht.«

»Und er nennt Sie nie ›Jack‹?« fragte sie. Es tat ihm wohl, seinen Namen von Lan Yings Lippen zu hören. Es waren reizende Lippen, deren schöngeschwungene Linie ihn entzückte. Er sah diesmal nicht bis zu den Muskeln, von denen der Mund bewegt wurde; er hatte alle anatomischen Kenntnisse vergessen.

»Nein«, entgegnete er mit einem leicht ironischen Lächeln. »Tubby ist nie kameradschaftlich. Er ist kritisch und mürrisch. Doch muß ich sagen, daß seine Vorwürfe meist gerecht und anspornend sind. Er ist ein sehr kluger Mensch. Es war Tubby, der am ersten Tag des Semesters jene Rede gehalten hatte, von der ich Ihnen erzählte – jene Rede, durch die mein ganzes Leben verwandelt wurde.«

Lan Ying schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wollen Sie damit sagen«, fragte sie verwirrt, »daß Sie der Ansicht eines Mannes – und noch dazu eines Mannes, den Sie nicht mögen – gestatten, Ihr ganzes Leben in andere Bahnen zu lenken?«

»Weshalb nicht? In solchen Fragen sind Ansichten kein Privatbesitz. Ich brauche Tubby nicht gern zu haben, um zu erkennen, daß seine Worte vernünftig sind. Dies mag den Anschein erwecken, ich sei nicht sensibel; vielleicht bin ich es wirklich nicht. Es ist mir bisweilen aufgefallen, daß meine Sympathien und Antipathien schwächer sind als die anderer Leute. Ein Teil meines selbstgewählten Programms besteht aus der strengen Disziplinierung meiner Zu- und Abneigungen. Durch meine Antipathie gegen Tubby wird das Bewußtsein, daß wir zu gegenseitigem Nutzen zusammenarbeiten, nicht im geringsten beeinträchtigt. Und ich glaube«, er wählte sorgfältig seine Worte, »daß ich mich einer Zuneigung gegenüber ebenso verhalten würde. Ich könnte eine ganz starke empfinden, ohne mich durch sie von meiner Arbeit abhalten zu lassen.«

Diese Worte, die er eigentlich für sich selbst gesprochen hatte, gefielen ihm nicht ganz.

»Sie haben einen sehr starken Charakter, Jack«, sagte Lan Ying ernst. Diese Bemerkung erweckte in ihm selbst das Gefühl einer unangenehmen Tugendhaftigkeit, doch hatte er nichts anderes verdient. »Und sind sehr einsam, glaube ich«, fügte sie hinzu, »wenn Sie so wenig Interesse für die Menschen als Menschen besitzen.«

»Jede wissenschaftliche Forschung verurteilt einen zur Einsamkeit«, erklärte Jack, dem wahren Sinn ihrer Worte ausweichend. »Aber«, sein Gesicht erhellte sich, »sie bietet ihre Kompensationen. Ich bin vollkommen zufrieden.«

Lan Ying schüttelte mit kindlichem Eigensinn den Kopf.

»Sie können es nicht sein«, beharrte sie und legte impulsiv die Hand auf seinen Arm. »Warum freunden Sie sich nicht mit diesem Tubby an? Er ist eigensinnig und will nicht den ersten Schritt zu einer Versöhnung tun. Sie sind jünger – und nicht eigensinnig. Und ich weiß, daß Sie nicht verbittert sind.«

Jack runzelte die Stirn. Dies war ein heikles Thema. Er hoffte, sie würde davon bald abgehen, vermochte jedoch nicht, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

»Es kann keine Versöhnung geben. Wir, Tubby und ich, waren nie Freunde. Es gab zwischen uns nie eine Freundschaft, die aufgefrischt oder erneuert werden könnte.«

»Das tut mir leid, Jack«, sagte sie leise. »Es muß für Sie beide schädlich sein, solche – solche Gefühle zu haben.« Dann bemerkte sie seine Verstimmung und erkannte, sie hatten über dieses Thema genug gesprochen. Sie lenkte rasch seine Aufmerksamkeit auf die Schönheit der friedlichen Landschaft vor ihnen.

»Vielleicht haben Sie Lust, zum See hinunterzugehen?« schlug Jack vor. Er warf einen Blick auf ihre Schuhe. »Ich glaube nicht, daß es für Sie zu beschwerlich wäre. Der Weg scheint ganz gut zu sein.«

Die Idee gefiel ihr, und sie schritten zwischen den hohen Tannen dahin. Jack bemühte sich nicht, seine langen Schritte ihren kleinen anzupassen. Sie hatte winzige Füße. Er betrachtete sie verstohlen. Aufblickend, bemerkte Lan Ying, daß er lächelte, und fragte mit den Augen, warum?

»Ich hatte irgendwann gehört«, sagte er kühn, »daß die Chinesen für kleine Füße nichts mehr übrig haben. Wie mir scheint, stimmt das Gerücht nicht.«

»Danke. Das heißt, wenn Sie das meinen, woran ich denke. Ich bin nicht sehr groß, ich brauche keine großen Füße.«

»Ein schrecklicher Gedanke, die Füße der weiblichen Kinder zu verstümmeln und sie durchs Leben humpeln zu lassen.«

Lan Ying lachte, blieb stehen und wies auf ihre drei Zoll hohen Absätze.

»Ich glaube, es gibt kein Land der Welt, wo erwartet wird, daß die Frauen auf natürliche Art gehen«, sagte sie. »Schauen Sie mal in einem feinen Restaurant unter die Tische?«

Jack entsann sich nicht, es jemals getan zu haben, versprach aber, das Versäumnis nachzuholen.

»Sie denken wohl an die ausgezogenen Schuhe?« erkundigte er sich.

»Es ist schrecklich komisch«, meinte sie. »Die Chinesen gaben die Sitte gerade rechtzeitig auf, um mir viel Unbehagen zu ersparen, und nun kam ich nach Amerika, um sie hier wiederzufinden.«

»Wäre ich eine Frau«, erklärte Jack, »ich würde unabhängig sein und tragen, was mir behebt.«

»Pah!« spottete Lan Ying mit unerwarteter Ironie. »Was wissen Sie von Frauen!«

Er nickte zustimmend, wenngleich er das Gefühl hatte, daß er über dieses Thema ganz gut debattieren könne. Lan Ying schien zu finden, daß es an der Zeit wäre, von anderen Dingen zu reden; sie pries begeistert die Schönheit der Natur ringsum.

»Wie erfrischend muß für Sie all dies nach den langen, mühseligen Tagen in der Klinik sein!« meinte sie. »Das Elend und der Jammer der Kranken müssen Sie sehr bedrücken.«

Jacks Nicken bedeutete weder ja noch nein. Er wollte nicht den Sentimentalen und noch weniger den Märtyrer spielen.

»Der Jammer und das Elend der Kranken«, erklärte er lässig, »begleiten die tägliche Arbeit eines Arztes, er darf sich von ihnen nicht erschüttern lassen. Je tiefer er erschüttert ist, um so weniger vermag er den Patienten zu helfen. Den Kummer muß man den Kranken selbst und deren Familien überlassen. Ein Arzt darf sein Herz nicht auf der Zunge tragen.«

Die Metapher erregte Lan Yings Interesse.

»Wie komisch, das Herz auf der Zunge tragen!« rief sie aus.

»Haben Sie diesen Ausdruck noch nie gehört? Wenn ein Mensch leicht gerührt wird oder leicht Zuneigung empfindet, sagen wir: er trägt das Herz auf der Zunge.«

»Ist es denn unschicklich, jemanden zu bemitleiden?« fragte sie mit großen Augen. »Darf man keine Teilnahme und keine Zuneigung zeigen?«

»Das hängt ganz von den Umständen ab«, erwiderte Jack gemessen. »Mitleid ist meist schädlich. Man sollte glauben, daß ein so billiges Geschenk wie Mitleid nicht ins Gewicht falle, doch kann es äußerst schlechte Folgen haben. Die Teilnahme betont häufig Dinge, die weit weniger unangenehm wären, wollten die Menschen lieber versuchen, sie zu vergessen. Was aber die Zuneigung anbelangt, so ist das etwas anderes. Man muß jedoch vorsichtig sein bei der Wahl, wem man sie bezeigt.« Er versuchte dem letzten Satz eine unpersönliche Note zu geben. Lan Ying hielt das Gesicht abgewandt. Ihre Blicke hingen an den kleinen Wellen des Sees.

»Es mag seltsam erscheinen«, meinte sie, sich ihm langsam wieder zuwendend, »aber ich habe in all diesen Dingen noch viel zu lernen. In China verkehren wir außerhalb der Familie nur mit einem kleinen Freundeskreis. Und selbst in der Familie kommen Männer und Frauen weder viel zusammen, noch werden sie vertraut miteinander. Ich bin unter Frauen herangewachsen, habe vielleicht immer mein Herz auf der Zunge getragen. Habe ich eine Freundin gern, so kann ich nicht anders, ich muß es ihr sagen. – Darf man das denn nicht?« wollte sie wissen.

»O ja«, beruhigte Jack sie, »das darf man schon!«

Ihre ernsten Augen erforschten sein Gesicht mit der Offenheit eines Kindes.

»Aber – ich darf nicht sagen, daß ich Sie gern habe?«

Er sah sie einen Augenblick an, lächelte und erwiderte langsam: »Wären Sie meine Schwester, so würde ich Ihnen raten, es nicht zu sagen – zumindest nicht so geradeheraus.«

»Oh!« sagte Lan Ying und fügte hinzu: »Wäre ich Ihre Schwester, so dürfte ich Ihnen nicht sagen, daß ich Sie gern habe? Wie komisch!«

»Ich glaube, Sie haben mich mißverstanden. Ich meinte: wären Sie meine Schwester, so würde ich Ihnen raten, es nicht einem Freund zu sagen. Er könnte Ihre Aufrichtigkeit mißbrauchen.«

»Aber – Sie täten es nicht?« Dabei blickte sie ihm voll in die Augen.

»Nein, Lan Ying«, erwiderte Jack entschlossen. »Mir können Sie sagen, was Sie wollen, ich werde es verstehen. Sie müssen ja wissen, daß ich Sie sehr, sehr gern habe.«

»Ich bin so froh darüber«, sagte sie beglückt. »Heute abend werde ich meiner Pflegemutter schreiben, daß ich jetzt einen guten Freund habe.«

»Vielleicht werden Sie gelegentlich auch mir schreiben«, schlug Jack vor und gestand sich sofort ein, daß sein Benehmen wirklich nicht richtig sei – so dürfe das nicht weitergehen!

»Wenn Sie es wollen. Aber meine Briefe werden nicht interessant sein. Es geschieht mit mir nie etwas. Bei Ihnen ist das ganz anders. Ihr Leben ist voller Bewegung. Sie tun so viel Gutes.«

Ihr Gespräch war so restlos aufrichtig und ehrlich, daß Jack sich veranlaßt fühlte, ihre Ansicht über seine Selbstlosigkeit richtigzustellen. Sie setzten sich auf eine niedrige grüne Anhöhe am Wasser.

»Sie überschätzen mich, Lan Ying. Ich tue keineswegs bewußt Gutes. Die Patienten kommen nicht auf meine Einladung in die Klinik und interessieren mich nur rein beruflich. Haben sie außer körperlichen Schmerzen auch andere, so ist das ihre Sache, und es geht mich nichts an. Ein Mensch, der mit einem Rückenmarktumor in die Klinik kommt, leidet vielleicht auch an seelischem Kummer, der ebenfalls behoben werden sollte. Aber soweit es mich betrifft, ist er nur ein …«

»Nur ein Tumor«, unterbrach Lan Ying ihn ernst.

»Nur ein Fall«, verbesserte Jack sie. »Vielleicht habe ich mich schlecht ausgedrückt. Was ich sagen wollte, ist dies: ich versuche, meine Arbeit so gut wie möglich zu verrichten, ohne meine Aufmerksamkeit zwischen meinen Berufspflichten und einem gefühlsmäßigen Interesse für den Patienten zu teilen.«

»Ich glaube, Jack, daß Sie sich dadurch sehr viele Freuden, auf die Sie ein Anrecht hätten, entgehen lassen. Haben Sie durch eine Operation einen Kranken geheilt, so ist er Ihnen bestimmt so dankbar, daß alles, was Sie sagen, bei ihm schwer ins Gewicht fällt. Wäre ich zum Beispiel krank gewesen und verdankte ich meine Genesung Ihnen, so wäre es bei mir der Fall. Ich würde jeden Ihrer Ratschläge befolgen.«

Einen Augenblick lang entsann er sich des Anlasses, da er sie sich auf dem Operationstisch vorgestellt hatte. Damals war das Bild so lebendig gewesen, daß er jetzt bei der Erinnerung daran einen leichten Schauder nicht unterdrücken konnte.

»Es ist sehr lieb von Ihnen, das zu glauben, Lan Ying, doch fürchte ich, Sie würden keine guten Ratschläge zu hören bekommen. Ärzte wissen über die außerhalb ihres Berufes liegenden Dinge nur sehr wenig.«

»Sie müssen es aber tun«, beharrte Lan Ying. »Sie haben so viele Gelegenheiten, Menschen zu helfen. Ich finde, es muß ein sehr langweiliger und trübseliger Beruf sein, wenn man Menschen nur aufschneidet und wieder zunäht. Aber es wäre gar nicht langweilig und trübselig, gäbe man den Menschen nach ihrer Genesung Mut und einen Leitfaden für ihr künftiges Leben.«

Jack zögerte mit der Antwort. Er hatte bereits seine Ansicht über die Aufgabe des Chirurgen geäußert und wollte diese nicht noch weiter verteidigen.

»Werden Sie bisweilen zu Dr. Cunningham auf Besuch kommen?« erkundigte sich Lan Ying. Jack fragte sich, ob Cunningham ihr im Zusammenhang mit ihrer Ansicht über seinen Beruf eingefallen war. Einen Augenblick verspürte er ein wenig Eifersucht – es war das erste Mal, daß er diese Regung kennenlernte. Seine Antwort ließ lange auf sich warten. Lan Ying blickte fragend zu ihm auf. Er wandte sich ihr zu und streckte ihr die Hand hin, in die sie vertrauensvoll ihre kleine behandschuhte legte.

»Lan Ying«, sagte er sanft, »ich habe Sie so gern, daß ich nichts tun möchte, was Sie betrüben könnte. Ich wäre glücklich, dürfte ich Sie häufig sehen. Aber ich bin – wie ich Ihnen bereits sagte, ein Sklave meiner Arbeit. Ich möchte gern Ihr Freund sein, doch fürchte ich, daß diese Freundschaft wenig zu Ihrem Glück beitragen würde.«

»Sie meinen – wir sollen – einander nicht mehr sehen?« Die Frage kam kaum vernehmbar.

»Sie sind so aufrichtig zu mir gewesen, Lan Ying, daß auch ich offen mit Ihnen sprechen muß. Ich dürfte dies nicht sagen«, fuhr er tollkühn fort, »aber niemand hat je …« Er brach plötzlich ab und ließ ihre Hand los. Nach einer kurzen Weile des Ringens sagte er entschlossen: »Meine Freundschaft ist ein armseliges Etwas. Ich werde Sie nie vergessen. Wir werden uns manchmal schreiben«, beendete er verwirrt den Satz.

Sie nahm seine Hand zwischen ihre beiden Hände und drückte sie fest.

»Ich verstehe, was Sie meinen, Jack, verstehe Sie vielleicht sogar besser, als Sie selbst es tun. Ihr Leben ist auf einen Plan zugeschnitten – es ist ein sehr tapferes Leben –, und in ihm ist weder für etwas anderes noch für jemand anderen Platz. Sie haben auf alles verzichtet, um ein großer Gelehrter zu werden. Ich wäre unglücklich, würde unsere Freundschaft Sie beunruhigen oder Ihren Geist ablenken. Aber das muß ja nicht sein. Wir sind beide einsame Menschen. Sie sehen die Männer und Frauen nur als körperlich Kranke, die Sie gesund machen müssen. – Tag um Tag, Nacht um Nacht, Ihr Leben lang. Wahrlich eine schwere Aufgabe. Und ich – ich habe keine Heimat, keine Interessen, kein Glück. Wir sind beide Verlassene, Sie und ich.«

Sie verstummte. Er fühlte, daß sie bei einem kritischen Punkt angelangt seien. Die feste Hand, mit der er seit Jahren seine Gefühle und seine Leidenschaften im Zaum gehalten hatte, sie versagte jedoch noch nicht.

»Als ich merkte, daß Sie mich ein wenig mögen«, fuhr Lan Ying fort, »wollte ich Sie zum Freund haben. Außer Ihnen versteht mich niemand. Und jetzt haben Sie Angst, mich liebzugewinnen, nicht wahr?« Ihre Augen wurden feucht.

»Von nun an, Lan Ying«, erklärte Jack mit etwas belegter Stimme, »werden wir einander verstehen. Es wird eine ungewöhnliche Freundschaft sein, weil keiner von uns vom andern mehr erwarten wird als – Kameradschaft.«

»Ich bin froh«, entgegnete sie. »Das wird sehr schön sein. Ich werde für Ihre Bibliothek ein Aquarell malen. – Möchten Sie eins?«

»Ja, bitte – und kann ich ein Foto von Ihnen haben, Lan Ying?«

»Vielleicht in meiner chinesischen Tracht?«

»In welcher Tracht auch immer, wenn Sie es nur sind.«

»Wollen wir jetzt gehen?« fragte sie. »Ich muß zu Hause sein, wenn Claudia heimkommt.«

Sie schritten langsam zur Landstraße zurück, bemüht, nicht mehr über ihr persönliches Verhältnis zu sprechen. Jack öffnete ihr den Autoschlag und schloß ihn wieder mit dem Gefühl, er habe zwar kein Recht auf sie, doch gehöre sie trotzdem zu ihm. Er stieg von der andern Seite ein, trat auf den Hebel und war im Begriff, den Motor in Gang zu setzen. Aber dann hielt er plötzlich inne. »Heute war der schönste Tag, den ich je erlebt habe«, erklärte er. »Danke, Lan Ying, daß Sie mit mir gekommen sind.«

Sie reichte ihm die Hand. »Auch ich war glücklich«, sagte sie leise. »Ich werde mich hineinfinden, lange, lange zu warten, bis wir uns wiedersehen. Ob wir wohl«, sie seufzte leicht, »wieder einmal so werden miteinander plaudern können wie heute – allein zu zweien?«

»Hoffentlich«, antwortete Jack mit nicht ganz fester Stimme. Dann schlang er, in einer plötzlichen Regung, den Arm um Audrey und zog sie an sich. Sie machte eine kleine abwehrende Gebärde, wie ein gefangener Vogel, hauchte ein ersticktes »Oh!« und lag dann in seinen Armen, das Gesicht an seine Schulter geschmiegt. Eine Minute verging. Lan Ying rührte sich. Jack hob ihre kleine Hand an seine Lippen und küßte sie. Lan Yings verträumte Augen folgten der Hand und beobachteten die Liebkosung mit einem Lächeln auf den geöffneten Lippen. Ihre Blicke begegneten einander in einem Geständnis, das durch keinerlei Worte hätte bekräftigt zu werden brauchen. Sie befreite langsam ihre Hand und preßte mit abgewandten Augen den Handrücken an ihre Lippen.

»Lan Ying«, Jacks Stimme war sehr leise, »ich habe kein Recht, Sie darum zu bitten – und wenn Sie es nicht wollen, werde ich es verstehen –, aber wir werden einander vielleicht lange nicht sehen.«

Er beugte sich bittend zu ihr nieder. Eine kurze Weile erforschte sie ernst seine Augen, jedes einzeln, seine Lippen, kehrte wieder zu den Augen zurück, lächelte befangen und sagte mit einem kindlichen Kopfschütteln: »Wäre es unrecht, wenn ich es wagte?«

Die Falten um Jacks Augen vertieften sich.

»Das dürfen Sie mich nicht fragen, Lan Ying, das müssen Sie selbst wissen.«

Sie wandte das Gesicht ab und überlegte einen Augenblick. Zarte Röte stieg in ihre Wangen. Dann blickte sie ihn von neuem an und sagte schüchtern: »Vielleicht kommt es Ihnen komisch vor, Jack, aber ich habe in meinem ganzen Leben nur meine Schwester – ein einziges Mal – und den kleinen Teddy geküßt. Vielleicht werde ich es nicht sehr gut machen.«

Er schlang die Arme fest um sie und zog sie wieder an sich, küßte die liebe schwarze Haarfranse auf der weißen Stirn und drückte seine Wange gegen die ihre, die weich und warm war. Eine kleine Hand legte sich vertrauensvoll um seinen Hals. Lan Ying hielt die Augen geschlossen.

Mit wildpochendem Herzen fand er ihre Lippen. Sie küßte zuerst schüchtern und dann mit ganzem Herzen zurück. Für Sekunden der Verzückung schien eine mächtige Woge beide fortzureißen. Sie klammerten sich aneinander, verblüfft über die Gewalt ihrer Gefühle.

Beaven war mehr als bestürzt, er erkannte plötzlich, daß er tödlich erschrocken war. Das hatte er nicht geahnt, daß ein Mensch mit einem strengkontrollierten Geist dermaßen erschüttert werden konnte. Er riß sich beinahe mit Heftigkeit von dem Mädchen los und versuchte, seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen.

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann flüsterte Beaven mit einer gegen seinen Willen zitternden Stimme: »Danke, Liebste, du warst so gut zu mir! Aber du darfst es mir nie wieder erlauben, ich habe kein Recht auf dich.«

Sie legte die Handfläche auf seine Wange.

»Bitte, bereue es nicht, Jack! Es war ja mein Entschluß mein Wunsch. Wir werden es nicht mehr tun. Sollen wir gehen? Claudia wird nicht wissen, wo ich bin.«

Jack gab Gas, und das Auto fuhr langsam auf die Straße hinaus.

»Ich hätte nie gedacht, daß mit mir so etwas geschehen könnte«, flüsterte Jack.

Lan Ying zog die Handschuhe über ihre schmalen Hände.

»Es ist mit dir nichts geschehen, Jack«, sagte sie beschwichtigend. »Du wirst jetzt zu deiner Bestimmung zurückkehren und ich zu der meinen. Aber – wir werden immer gute Freunde sein, nicht wahr, Jack?«

Das Auto fuhr rascher. Seine Augen waren auf die Straße gerichtet.

»Ja«, antwortete er aufrichtig. »Das werden wir sein, Lan Ying.«


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