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Es war am vierundzwanzigsten Dezember, spätnachmittags. Den ganzen Tag war der Himmel bewölkt gewesen, und seit zwei Stunden fiel der Schnee in großen Flocken, die rasch schmolzen. Kein Wetter für Sport.
Die Straßenlaternen im Geschäftsviertel der unteren Stadt waren um drei Uhr angezündet worden, die Autos fuhren spritzend, glitschend, mit Ketten gesichert durch die Straßen. In überfüllten Läden gähnten todmüde Verkäuferinnen ungeniert, während sie das Lob ihrer Waren sangen.
Jene Studenten, die es sich leisten konnten, waren bereits vor drei Tagen in die Ferien heimgereist. Nur einige Gebäude um die Universität hatten erhellte Fenster. Die Professoren halfen ihren Frauen, kleine Bäume mit Goldfäden und Glaskugeln zu schmücken, sie befolgten den Ritus mit Würde und Genauigkeit und hoben das Seidenpapier fürs nächste Jahr auf.
Die Straßen im Viertel der Medizinischen Fakultät lagen fast verödet. Nur im Hause der Administration war das Büro des Universitätsschatzmeisters erhellt und im oberen Stockwerk von Lister Hall das Anatomische Institut. Sonst zeigte sich nirgends Leben.
Von Mrs. Doyles Mietern waren drei nicht nach Hause gefahren: Bugs Cartmell, weil er vor kurzem einen Stiefvater bekommen hatte und nicht heimwollte, Tony Wollason, weil er in Wyoming zu Hause war und kein Geld für die weite Reise besaß, Jack Beaven, weil er kein Heim hatte.
Die Witwe Doyle, hochgewachsen, hager und grimmig, die bereits fünf Studentengenerationen beherbergt hatte und die mit erstaunlicher Geläufigkeit sprach, war eben von einem Besuch beim Chiropathen, der ihr Ischias behandelte, nach Hause gekommen. Sie saß gemächlich im Schaukelstuhl ihres kleinen Wohnzimmers, Kaugummi im Mund und vertieft in die Lektüre ihres Lieblingsmagazins »Astrologie«. In ihrem Leben bedeutete Weihnachten keine Störung. Bereitete es den Eltern kleiner Kinder Spaß, ihre Häuser eine Woche lang auf den Kopf zu stellen und ihre Zimmer mit Fichtennadeln zu beschmutzen, so war das ganz in Ordnung. Mrs. Doyle jedoch sah nicht ein, weshalb sie Zeit und Geld für den weihnachtlichen Schmuck ihres Hauses vergeuden sollte. Es lag nicht in ihrer Art, die Mieter zu verwöhnen. Einige ihr bekannte Wirtinnen gaben sich alle Mühe, nett zu den Studenten zu sein; der Dank, den sie ernteten, war nur gering. Die Burschen füllten ihre Federn über dem Teppich, wischten ihre Rasiermesser an die Handtücher, putzten ihre Schuhe mit den Vorhängen, auch wenn man diese Gentlemen noch so sehr verhätschelte. Mrs. Doyle vermochte darum auch keine mütterlichen Gefühle für sie aufzubringen.
Das Haus war still, schlecht beleuchtet und kalt. Tony, der fast den ganzen Tag geschlafen hatte, war ins Kino gegangen. Bugs hatte von seinem Bruder aus New York eine Flasche illegalen Whisky bekommen, schlau in einer Schachtel verpackt, auf der »Elektrische Batterien« stand. Da er den großmütigen Vorsatz hegte, das Geschenk mit seinen Kommilitonen zu teilen, beschloß er, es vorerst auszuprobieren und festzustellen, ob es für sie zuträglich sein würde. In diesen Tagen konnte man nicht vorsichtig genug sein. Nachdem er sich von der Qualität des Whiskys überzeugt hatte, bemerkte Bugs, daß er nasse Füße hatte. Er vertauschte die Schuhe gegen abgetragene Mokassins, schlurfte in die Küche hinunter, wo er mit heiserer Stimme um einen Krug heißen Wassers, eine Handvoll Zuckerwürfel und, leihweise, einen Muskatschüttler bat.
Mrs. Doyle, die ihn nicht vergeblich seit mehr als zwei Jahren bediente, bemerkte, daß seine Erkältung von einem Augenblick auf den andern gekommen sein mußte. Sie blähte die Nasenflügel und schnupperte, während er, neben ihr stehend, auf das heiße Wasser wartete, und sagte: »Ich nehme an, daß Sie keinen Arzt brauchen werden.« Dabei verzog sie das Gesicht, als wolle sie sagen, es gehe sie nichts an, wenn er – es war ja Weihnachten – ein wenig über die Schnur haue; doch solle er sich nur nicht einbilden, sie bemerke das nicht. Bugs erwiderte mit einem frechen Grinsen: nein, er brauche keinen Arzt, er glaube überhaupt nicht an Ärzte; sollte er einmal schwerkrank werden, so werde er einen Gesundbeter kommen lassen. Danach zog er sich in sein unordentliches Zimmer zurück und legte sich bald darauf, tüchtig beschwipst, mit einem Exemplar von »Arrowsmith« ins Bett, einem Roman, der sich mit dem Ärzteberuf befaßte. – Eines Tages, dachte er, werde auch er einen Roman schreiben. Das Buch dürfe niemandem gefallen, doch werde es die Wahrheit enthalten.
Beaven hatte um die Erlaubnis gebeten, während der Weihnachtsferien im Anatomischen Institut arbeiten zu dürfen. Das einzig Ungewöhnliche an dieser Bitte war, daß sie fast nie von Studenten im ersten Jahr ausgesprochen und meist nur den im letzten Jahr stehenden Studenten gewährt wurde. Für gewöhnlich mußte man Tubbys Erlaubnis einholen; doch Jack wollte von Tubby keine Gefälligkeit und hatte sein Ersuchen an das Büro des Dekans gerichtet, ein vollkommen korrektes Vorgehen. Er bekam die Erlaubnis. Zweifellos war dazu Tubbys Zustimmung erforderlich gewesen, doch hatte Jack auf diese Art ein persönliches Zusammentreffen vermieden.
Das Verhältnis zwischen den beiden war zu einem Quell der Belustigungen und der Mutmaßungen geworden. Die erste Angst, Tubby werde, wütend über die erlittene Schlappe, das ganze Auditorium für Beavens Frechheit bestrafen, war bald verflogen. Tubby benahm sich ungeduldig, anspruchsvoll und ironisch, doch nicht in höherem Maße, als er dies seinem Ruf von Grobheit schuldete.
Der Kampf zwischen dem Professor und seinem unseligen Schüler ging ununterbrochen weiter. Bisweilen ärgerte Tubby die Studenten; doch hatte diese Feindseligkeit auch ihre komische Seite. Vom ersten Tag an pflegte er Beaven wegen seiner religiösen Erziehung und seiner angeblichen Frömmigkeit zu verhöhnen. Während der Vorlesungen richtete er stets nur honigsüße Worte an ihn, um anzudeuten, daß der Student ein rauhes Zupacken nicht ertrage. Würde Jack einem Mönchsorden angehört haben und wäre er in Kutte und Kapuze erschienen, Tubby hätte ihn nicht mit größerem Respekt behandeln können. Bisweilen wurde der Spott des Professors dermaßen plump, daß er langweilig wirkte. War dies der Fall, so nahmen Beavens Antworten keine Rücksicht auf die Stimmung, in der die Fragen gestellt wurden. Bisweilen spielte er die ihm zugedachte Rolle, und der Dialog begann verheißungsvoll, doch wurde Tubby mißmutig, noch ehe das Gespräch zu Ende war. Eines Tages, da die Diskussion sich mit den Phänomenen der endokrinen Drüsen befaßte und über den Einfluß der Stimmung bei der Beschleunigung oder Verlangsamung körperlicher Funktionen gesprochen wurde – von der übernatürlichen Kraft des Wütenden, dem seltsamen Etwas, das, Überwindung des toten Punktes genannt, Wettläufer unglaubliche Leistungen vollbringen läßt –, sprach Tubby vom Adrenalin. Er führte aus, daß es sich bei Männern auf dem Schlachtfeld in den Blutkreislauf ergieße, nannte es eine Prophylaxe gegen Blutungen und warf die Frage auf, ob die Drüsen im Notfall Immunität gegen Krankheiten zu verleihen vermöchten.
»Bruder Beaven«, fragte Tubby, »glauben Sie, die Tatsache – falls es eine Tatsache ist –, daß der heilige Franziskus sich nicht ansteckte, als er den Aussätzigen küßte, könne auf seine Frömmigkeit zurückgeführt werden?«
»Ja, Sir«, erwiderte Jack ernst. »In der Bruderschaft, der wir angehören, küssen wir häufig Aussätzige.«
Das Auditorium erwartete eine Hetze und spitzte mit glänzenden Augen die Ohren.
»Und wurde festgestellt, daß Sie von der Bruderschaft dabei nicht zu Schaden kommen?« fragte Tubby.
»Es hat uns nicht geschadet. Das ist unsere Methode, die Euthanasie anzuwenden.«
Alle lachten und fühlten, daß Beaven für sich einen Punkt buchen könne. Das behagte Tubby nicht. Einen Augenblick hatte es den Anschein, als wollte er in seinem Vortrag fortfahren. Dann jedoch beschloß er, Beaven den Gnadenstoß zu versetzen.
»Das führt zu einer interessanten Frage«, erklärte er streng. »Sie scheinen eine interessante Ansicht über die Euthanasie zu haben. Gibt es Umstände, unter denen der Arzt berechtigt ist, einen schmerzlosen Tod seines Patienten herbeizuführen?«
Das Auditorium wurde ernst. Es erweckte den Anschein, als beabsichtige Tubby, sein Opfer in eine Ecke zu treiben, wo jede Ironie leicht mißverstanden werden konnte.
»Es ist ungesetzlich«, erwiderte Jack.
»Ist das der einzige Grund, weshalb Sie es nicht täten?«
»Es ist ein genügender Grund.«
»Sie werden also, wenn Sie Arzt sind, niemanden töten?«
»Wahrscheinlich doch, Sir, aber nicht absichtlich.«
»Ihre Morde werden alle zufällig sein?«
»Ja, Sir, zumindest jene, die ich in Ausübung meines Berufes begehe.«
Tubby grunzte und setzte seinen Vortrag fort, wo er ihn unterbrochen hatte. Allen, auch ihm selbst, war es klar, daß das Intermezzo aller Würde ermangelt hatte; auch war es ihm nicht gelungen, Beaven lächerlich zu machen.
Eine Methode des Quälens, die Tubby während der ersten Tage des neuen Semesters häufig angewandt hatte, war fallengelassen worden. Zuerst hatte er zu dem Kniff Zuflucht genommen, die an Beaven gestellten Fragen so zu formulieren, daß sie nur eine einzige Antwort zuließen. Die Fragen selbst waren so elementar gewesen, daß jeder Gymnasiast mit dem geringsten physiologischen Wissen, falls er kein Trottel war, sie hätte beantworten können. Zum Erstaunen der Studenten gab Tubby diese Taktik auf. Nach einigen Wochen, als die Studenten die vorgeschriebenen anatomischen Zeichnungen ablieferten, hörte Tubby auf, Beaven wie einen Idioten zu behandeln. Im Gegenteil: jetzt fiel, sobald es sich um eine schwierige Frage handelte, die Wahl auf ihn. Bei derlei Gelegenheiten war Tubby mürrisch, aber höflich, und im Auditorium herrschte dann immer Totenstille. Alle erwarteten und hofften, daß Tubby, erhielt er auf eine schwere Frage die richtige Antwort, genügend Anstandsgefühl besitzen werde, seine Anerkennung auszusprechen. Doch nickte er immer nur kurz und fuhr im Fragen fort.
»Mir ist nicht klar, was er erreichen will«, sagte eines Tages die hübsche Gillette, als sie, wie es der Zufall wollte, nach dem Kolleg neben Jack das Universitätsgebäude verließ. »Er weiß, daß Sie sein bester Schüler sind, und gibt das auch durch die an Sie gestellten Fragen zu. Weshalb macht er sich dann trotzdem über Sie lustig?«
»Er kann mich nicht leiden«, entgegnete Jack.
»Jedenfalls ist er recht überheblich«, meinte Winifred teilnehmend.
Jack grinste und erinnerte sie daran, daß Tubby Nervenspezialist sei. Winifreds Interesse machte ihn verlegen.
»Es ist komisch, daß er im Seziersaal an Ihrem Tisch mehr Zeit verbringt als an irgendeinem andern. Ich frage mich häufig, ob er dies nur tut, um Sie zu ärgern und zu tadeln. Eines Tages bemerkte ich, wie er Sie anknurrte, dann Ihr Notizbuch in die Hand nahm, seinen komischen kleinen Zwicker aufsetzte, Ihre Zeichnung lange betrachtete, etwas quer über sie schrieb und Ihnen das Buch fast an den Kopf warf. Dann stolzierte er weiter, wütend wie eine nasse Henne.«
Jack schüttelte den Kopf.
»Ganz so arg war es nicht«, erklärte er. »Tubby machte mir nur einen kleinen Vorschlag, er wies mich auf etwas hin, das er bei der Vorlesung nicht erwähnt hatte. Zwar verdarb er mir die Zeichnung und ich mußte sie noch einmal machen, aber es war sehr interessant.« Zu Winifreds Erstaunen unterbrach Jack sich und sagte: »Strecken Sie die Hand aus. Spreizen Sie die Finger. Biegen Sie den kleinen nach innen. Strecken Sie ihn. Jetzt biegen Sie den nächsten. – Merken Sie den Unterschied? Sehen Sie, wieviel mehr Freiheit der kleine Finger hat?«
Winifred gehorchte und betrachtete prüfend ihre Hand. Sie stellte mit Vergnügen fest, daß es eine hübsche Hand war, und hoffte, Jack werde es ebenfalls feststellen, und vielleicht gar, war die unerwartete Lektion zu Ende, etwas Derartiges sagen. Doch tat er es nicht.
»Der Grund ist«, erklärte er, von der Schönheit ihrer Hand keineswegs angerührt, »daß der kleine Finger eine andere Sehnenstruktur hat; nicht sehr verschieden von den andern, aber dennoch verschieden genug, um aufzufallen. Dies war es, worauf Tubby meine Aufmerksamkeit gelenkt hat.«
»Eine Belanglosigkeit, nicht der Mühe wert«, warf sie ein.
»Vielleicht – aber gerade diese Belanglosigkeiten haben aus Tubby einen großen Anatomen gemacht.«
Winifred schmollte aus Kollegialität und kräuselte den hübschen Mund.
»Sie finden, obwohl er Sie so schlecht behandelt, wirklich, daß er ein großer Mann ist?«
»Natürlich«, entgegnete Jack. »Tubbys Verhalten mir gegenüber hat nichts mit seinen Fähigkeiten als Anatom zu schaffen.«
Sie blickte ihn mit weitaufgerissenen Augen verwirrt an und zögerte lange mit der Antwort. Schließlich sagte sie:
»Ich habe fast Angst vor Ihnen. Ich glaube, Sie sind ebenso kaltschnäuzig wie Tubby. Sie beide geben vor, einander zu hassen, doch in Wirklichkeit ist dies gar nicht der Fall. Ich könnte wetten, Sie gleichen einander wie Zwillinge. Jetzt ahne ich schon, warum Tubby immer an Ihren Tisch kommt und schimpft. Er weiß, daß Sie etwas taugen.«
»Unsinn!« widersprach Jack.
»Ich weiß auch noch etwas anderes«, erklärte Winifred gewichtig. »Gestern hat er angeordnet, daß Ihr Tisch nach der Nordseite, neben ein Fenster, geschoben werde. Ich sagte noch zu Millicent Reeves: ›Ich wette, Tubby hat ihn dorthin versetzt, damit er im Zug sitzt und friert.‹«
Jack lachte.
»Vielleicht haben Sie recht; es ist dort wirklich kalt.«
Winifred hob abwehrend die Hand.
»O nein, Bruder Beaven! Er hat Sie dorthin versetzt, damit Sie Nordlicht haben.«
»Wohin denken Sie? Ich bin der letzte, dem Tubby einen Freundschaftsdienst erweisen würde! – Übrigens verhält er sich allen gegenüber vollkommen objektiv. Ist er etwa Ihnen gegenüber nicht gerecht?«
»Freilich. Aber auf meine Zeichnung hat er nichts über das Irgendetwas in den Fingern gekritzelt.«
»Extensor«, korrigierte Jack. »Sie können auch sagen: ›Extensor digiti quinti proprius.‹« (Charakteristischer Streckmuskel des fünften Fingers.)
»Uff!« seufzte Winifred. »So eine lange Geschichte! Sie versuchen, sich all das Zeug zu merken? Ich nicht!«
Jack betrachtete sie vorwurfsvoll wie ein älterer Bruder.
»Es wäre besser, Sie täten es. Eines Tages gibt's eine Prüfung, und Tubby verlangt, daß jeder sich die lateinischen Bezeichnungen merkt.«
An der Straßenecke angelangt, verlangsamten sie ihre Schritte. Winifred erklärte, es sei ungesund und verdummend, nur zu arbeiten und sich überhaupt nicht zu vergnügen. Während sie dies sagte, blickte sie Jack gerade in die Augen, und sein Herz schlug auf einmal rascher. Er empfand den Wunsch, ihr nachzugeben.
»Leben Sie wohl«, sagte sie, mit einem zärtlichen Unterton in der Stimme.
»Leben Sie wohl.«
Während Jack mit großen Schritten und gestrafften Schultern heimwärts strebte, fühlte er ein wohliges Behagen. Er selbst war nicht auf die Idee gekommen, weshalb der verdammte alte Kerl ihn in die zugige Ecke versetzt hatte. Das Mädchen aber hatte den Grund erraten. – Tubby wollte ihm ermöglichen, sein Bestes zu leisten. Tubby haßte ihn zwar wie den Teufel, doch stand er auf seiner Seite, wenn es sich um ihre gemeinsame Aufgabe handelte. Tubby verdiente eine Tracht Prügel – aber er war ja doch ein großer Wissenschaftler. Jack lachte, lachte laut, erinnerte sich aber gleich darauf, daß, wenn man allein ist und laut lacht, dies ein Zeichen von Wahnsinn sei. Er hatte im Augenblick Winifred völlig vergessen.
Einige Tage später – es ging auf sechs – fühlte Jack, daß jemand neben ihm stand. Er hatte seit vier Uhr selbständig an einer Forschung gearbeitet, und zwar über die Beschaffenheit der linken »vena subclavia«. Tubby hatte, anscheinend mehr zu sich selbst als zu seinen Hörern, gesagt: »Die linke ›vena subclavia‹ strengt sie an. Und wenn Sie Ihr möglichstes getan haben, so bleibt Ihnen noch viel zu lernen übrig. Ich empfehle Ihnen ein fleißiges Studium.« Jack hatte den Wink begriffen und war nach den gewöhnlichen Laboratoriumsstunden noch im Sezierraum geblieben, um eine sorgfältige Sektion auszuführen.
»Hallo!« fuhr er zerstreut auf. »Sie sind noch hier?«
»Meine letzte Zeichnung war schlecht«, flüsterte Winifred. »Er sagte, ich solle sie noch einmal machen. Und jetzt sind alle fort, und hier ist es so gespenstisch. Ich fürchte mich.«
»Seien Sie nicht dumm«, meinte Jack beschwichtigend. »Die Menschen hier sind ganz harmlos. Als sie noch lebten, waren sie vielleicht störende Elemente; jetzt jedoch sind sie Menschenfreunde.« Er reckte seinen schmerzenden Rücken gerade und betrachtete Winifred mit freundlichem Lächeln. »Dieser Kerl da«, Jack klopfte seiner Leiche freundschaftlich auf die Brust, »beging Selbstmord, weil er einen auf eine beträchtliche Summe ausgestellten Scheck gefälscht hat. Der Mann, der dadurch um sein Geld kam, sitzt jetzt wahrscheinlich daheim und liest gemütlich die Abendzeitung. Er ist vermögend und allgemein geachtet. Nach dem Dinner wird er mit seiner Frau zu Freunden gehen, um Bridge zu spielen. Aber er wird nie Gelegenheit haben, seiner Generation einen großen Dienst zu erweisen, denn er ist, was auch immer zu seinen Gunsten vorgebracht werden kann, ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsmensch. Stirbt er, so wird die Freimaurerloge ihn mit allem Pomp begraben. Nahm er am Krieg teil, so wird an seinem Grab vielleicht sogar eine Fanfare geblasen werden. Mein Freund hier hingegen«, fuhr Jack fort, »ist der Medizin bei der Aufklärung über die linke ›vena subclavia‹ behilflich. Ich wollte nur, er wäre nicht so verflucht zurückhaltend.«
Winifred betrachtete ihn; ihre verlockenden Lippen waren aufgeworfen. Ihr Kopf mit dem frischgewellten Haar sah reizend aus.
»Ich begreife nicht, wie Sie es tun können«, sagte sie langsam. »Sie machen es schrecklich gern, nicht wahr? Ich hasse es, verabscheue es!« Sie legte den Kopf in die Biegung ihres Armes und schauderte.
»Vielleicht sollten Sie etwas anderes tun«, meinte Jack brüderlich. »Heimgehen und dort im Gastfreundschaftskomitee der Junior League arbeiten.«
Winifred war dem Weinen nahe. Jack betrachtete sie bekümmert, aber interessiert. Er hatte in den Lehrbüchern auch jene Teile überflogen, die in den Vorlesungen noch nicht behandelt worden waren; sehr bald würden die verschiedenen Funktionen der Tränendrüsen an die Reihe kommen. Er wollte nicht, daß Winifred weine, tat sie es aber dennoch, so konnte er wenigstens die äußeren Phasen dieses Vorganges studieren.
»Kommen Sie«, bat sie mit schluchzender Stimme. »Lassen wir die abscheulichen Leichen hier liegen – gehen wir irgendwohin dinieren – irgendwohin. Und … Oh, ich hab' diese ganze gräßliche Sache satt!« Sie schluchzte auf und vergrub den Kopf in seinem weißen Kittel. Jack streichelte ihren Arm.
Rasche Schritte näherten sich. Professor Milton Forrester hatte unseligerweise gerade diesen dramatischen Augenblick gewählt, ins Laboratorium zu kommen. Er blieb stehen, empört über den sich ihm bietenden Anblick. Winifred hob den Kopf von Jacks Schulter und blickte den Feind mit erschrockenen, nassen Augen an. Jack fühlte sich ebenso töricht, wie er aussah. Tubby schoß wild auf sie los.
»Soso!« schnaubte er. »Sich gerade diesen Ort zum Hofmachen auszusuchen! Es ist ein Wunder, daß sich die Leichen nicht aufsetzen und lachen! Hinaus mit Ihnen! Machen Sie Ihre Liebeleien anderswo ab!« Er schritt steif in Richtung zur Tür. Dann blieb er stehen, wandte sich um und sagte: »Ich wundere mich über Sie, Beaven! Ich hatte gehofft …« Er schüttelte angeekelt den Kopf, öffnete die Tür und verschwand.
»Vielleicht wäre es besser, Sie gingen jetzt«, meinte Jack bedrückt. »Ich glaube, wir haben uns für diesmal genügend geschadet.«
»Es tut mir schrecklich leid, Jack!« flüsterte Winifred. »Es ist meine Schuld. Jetzt wird er Sie noch mehr hassen. – Bitte, verzeihen Sie mir.«
Noch nie war ein Tag so rasch vergangen. Jack hatte sich um neun Uhr ins Anatomische Institut begeben, und als er plötzlich allein geblieben war, bemerkte er staunend, daß es bereits Mittag war. Nach einer Weile kamen die andern zurück, banden die Schürzen vor und zündeten ihre Pfeifen an. Jack hoffte, daß keiner der Älteren und Fortgeschrittenen an seinen Tisch kommen würde, um zu sehen, was er treibe. Er konnte sich vorstellen, wie Jim Wentworth, den er oberflächlich kannte, seine Skizze betrachten und grinsend sagen würde: »Versuchen Sie lieber nicht auf dem Kopf zu stehen, Kleiner, ehe Sie gehen gelernt haben.«
Heute beschäftigte sich Jack nicht mit einem der vom Professor gestellten Probleme. Er versuchte seine Neugierde über etwas zu befriedigen, das wahrscheinlich nicht den geringsten praktischen Wert besaß.
Kurz vor den Ferien hatte das Semester den menschlichen Kopf studiert. Tubby hatte die Aufmerksamkeit seiner Hörer auf die komplizierte fächerförmige Muskelformationen über und hinter dem Ohr gelenkt, eine eigentümliche Sache, die eigentlich überhaupt nicht benötigt wurde. Er hatte hinzugefügt, dies sei ein Rudiment jener Muskeln aus langvergangenen Zeiten, da das Ohr des Menschen ebenso beweglich und wichtig gewesen war wie das des Hundes. Heutzutage, da wir die Dschungel hinter uns gelassen haben und nicht mehr von hinterlistig sich anschleichenden Feinden gefährdet werden, brauchen wir nicht mehr immer bereit zu sein.
»Sie werden mit Leichtigkeit auf dem knorpeligen Rand des eigenen Ohres eine Spur jenes Ohrteiles finden, der sich einst mit der gleichen Geschwindigkeit und Sicherheit bewegt hatte, die beim menschlichen Auge noch heute wahrzunehmen ist.«
Es war seltsam, dachte Jack, daß dieser Teil des urmenschlichen Ohres dermaßen degeneriert sein sollte, während die Muskeln selbst, die das Ohr bewegt hatten, keine Anzeichen einer Verkümmerung vorwiesen.
Keiner der Hörer hatte diese Frage aufgeworfen. Tubby selbst aber hatte über die Sache nichts weiter gesagt. Die Vorlesung war fortgesetzt worden, und sie hatten die systematischen Zeichnungen angefertigt, als würde diesem seit endlosen Zeiten faulenzenden Ohrmuskel nichts Seltsames anhaften. Die Studenten hatten sich an die gewohnte Routine gehalten, an den Muskelfasern gearbeitet, die Arterien und Adern in den Nervensträngen wie gewöhnlich mit roten, blauen und schwarzen Fäden nachgezogen. Nach Beendigung ihrer Zeichnungen waren sie am folgenden Tag zur Untersuchung der Stirn übergegangen.
Jack hatte die Angelegenheit mit dem Ohr keine Ruhe gelassen, er wollte sich mit ihr, zur eigenen Belehrung, nochmals befassen. Das Studium der Nervenstruktur begann ihn besonders zu interessieren. Wohl erkannte er, daß es töricht wäre, sich im ersten Jahr auf Gehirnchirurgie zu spezialisieren, doch fühlte er unklar, daß er es wahrscheinlich tun werde.
Diese Wahrscheinlichkeit barg ein peinliches Problem in sich. Hätte er sich auf etwas anderes, interne Medizin zum Beispiel, spezialisieren wollen, so würde er im Laufe der Jahre mit Tubby Forrester immer weniger zu tun haben. Warf er sich dagegen auf die Gehirnchirurgie, so mußte er tagelang mit Tubby zusammensein – eine unerquickliche Situation!
Bisweilen, wenn Tubby besonders gemein gegen ihn gewesen war, gelobte sich Jack, daß es nun endgültig aus sei. Er würde sich nicht länger auf Nerven konzentrieren. Aber schon der nächste Tag fand ihn wieder in der Bibliothek, vertieft in die Werke von Ransom, Whitaker und Quain, und bemüht, Miss Selfridges spöttisches Aufschnupfen zu überhören, wenn er diese Bücher verlangte und sie ihre Gedanken verriet: »Bevor du weißt, wo alle Knochen sitzen, mein Sohn, halt dich lieber an den guten alten Gray.«
Jetzt war es vier Uhr. Jack hatte auf dem hohen Pult neben seinem Tisch mit viel Sorgfalt eine gute Skizze der Ohrmuskeln gezeichnet, eine detailliertere und vollkommenere, als es die für den Professor entworfene gewesen war. Das Mikroskop hatte er auf das winzigste Geflecht der Nervenfaser eingestellt und war nun in dessen Studium dermaßen vertieft, daß er zusammenfuhr, als Tubby zu ihm trat.
»Eine schöne Art für einen frommen Christen, Weihnachten zu feiern«, sagte Tubby. »Ich dachte, Sie würden in irgendeiner Sonntagsschule den Nikolaus spielen.«
Jack reckte sich auf und blinzelte leicht, um die ermüdeten Augen auszuruhen.
»Sie wollten mich nicht haben«, erklärte er. »Ich bin nicht rundlich genug.« Er ließ seine Blicke über Tubby schweifen und ein Weilchen auf der gewölbten Mitte des großen Mannes verweilen.
»Darf ich fragen«, erkundigte sich Tubby mit ausgesuchter Höflichkeit, »was Sie hier zu tun sich einbilden?«
Jack machte mit dem Kopf eine Bewegung nach seiner Zeichnung hin, auf die Tubby, den Zwicker auf der Nase richtend, einen Blick warf.
»Ich glaubte, Sie hätten diese Zeichnung bereits gemacht. Soweit ich mich entsinne, haben wir diesen Abschnitt vor einigen Tagen durchgenommen.«
»Ja, Sir. Ich war nur auf etwas neugierig.« Jack begann zu erklären, worauf er neugierig sei. Er sprach zögernd, weil er sich nicht Tubbys Spott aussetzen wollte. Verhöhnte Tubby ihn vor allen als Tugendbold, so ging das ja noch an, jedoch erwartete er von ihm eine gewisse Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit, sobald es sich um eine wissenschaftliche Forschung handelte.
»Soweit ich sehe«, schloß Jack, »sind die Nerven, die die nicht funktionierenden Muskeln kontrollieren, von der gleichen Struktur und Beschaffenheit wie jene der Stirn. Weshalb sind sie nicht verkümmert?«
»Warum wollen Sie das wissen?« brummte Tubby, stellte das Mikroskop für die eigenen kurzsichtigen Augen ein und schielte auf das winzige Nervengeflecht.
»Nur so aus Neugierde«, erwiderte Jack befangen. Er schämte sich ein wenig seines Eingeständnisses. – Würde Tubby gemein genug sein, später vor der Hörerschaft eine verächtliche Bemerkung darüber zu machen? –
Tubby verstaute den Zwicker in seiner Brusttasche.
»Ich sehe, Sie interessieren sich für Nerven. Warum?«
»Das habe ich mich selbst oft gefragt«, entgegnete Jack mit fast unhörbarer Stimme, als spreche er eigentlich zu sich selbst. Dann, lebhafter: »Hätten Sie die Güte, Sir, mir über diese Nerven zu sagen, was ich wissen möchte?«
Tubby, der seinen Mantel auf dem Arm trug, schlüpfte hinein und knöpfte ihn zu.
»Nein!« schnappte er. »Ich werde es nicht tun!«
Jack errötete vor Zorn. So verdammt brutal hätte der Professor wirklich nicht zu sein brauchen.
»Ich werde es nicht tun«, wiederholte Tubby, »weil ich es selbst nicht weiß. Ich bin Ihnen gar nicht dankbar dafür, daß Sie die Frage aufgeworfen haben.« Er zog ruckweise, ungeduldig die Handschuhe an.
»Dann – weiß es wahrscheinlich niemand«, sagte Jack.
Tubby warf ihm einen forschenden Blick zu.
»Wollen Sie, junger Mann, vielleicht versuchen, geistreich zu sein?« fragte er herausfordernd, das Kinn kriegerisch vorgeschoben.
»Nein, Sir. Ich war nie im Leben aufrichtiger. Wissen Sie es nicht, so ist es, meiner Ansicht nach, höchst unwahrscheinlich, daß sonst jemand es weiß.«
»Hm«, brummte Tubby. Er wandte sich zum Gehen, tat einige Schritte, kehrte zurück, schob Jack vom Mikroskop fort, sah lange hinein, brummte abermals »Hm«, reckte sich auf und schritt aus dem Zimmer.
Jack hatte den Kopf zur Seite gewandt, um den feierlichen Rückzug zu beobachten; er grinste und brummte mit Grabesstimme: »Fröhliche Weihnachten, Brummbär!«
Dr. Forrester schloß lärmend die Laboratoriumstür und begab sich durch das schwacherhellte Amphitheater in sein Zimmer. Er mußte vor dem Dinner einen Besuch machen und hatte die Adresse vergessen.
Nachdem er die Lichter angeknipst hatte, zog er aus dem Schrank, der die Krankengeschichten enthielt, eine große Metallade, nahm die gewünschte Seite heraus und setzte den Zwicker auf. Ein recht großes Elend war da in knappe, kalte Sätze zusammengefaßt, die das klinische Log eines William Mason enthielten: vierzig Jahre alt, Zimmermann, wohnhaft in Elmersville, verheiratet, kinderlos, Freipatient.
Forresters Augen schweiften rasch über den Bericht, der in ihm von neuem Empörung wachrief, die – vor sechs Wochen – das Material für eine seiner feurigsten Reden geliefert hatte.
Vor zwölf Jahren hatte Mason angefangen, an brennenden Schmerzen im unteren Teil des Rückens zu leiden. Er hatte in seiner kleinen Stadt einen Arzt konsultiert, war von Amateuren massiert und mit warmen Bädern und Brom behandelt worden. Ein Jahr lang ging er mit stetig zunehmendem Unbehagen seiner Arbeit nach. Als die Schmerzen unerträglich wurden, konsultierte er einen Arzt in der etwas größeren Nachbarstadt Kenwood. Daraufhin wurden ihm die Mandeln ausgeschnitten und vier Zähne gezogen. Sechs Monate später operierte ein anderer Arzt seinen Bruch, und bald nachher wurde an ihm eine Blinddarmoperation vorgenommen. Zwei Jahre später kam er abermals ins Spital, wo seine Beine acht Wochen hindurch in einem komplizierten Apparat geschient wurden.
Dann gaben die Ärzte alle Versuche auf. Mason blieb bettlägerig und hilflos und wurde von seiner Frau, die durch Backarbeiten ihren Lebensunterhalt verdiente, gepflegt.
Vor drei Monaten war Mason um eine Untersuchung in der Universitätsklinik eingekommen und auf einer Bahre hingebracht worden. Eine sofortige Untersuchung ergab, daß der Patient an einem Rückenmarkstumor in der Lumbosakralgegend litt.
Als dies festgestellt worden war, hatte Forrester vor Wut getobt und ohne Rücksicht auf Diskretion und Diplomatie seine Meinung geäußert. Von Rechts wegen müßte William Mason den Staat auf Schadenersatz verklagen. Er hatte unsägliche Qualen gelitten, ein Dutzend Jahre seines Arbeitslebens verloren, seine Ersparnisse ausgegeben und sein Heim verkaufen müssen. Das war die Schuld des Staates, der die Ausübung der Medizin und Chirurgie Männern gestattete, die ihren Beruf als bloßes Geschäft betrachteten als eine Einkommensquelle wie etwa einen Gemüsegarten. Vielleicht glaubten sie sogar, daß sie es gut meinten, wenn sie in ihrer selbstsicheren Art und mit ihren gewichtig aussehenden Ledertaschen die Gegend unsicher machten, für ihre Aufmerksamkeiten, ihre freundlichen Worte und ihr beruhigendes Lächeln Anerkennung ernteten und, sobald es sich um eine wissenschaftliche Diagnose handelte, nicht wußten, ob sie auf den Füßen oder auf dem Kopf standen. Mason war auf die gemeinste Art Unrecht getan worden.
Am nächsten Morgen hatte Dr. Forrester die Operation vorgenommen, einen unwahrscheinlich großen eingekapselten Tumor entfernt und beschlossen, die empörende Angelegenheit allgemein bekanntzumachen. Den ganzen Tag hatte er seinen Hörern Masons Fall erklärt und alle vorgesehenen Vorlesungen umgestoßen, die Gesetzgebung des Staates aufs wildeste angegriffen, besonders die Ärztekammer, das gleichgültige Verhalten der Allgemeinheit gegenüber der Untüchtigkeit im wichtigsten aller Berufe.
»All dies beweist«, hatte er gesagt, »wohin ein Mangel an Training, Selbstbeherrschung und persönlichem Opferwillen während des Studiums und des klinischen Jahres führt.
William Mason ist ein Schulbeispiel falscher Behandlung. Einige von euch bereiten sich, ohne es zu wissen, auf das Begehen derartiger Verbrechen vor. Ihr sehnt euch danach, das Studium hinter euch zu haben und selbständig zu werden. Irgendeine egoistische Puppe liegt euch in den Ohren, ihr sollt euch beeilen und sie heiraten. Eure Eltern möchten, ihr solltet bald mehr Geld verdienen. Ihr selbst habt die langen Arbeitsstunden, die strenge Beaufsichtigung, das ewige Spitalessen, die Mühen, das Stöhnen der Kranken, den Gestank satt. Und so lauft ihr denn weg und schmiert eine Pferdesalbe auf William Masons Hintern oder schält ihm, wenn ihr eine glänzende Idee habt, die Mandeln aus. Und zwölf Jahre später findet ein mürrischer alter Brummbär, der es nicht so eilig hatte, seine Ärztetafel aufzuhängen, in Masons Rückgrat einen veralteten Tumor.«
Es war dies ein lärmender Tag in Forresters Vorlesungssaal gewesen. Er hatte das Lexikon nach Kraftausdrücken durchsucht.
»Ich hoffe, meine hitzigen Worte verleiten Sie nicht zu der Annahme, ich sei gefühlsmäßig über William Mason als Individuum erschüttert. Die Tatsache, daß er zwölf Jahre der Qual verbracht hat, geht mich überhaupt nichts an. Seine Schmerzen und Beschwerden haben mir nicht eine Minute Schlaf geraubt. Die Welt ist voll und wird immer voller von Schmerzen und Beschwerden sein. Darüber werde ich nicht sentimental. Und es geht mich auch nichts an, daß Masons Frau Kuchen backen mußte, um ihn zu erhalten. Sie hätte eine weniger interessante Beschäftigung haben können. Aber die verdammenswerten Verhältnisse, die derartige Ungerechtigkeiten ermöglichen, haben mir tatsächlich den Schlaf geraubt. Ich fühle mich dafür verantwortlich. Meine Pflicht ist es, Ärzte heranzuziehen, die für William Mason mehr tun als zweimal in der Woche an seinem Bett zu sitzen, seine Zunge anzuschauen und ihm zu sagen, er solle nicht den Mut verlieren. Ich sage Ihnen, ein Teil der Schande Ihrer Untüchtigkeit ist meine Schande.«
Ihm schien es, seine Worte hätten wirklich eine gute Wirkung gehabt; die Studenten arbeiteten ernster, blieben seltener weg, gaben auf seine Fragen nicht so viele trottelhafte Antworten. William Masons Leiden war schwer gewesen, doch hatte sein Fall einem guten Zweck gedient. Jemand müßte es ihm sagen. Es wäre interessant, seine Reaktion zu beobachten.
Forrester blickte auf die Uhr und sah mit Staunen, wie lange er über dem Fall Mason in Gedanken versunken war. Er notierte sich des Mannes Adresse: 121, South Hemlock, er hatte sie erst gestern nachgesehen.
Er hatte den Masons geraten, für ein paar Wochen in möblierte Zimmer zu ziehen, damit der Mann jederzeit für die Klinik erreichbar sei. Es war notwendig, daß er eine Zeitlang beobachtet wurde. Man konnte ihn nicht entlassen und nach Elmersville zurückschicken, wo die Ärzte nichts anderes als Teilnahme und Schlafpulver für ihn gehabt hätten.
Die Straßen waren glatt, und Forrester lenkte vorsichtig sein Auto. Er runzelte die Stirn. – Peinlich dieses Gefühl, heute nachmittag Mason aufsuchen zu müssen. Weihnachten macht die Menschen dumm und sentimental. Die Masons waren ihm bestimmt wegen der Operation dankbar; die Frau hatte bereits im Spital versucht, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dr. Forrester war derlei Unannehmlichkeiten häufig ausgesetzt. Er wurde dann immer verlegen und hatte die Empfindung, daß die Kollegen hinter seinem Rücken grinsten. Bisweilen mußte er sogar beinahe grob werden; er wußte, daß er die Leute kränkte, doch gab es immer genug Tränentrockner und Aufdieschulterklopfer, die sich um gekränkte Gefühle kümmern konnten.
Er läutete an der Haustür und hörte die Glocke im zweiten Stockwerk scheppern. Einen Schal um die Schultern, kam Mrs. Mason die Treppe herunter. Sie sah ihn einen Augenblick verwirrt an, begrüßte ihn dann mit einem Lächeln, das einem Verwandten hätte gelten können.
»Das ist ja Dr. Forrester! Ich habe Sie noch nie ohne weißen Mantel und Mütze gesehen. Bitte, kommen Sie herein. Bill wird sich so freuen.« Sie schloß hinter ihm die Tür und senkte, noch immer die Klinke haltend, die Stimme: »O Dr. Forrester, Sie wissen ja gar nicht, was alle diese köstlichen Eßwaren für Bill und mich bedeutet haben!« Dicke Tränen rannen über ihre Wangen. Forrester starrte sie bestürzt an. Irgendein Idiot in der Delikatessenhandlung hatte ihn – trotz strengstem Verbot – verraten.
Er wies mit einer ungeduldigen Gebärde die Treppe hinauf, und Mrs. Mason führte ihn durch das muffige kleine Wohnzimmer ans Krankenbett.
»Also, wie geht der Kampf vorwärts, Mason?« fragte Forrester.
Die Augen des Kranken glänzten auf. Er streckte die Hand aus, und der Arzt packte sie beim Gelenk. Eine Minute herrschte Stille. Forrester hatte nicht seine Uhr herausgezogen; er lauschte aufmerksam dem Ticken der kleinen Stehuhr auf der Kommode.
»Drehen Sie sich um und zeigen Sie mir den Rücken. Bringen Sie das Licht herüber. Halten Sie es – ja, so.« Er zog das Leinentuch hoch, steckte den Zwicker ein und nickte. »Sehr gut. Sie kommen famos vorwärts.«
»Doktor«, Mason räusperte sich. »Sie haben uns viel Gutes getan. Wir wissen, daß Sie ein großer Mann sind und sich um viele Menschen zu kümmern haben. Und wir danken Ihnen, daß Sie an uns gedacht haben – besonders heute.«
»Sie haben uns frohe Weihnachten geschenkt, nicht wahr, Bill?« meinte Mrs. Mason.
»Das will ich meinen. Sie haben ein gutes Herz, Doktor! Sie sind nicht nur ein großer Chirurg – Sie sind ein großer Mensch!« Überwältigt von den eigenen Worten, wischte Bill sich mit dem Leinentuchzipfel die Nase.
»Wir hatten fast Angst vor Ihnen«, wagte Mrs. Mason zu sagen. »Eine der Pflegerinnen sagte, Sie seien zu beschäftigt, um sich um einfache Leute zu kümmern.«
Forrester zog ungeduldig die Handschuhe an. Er hatte das Gefühl, daß er die Sache aufklären müsse.
»Mr. Mason und Madam, ich hoffe, Sie wissen, weshalb ich Ihnen die Eßwaren schickte. Daß ich gerade zu Weihnachten zu Ihnen kam, ist bloßer Zufall. Ihr Fall interessiert mich sehr – rein beruflich. Ich möchte Sie, Mason, im Verlauf der nächsten vier Wochen im normalen Zustand meinen Hörern vorführen. Sie können mir dabei behilflich sein, indem Sie alles tun, um zu Kräften zu kommen. Ich fürchtete, Sie könnten aus Sparsamkeit zuwenig essen. Das dulde ich nicht.« Seine Stimme wurde schrill und laut, wie bei einer Vorlesung. Er wandte sich zornig an Mrs. Mason. »Und Sie werden auch nicht mit dem Essen sparen! Sie sind mager wie eine Latte. Ehe Sie sich's versehen, werden Sie auf dem Rücken liegen, und er wird sich um Sie sorgen müssen. Das wird seine Genesung aufhalten. Ich werde darauf achten, daß Sie beide mit genügend Nahrung versorgt werden. Aber ich tue das nur beruflich.« Er blickte Mrs. Mason wütend an, um deren Lippen ein schüchternes Lächeln spielte. Diese unwissende Frau schien nicht begreifen zu wollen. »Streng beruflich!« wiederholte er.
»Aber – was ist's mit den Stechpalmen und den Misteln, Doktor? Sollen Bill und ich auch die essen?« Sie griff nach Bills Hand, als suche sie eine Stütze für ihre Kühnheit.
»Stechpalmen, Misteln?« Forrester machte sich mit dem Zuknöpfen seiner Handschuhe zu schaffen. »Hm. Das hatte ich vergessen. Ganz belanglos! Das Wichtigste ist, Mason, daß Sie in den nächsten Tagen eine gute Blutprobe liefern.«
Zur Verwunderung seiner Frau brach Mason in ein glucksendes Lachen aus. Der Arzt sah ihn mit düsterer Mißbilligung an.
»Mich können Sie nicht zum Narren halten, Doc! – Gott segne Sie!«
»Mich auch nicht«, erklärte Mrs. Mason tapfer. »Sie haben es aus der Güte Ihres großen Herzens getan. Beruflich? – Pah! Wir haben nie einen besseren Freund gehabt. Schauen Sie doch, was Sie schon für ihn getan haben. – Und jetzt noch die Geschenke!«
»Gut, schon gut, bleiben Sie bei Ihren Ansichten«, erwiderte Forrester in dem Ton, den er psychopathischen Patienten gegenüber anzuwenden pflegte. Er nahm seinen Hut und schritt zur Tür. Mrs. Mason wollte ihn hinunterbegleiten; doch meinte er barsch, er werde den Weg allein finden.
»Fröhliche Weihnachten, Doc!« rief Bill.
Forrester blieb stehen, blinzelte ein paarmal und entgegnete steif: »O ja – natürlich – natürlich …«
»Fröhliche Weihnachten, Doc!« wünschte auch Mrs. Mason herzlich.
»Jaja, soso – guten Abend.«
Er schloß hinter sich die Tür und stieg vorsichtig die schlechterhellte Treppe hinab, setzte sich in sein Auto, tastete nach Zigaretten, zündete ein Streichholz an und fuhr durch den Schlamm in Richtung des Universitätsklubs, wo er mit einem alten unverheirateten Freund, mit Linton von der juristischen Fakultät, dinieren sollte.
Er fand ihn, bequem in einem tiefen Lehnstuhl sitzend, in der Bibliothek.
»He«, empfing Linton ihn und erhob sich gemächlich. »Sie kommen spät. Haben Sie Dickens-Weihnachten gespielt, Scrooge? Ich dachte schon, Sie seien Weihnachtslieder singen gegangen!«
*
Als Jack um neun heimkam, waren Tony und Bugs in eine stockende Diskussion über Gott und die Welt verwickelt. Jack blieb in der offenen Tür von Bugs unordentlichem Zimmer stehen, blickte in den rauchigen Raum und grinste verständnisvoll.
»Komm herein«, sagte Bugs mit schwerer Zunge, »und bilde dich. Hier werden gewichtige Worte gesprochen, und die Wahrheit wird enthüllt.«
»In vino veritas«, fügte Tony feierlich hinzu.
»Es riecht eher nach Whisky«, meinte Jack.
»Der Kerl hat die Nase eines Chemikers«, brummte Bugs. »Hol ein Glas, Doktor, und wir werden sehen, wieviel ›veritas‹ du beizusteuern hast.«
Nach einer kurzen Weile kehrte Jack im Schlafrock und in Pantoffeln zurück, goß sich aus der ziemlich leeren Flasche ein wenig Whisky ein, trank ihn, schauderte, stopfte seine Pfeife und warf zahllose auf dem Sessel liegende Gegenstände auf den Boden.
»Laßt euch nicht stören«, sagte er, »fahrt nur fort!«
Bugs, der sich auf dem Bett lümmelte, stützte sich auf einen Ellenbogen und legte den Kopf in die Hand.
»Hättest du die Freundlichkeit, die Familie über dein Verbleiben aufzuklären?« fragte er väterlich. »Du dürftest nicht so spät auf der Straße sein. Warst du in den erhellten Hauptstraßen, um die Possen der Lebenden zu beobachten, oder im Labor, um mit den Toten zu verkehren?«
»Er riecht nach Labor«, warf Tony ein.
»Dann wollen wir nichts von deinen Abenteuern hören«, erklärte Bugs. »Tony und ich haben, nach einer hochgelehrten Diskussion, eine dahingehende Resolution gefaßt, daß ein Medizinmann ebensoviel Recht auf ein normales Leben hat wie ein Installateur: drei regelmäßige Mahlzeiten, sieben Stunden ungestörten Schlaf, ein anständiges Haus, am besten am Rand eines kleinen Dorfes, eine Frau, Kinder, Blumengarten …«
»Mit genügend Platz«, unterbrach Tony ihn, »um Gemüse zu pflanzen und Hühner zu halten – und ein schönes fettes Schwein im Koben.«
»Nein, Sir«, widersprach Bugs, »ich habe ihm schon gesagt, daß man nicht gleichzeitig einen Gemüsegarten und Hühner haben kann.« Er wurde wehmütig. »Freilich hätte auch ich gern einen schönen Schweinekoben.«
Jack machte mit seinem Pfeifenstiel eine umfassende Gebärde: »Genügt dieser nicht?« fragte er.
»Wir hoffen, daß du mit diesen Worten keine beleidigende Absicht verfolgst«, erwiderte Bugs würdevoll. »Du kommst her, stinkst nach deiner abscheulichen Beschäftigung, genießest unsere Gastfreundschaft, wirfst alle unsere erreichbaren Gegenstände auf den Boden und deutest dann an, daß unser Zimmer unordentlich ist. Schwarzer Undank.«
»Stimmt, schwärzester Undank!« rief Tony. »Übrigens, hast du herausgefunden, was es war, womit du, als du noch ein Affe warst, die Ohren wackeln gemacht hast, oder was immer der Blödsinn war, den du herausfinden wolltest?«
»Fahrt fort, Brüder«, sagte Jack. »Ich möchte gern mehr über den Landarzt hören, über dessen Hühner, Spargel und Schwein – und über den Medizinschrank voll Chinin, Morphium und Rhizinusöl. Tubby müßte jetzt hier sein und sich über den Fortschritt der medizinischen Wissenschaft in Elmersville ergehen.«
Bugs setzte sich auf und streckte dramatisch den Arm vor.
»Da haben wir's! Gehen wir von hier aus. Nehmen wir zum Beispiel Tubby. Was hat der alte Spaßverderber schon vom Leben! Er ist Junggeselle, lebt im Klub, tut an sieben Tagen in der Woche Dienst.«
»Auch am Sonntag«, fügte Tony hinzu, »das macht acht.«
»Danke. Und der versucht Leuten zu sagen, wie sie leben sollen!« deklamierte Bugs. Er verstummte und wartete auf eine Antwort.
»Ich will mich nicht zu Tubbys Verteidiger aufschwingen«, meinte Jack. »Nichtsdestoweniger …«
»Nein!« rief Tony. »Das wirst du nach der gemeinen Art, wie er dich behandelt, wohl kaum tun!«
»Stimmt. Tubby ist herzlich ekelhaft gewesen, doch ist das eine rein persönliche Angelegenheit. Er mag mich nicht, und selbstverständlich mag auch ich ihn nicht. Aber das hat mit der Sache nichts zu tun, das gehört nicht zu dem, worüber wir sprachen. Ich begreife Tubbys Einstellung zum Medizinmann. Eines ist sicher: man kann als Arzt nicht auch Hühner züchten. Ich zweifle sogar daran, ob man als wirklich guter Arzt ein Heim, eine Frau, gesellschaftliche Verpflichtungen, Kinder, ein Haus, die Sorgen um kranke Angehörige und um Monatsrechnungen haben darf.«
»Ja, aber schau uns an«, murrte Tony. »Hier hocken wir am Weihnachtsabend in diesem schmierigen Rattenloch …«
»Hör, mein Junge«, begehrte Bugs auf. »Es ist genug gegen meine bescheidene Behausung gesagt worden. Wenn sie euch nicht paßt, könnt ihr …«
»Jaja, ich weiß, was du sagen wolltest.« Tony wies mit einer großartigen Gebärde die Worte zurück. »Wir werden Weihnachten in genau den gleichen Löchern verbringen, bis für uns die Zeit gekommen ist, ins oberste Stockwerk des Spitalflügels zu ziehen, um dort noch einige Jahre der Gefangenschaft zu verbringen. Findest du, Jack, daß wir nie das Recht auf ein eigenes Heim haben werden?«
»Hier handelt es sich nicht um das Recht«, erwiderte Jack, »sondern um die Art unseres Berufes; darüber sprechen wir. Ihr glaubt, der Arzt könne ein normales Leben führen, ich dagegen bin anderer Ansicht. Ich für meine Person habe den Gedanken an ein Heim für immer aufgegeben.«
»Willst du damit sagen, daß du ein alter Junggeselle zu werden gedenkst wie Tubby?« fragte Bugs ungläubig. »Das wird dir nie gelingen. Tubby dürfte es leichtgefallen sein, den hat bestimmt nie ein Mädel gewollt.«
»Sicherlich nicht«, sagte Tony. »Aber dir wird irgendein Mädel zurufen ›Mein Idol!‹ und wird dich verschleppen.«
»Ich habe jetzt ein einziges Interesse im Leben«, sagte Jack entschlossen, »und das ist die Wissenschaft. Die ist mein Alpha und Omega. Sonst ist mir alles einerlei. Vielleicht werde ich nichts Rechtes leisten – aber nicht, weil ich ein Heim haben wollte.«
»O klei-eine Stadt Bethlehem …«
Mrs. Doyle hatte das Radio angedreht.
»Du wirst recht haben«, gab Bugs nachsichtig zu. »Ein Heim ist ein Mühlstein um den Hals. – Ich wollte, die alte Dame würde die Sonntagsschulbelustigung abdrehen. Ich wußte gar nicht, daß sie so verdammt sentimental ist.«
»Über deinem tiefen, traumlosen Schlaf …«
Tony stand auf, streckte sich mächtig, gähnte lang und erklärte, er gehe jetzt zu Bett.
»Das ewige Licht …«
»Ich auch«, sagte Jack, »gute Nacht.«
»Fröhliche Weihnachten!« wünschte Bugs, die Worte dehnend.
In seinem Zimmer angelangt, machte Jack es sich auf zwei Stühlen bequem, zündete seine Pfeife an und lauschte. Das war keine Sonntagsschulunterhaltung. Dort gab es eine solche Musik nicht. Dies hier war ein Chor gut eingeübter Stimmen. Wollte man alte Choräle gut gesungen hören, so mußte man Sänger engagieren, die einer weltlichen Gesellschaft angehörten. Es bedurfte der Welt des Fleisches und des Teufels, um diesem Ausdruck der Religion Inspiration zu verleihen. Dies war Jack noch nie aufgefallen, zumindest nicht so wie jetzt. Eigentlich merkwürdig. Die besten Kunstformen der Religion: Malerei, Bildhauerei, Poesie, Musik und Drama, wurden von Menschen geschaffen und aufgeführt, die vor allem Künstler waren und denen die Kunst Selbstzweck bedeutete. Vielleicht verhielt es sich auch mit der Heilkunst so. Die größten Förderer der Medizin und der Chirurgie waren nicht Menschen, die vom Jammer der Welt erschüttert wurden, sie hatten sich nicht der Wissenschaft zugewandt, weil das menschliche Leiden ihr Herz bewegte, sondern weil sie intellektuell neugierig waren und wissen wollten, zu welchen Entdeckungen die Wissenschaft sie führen konnte.
»Kein Ohr vernimmt sein Nahen …«
Die organisierte Religion hatte nie den Wissenschaftler ermutigt und vorbereitet. Meistens war die Religion ihm mißbilligend entgegengetreten. Bisweilen mußte er, um zu den Instrumenten seiner Forschung gelangen zu können, gegen Priester und Propheten kämpfen.
»Der liebe Christus kommt …«
Jack kniff die sinnenden Augen in ernster Konzentration zusammen. Wie paßte der »liebe Christus« in diesen Rahmen? Auf wessen Seite stand Er? Was hielt Er von der ganzen Sache? Beleidigte es Ihn, daß die Heilung der Weltkrankheiten in den Händen jener lag, die dem Problem der »Inspiration« keinen einzigen Gedanken zollten? Vielleicht sahen die feierlichen Weisen Ihn falsch. Vielleicht interessierte den »lieben Christus« nur, daß die Wahrheit enthüllt werde und ihre Aufgabe erfülle, einerlei, von wem und wie sie entdeckt wurde. Könnte man dies beweisen, so würde dadurch allerdings alles auf den Kopf gestellt werden, doch würde es den »lieben Christus« auch bei jenen beliebt machen, die ihre Aufgabe darin sahen, die Zivilisation vorwärtszutreiben. Dies würde ihn aus den engen kleinen Umzäunungen befreien, wo er sich mit den Unwißbegierigen und Resignierten verbrüdert hat. Die Wissenschaft würde Ihn für sich beanspruchen! Die Forscher würden den Sentimentalen zurufen: »Er ist viel zu lang euer ausschließlicher Besitz gewesen! Er steht auf unserer Seite!« – Und sie würden Sein Bild ins Labor hängen. Ins Anatomische Labor, wo Tubby es sehen mußte. Tubby hätte dagegen nichts einzuwenden. Ihn interessierte einzig und allein die Wissenschaft. Könnte bewiesen werden, daß Christus für die Wissenschaft sei, so würde Tubby für Ihn sein. Auch ins Chemische Labor würden sie Sein Bild hängen. Das vermöchte vielleicht die Einstellung der Chemiker zu verändern. Sie könnten wirklich nicht auf Giftgase erpicht sein, wenn Er auf sie niederblickte und wenn sie wüßten, daß Ihm die chemische Forschung am Herzen liege.
»In einer hellen Mitternacht …«
Das liebe alte Lied weckte Jacks Erinnerungen und bewegte ihn. Er schloß die Augen und ließ die Bilder an sich vorüberziehen. – Als er und Jean, seine Zwillingsschwester, ganz klein gewesen waren, pflegte der Vater zeitig am Weihnachtsmorgen hinunterzugehen und die Heizung zu schüren. Es war noch kaum hell. Jean und Jack zitterten vor Aufregung. Sie wollten ebenfalls hinuntergehen und den Christbaum sowie die Geschenke sehen. Doch wurde es ihnen erst gestattet, nachdem der Vater auf dem Grammophon einige Weihnachtschoräle gespielt hatte. Sie mußten brav im Bett sitzen und zuhören. Die Mutter setzte sich zu ihnen und schlang den Arm um sie; die Kinder versuchten ganz still zu sein.
»Oh, ihr, die des Lebens Bürde erdrückt …«
Niemand konnte weniger sentimental sein als die Mutter. Sie nahm es sehr ernst mit ihrer Religion und hielt sich an sie. Selbst als Jack und Jean bereits die Hochschule besuchten, wurden auf dem Grammophon Weihnachtslieder gespielt, ehe jemand ins untere Stockwerk gehen durfte, Vater ausgenommen.
»Erhofft jetzt frohe, goldene Stunden …«
Einmal hatten Jean und er Grammophonplatten heimgebracht, die, nach Ansicht der Mutter, nicht gerade religiös waren. Die eine war eine alte englische Ballade, in der von Bier die Rede war, die andere war das französische Lied »Noël«, von dem die Mutter fand, daß es von falschen Voraussetzungen ausgehe. Die Mutter wollte keine der Platten hören. Weihnachten sei ein religiöses Fest, und man habe sorgfältig darauf zu achten, daß es die richtige Religion sei. Auch das »Ave Maria« war nicht das rechte für den Weihnachtsmorgen, wenngleich die Mutter an die jungfräuliche Geburt glaubte. – Glaube man nicht daran, pflegte sie zu sagen, so breche alles zusammen. – Vielleicht hatte sie recht, vielleicht war es wirklich so.
»Frohlocket, ihr Völker alle!
Lobsinget mit den Himmeln …«
Sie ging stets in alle Gottesdienste, die zu Weihnachten in der kleinen Kirche abgehalten wurden. Der Großvater war Methodistenprediger gewesen, und die Familie mußte den Glauben, für den er gearbeitet hatte, hochhalten. Es war der reine, vor langem den Heiligen überlieferte Glaube, an dem man nicht deuteln durfte. Stellte man diesbezüglich Fragen, so wurde die Mutter immer nervös und gereizt. Der Glaube, meinte sie, könne nicht in einer Atmosphäre des Zweifels gedeihen.
»Seht Gott im Fleisch verborgen!
Begrüßt die Menschenwerdung unseres Herrn …«
Sooft die Menschen zu fragen beginnen, sagte die Mutter, öffnen sie dem Satan die Tür zu ihren Herzen, und er kommt und macht sie unglücklich – unglücklich und schlecht. Die Mutter war reizend. Sie würde sehr hübsch ausgesehen haben, hätte sie ihr tizianfarbenes Haar anders frisiert. Bisweilen lugte eine herzige kleine Locke unter ihrem Hutrand hervor, und sie schob sie hastig wieder dorthin, wohin sie gehörte. Gott hatte für hübsche Dinge nicht viel übrig. Er liebte unschöne Menschen am meisten und sah es gern, wenn sie schlecht gekleidet gingen. War das ein Entsetzen, als Jean eines Tages mit kurzgeschnittenem Haar heimkam! Jack und Jean waren bereits halb erwachsen, als sie erfuhren, daß der Vater ein ziemlich vermögender Mann sei. Die Mutter hatte es ihnen verheimlicht, um sie besser vor dem Ungemach der Welt zu bewahren.
»Singt ihr Engelschöre!
Singt und jubiliert …«
Trotzdem hatten die Kinder die Mutter ihrer Güte und Zärtlichkeit wegen geliebt. Sie wäre auf Händen und Füßen über einen mit heißer Asche bestreuten Weg gekrochen, um den Kindern etwas zu verschaffen, das ihnen Freude hätte bereiten können.
Nach dem Tode des Vaters hatte sie ihre Bemühungen, sie zu guten Menschen zu erziehen, verdoppelt. Gut bedeutete für sie gläubig, den Glauben an das WORT. »Nein, nein Liebling – das ist das WORT, du mußt an das WORT glauben – dann wirst du gerettet!«
Als die Geschwister im ersten Jahr ihres Studiums an der Hochschule während der Weihnachtsferien heimgekommen waren, hatte die Mutter auf dem Morgenprogramm mit dem Grammophon bestanden, genau wie zu jener Zeit, da sie ganz klein gewesen waren. Jetzt bediente die Mutter das Grammophon, und als dieses fröhlich verkündete: »Er regiert mit Wahrheit und Gnade unsere Welt! Die Völker preisen die Herrlichkeit seines Rechts und die Wunder seiner Liebe!«, hatte Jean, die am Fußende von Jacks Bett gesessen, sich mit beiden Händen die Ohren zugehalten. Es war im dritten Jahr des ersten Weltkrieges. Jean – wie genau erinnerte er sich daran – hielt in der Hand den Kamm, mit dem sie eben ihr schönes korngelbes Haar gekämmt hatte, warf den Kopf zurück, fing von neuem an, sich zu kämmen, und flüsterte: »Es wäre komisch, wenn es nicht so tragisch wäre!«
Nun, da die Mutter gestorben war, erinnerte man sich hauptsächlich an ihre Liebe und Güte. Bei ihr konnte man den Wert ihres Glaubens nicht anzweifeln. Sie hatte zum Schluß durch einen nicht mehr operierbaren Krebs Höllenqualen ausgestanden. Aber das WORT war ihr zu Hilfe gekommen. Alle hatten über ihre Gelassenheit gestaunt. Mochte man die Religion, soviel man wollte, ein Betäubungsmittel nennen; es kamen bisweilen Zeiten, da man eben ein solches brauchte. Die medizinische Wissenschaft wäre dankbar für ein Betäubungsmittel, stark genug, jeden Schmerz zu lindern, und gleichzeitig völlig harmlos. Es hatte keinen Sinn, die Religion zu verhöhnen, weil sie den Menschen half, trotz aller Enttäuschungen zufrieden zu sein und sich in das unheilbare Elend zu finden. In diesem Punkt blieb die Religion zweifellos Siegerin über die Wissenschaft.
»Wort des Vaters, jetzt in Fleisch gekleidet …«
Es wäre eine große Sache, dies glauben und, wenn auch nur für eine Stunde, zurückkehren zu können zu der Verzückung vollkommenen Vertrauens. Das war freilich ausgeschlossen. Es erforderte einen Glauben, der nicht nur alles Begreifen überstieg, sondern auch bewußt allen bekannten Tatsachen auswich. Der Plan der Erlösung war gewiß etwas Ideales, aber er bewährte sich nicht, hatte sich nie bewährt. Wohl hatte er der Mutter ermöglicht, ruhig und mit einem Lächeln zu sterben, doch hatte er nicht geholfen, sie am Leben zu erhalten und gesund zu machen. Sollte die Welt gerettet werden, so mußte sie sich von allen Verbohrtheiten, Krankheiten, von aller Sklaverei befreien. Auf diesem Gebiet hat der edle Plan wenig erreicht. Das WORT wird durch die Wissenschaft, nicht aber das Gefühl verkörpert. –
Das Haus war sehr still. Mrs. Doyle hatte das Radio abgestellt. Jack erwachte aus seiner Träumerei und beschloß, an Jean, die daheim in Oregon war, zu schreiben.
»Liebe Kleine,
hier ist es Mitternacht, bei euch erst neun Uhr. Eben hörte ich, im Radio meiner Wirtin, eine ganze Stunde lang Weihnachtschoräle. Den Nachmittag habe ich im Labor verbracht. Die beiden Dinge schließen einander nicht aus.
Ich versuchte mich in die Verfassung zurückzuversetzen, die wir als Kinder gekannt hatten. Ich wünsche aufrichtig, daß ich es könnte. Etwas sagt mir, daß wir, wenn wir glücklich sein wollen, keine Fragen stellen dürfen – über nichts. Das führt zu dem Problem: Was ist es, das uns nach Glück verlangen läßt? Hat man das Recht, glücklich zu sein? Ist man auf dieser Welt, um glücklich zu sein?«
Er hielt im Schreiben inne und klopfte mit der Feder gegen die Zähne. Dann kam er zu dem Schluß, dies sei nicht der Brief, den man seiner Schwester am Weihnachtsabend schreibe. Er zerknüllte den Bogen und warf ihn in den Papierkorb.