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LIV

Gegen fünf Uhr nachmittags soll der ›Antonio Delfino‹ die Reede von Boulogne anlaufen.

Eine halbe Stunde vorher fährt Lobositz mit dem Agenturtender aus dem inneren Hafen zur Reede hinaus. Durch das dröhnende Gerassel der Ankerketten, an stöhnenden, kreischenden Elevatoren und Kränen vorbei, durch ein lautes, buntes Gewimmel von Schiffen und schreienden Menschen und brüllenden Tieren.

Schrille Pfeifensignale zerreißen die Ohren.

Allmählich wird es stiller, je näher der kleine Tender an die Außenreede heranfährt.

Der dröhnende Lärm des Hafens klingt fern und ferner.

Nur mehr der Steindamm mit den kolossalen Blöcken, der dem Meere wehrt.

Wie ein Gummiball fliegt der armselige Tender auf den Wellen auf und ab. Das Meer spielt mit ihm seine Gigantenspäße.

Bleifarben liegt die ungeheure Fläche da. Grau und hoch wälzt es sich von Westen heran und bricht sich donnernd an den zementierten Riesenblöcken der Mole, sie mit Gischt überflutend.

Gegen Westen steht eine schwarze riesige Wolkenbank mit blutigen und goldenen Rändern. Hinter ihr versinkt die Sonne. Das Barometer steht auf Sturm. Die Überfahrt wird hart und bitter sein.

Langsam, kaum berührt von der Unrast des Meeres, schiebt sich der 20 000-Tonnen-Dampfer ›Antonio Delfino‹ majestätisch heran, den kleinen Tender überragend wie ein Riese einen Zwerg. Stockwerk türmt sich über Stockwerk empor.

Schon brennen die Lichter in den Sälen und Gesellschaftsräumen und Kajüten, die frühe Abenddämmerung mit grellem Schein durchschneidend.

Mühsam arbeitet sich der kleine schaukelnde Tender heran.

Taue und Ketten werden ausgeworfen. Der Tender wird gefixt und an den Riesen angepreßt, daß er sich nicht rühren kann. Das Gepäck der Reisenden wird in den Bauch des Riesen hineingerissen. Langsam klettern die Passagiere das Fallreep empor und werden von Stewards empfangen und geleitet.

Endlich ist die Umbootung vorüber.

Ein paar Kommandos, klirrende Ketten fallen zurück.

Mühsam torkelt der kleine Tender in den Hafen von Boulogne zurück.

Langsam setzt sich der Riese in Bewegung.

Ungeheure Rauchfahnen streifen nach rückwärts. Mit unheimlicher Geschwindigkeit gleitet er in die Nacht hinaus.

Boulogne und seine Lichter sind nur mehr eine Perlenkette am schwindenden Horizont. Dann nur mehr als Blinkfeuer ... Dann auch dieses nicht mehr.

Das Festland versinkt, Europa entgleitet.

Lobositz hat seine Kabine betreten – Appartement für zwei Personen ...

Er ist allein.

Heimreise!

Wie anders war die Ausfahrt!

Erster Blick auf Europa und letzter!

Frühling und Herbst, fünf Monate und ein paar Tage.

Und was geschah nicht alles in dieser kurzen Zeit!

Wie ein jagender Film, von der Hand eines rasenden Operateurs gekurbelt, hat sich sein Leben abgerollt.

Er denkt an das heiße Finden in Berlin und an das harte Verlieren in Paris.

Wo ist Paris! Wie fern!

Nur Lilith – die Wunde brennt. Da nützt kein Hohn und keine Klugheit. Die letzte Jugend starb mit ihr. Das Leben ist ein ewiges Abschiednehmen. Leben heißt – reif werden zum Sterben.

Er will aufs Deck. Wind und Regen treiben ihn zurück und eisige Kälte der Nacht.

Er liegt in seiner Kabine in der Tiefe eines Klubsessels. Die grüne Zigarre und der unvermeidliche Whisky sind geblieben – sonst ist alles anders geworden.

Die Sehnsucht ist erloschen, das Heimweh wie ein Kerzenstümpfchen niedergebrannt. Er ist müde, so müde.

Was will er eigentlich noch in diesem Leben? Wofür das törichte Spiel? Warum dieses Hochbäumen der Kurve, wenn sie dann doch kläglich herabsinken muß! Er hat nichts mehr, worauf er sich freut, nichts mehr, worauf er hofft, nichts, wovon er träumen kann. Kein Haß, der wärmt, keine Liebe, die brennt. Nicht einmal einen großen Schmerz – nur das Gefühl der unendlichen Enttäuschung und Ernüchterung.

Das Alter ist da. Kalt und zwecklos und von weitem dämmert es fahl. Irgendwo hat er ein paar Zeilen gelesen und sie sich gemerkt – und sie nicht verstanden. Auf einmal fühlt er und begreift sie als lebendige Wahrheit:

Wesenloser, grau und grauer
Wälzt das Leben sich heran,
Der Vernichtung kalte Schauer
Wehn mich aus dem Abgrund an.
Als ein letzter unter Schemen
Fahr ich in das Abendrot;
Abschiednehmen – Abschiednehmen –
Morgen sind wir alle tot.

Einen Hund, einen Hund! Wenn man wenigstens einen Hund hätte, der wedelt, wenn man ihn füttert, und den Kopf aufs Knie legt und einen anstarrt mit treuen hündischen Augen – schon das wäre jetzt so etwas wie eine Erlösung von der Schwere des Augenblicks; ein Weg aus der trostlosen Vergangenheit ...

Augen ... Augen ...

Plötzlich sieht er im Geiste Augen vor sich. Schwere, dunkle, treue Tieraugen, die an ihm hängen, die ihn verfolgen – Schritt um Schritt ... zitternd und zärtlich und liebevoll besorgt. Augen, die nicht fordern und befehlen, nicht begehren und nicht lügen – die nur lieben und dienen wollen und nicht fragen: bist du auch jung und schön? Augen, die nicht spotten und höhnen und verraten. Augen, die nur den Herrn kennen, für den sie leben und sterben.

Azulenas Augen sind es, die er plötzlich vor sich sieht, arm und elend geworden.

Wo Azulenas Augen sind, da ist auch seine Heimat – und nirgends mehr sonst auf dieser Welt.

›Azulena, ich kehre zurück ... ich danke dir, daß du auf mich gewartet. Ich habe dir vieles abzubitten – und du wirst viel vergeben müssen ... Aber du wirst vergeben, weil du die Güte selber bist. Azulena, mein süßes, warmes Menschentier, schmiege dich fester an mich – mir ist so kalt ... Gib mir ein kleines bißchen nur von deiner großen unerschöpflichen Wärme ... Ich hätte nie weggehen sollen von dir – nach diesem widerlichen Europa, aus dem die Düfte der Verwesung steigen und das sich selbst in Haß und Blindheit zerfleischt und sein eigenes Grab schaufelt. Wirst du erwachen, Europa? Oder weiterrasen? Deinem Ende entgegen – in Not und Blut und Schande und Verzweiflung? Ist auch dein Herbst gekommen, Europa – wie der meine kam?‹

Langsam – viel zu langsam für Lobositz' Ungeduld – gleitet das Schiff nach Westen – vorbei an den Kanarischen Inseln, dem brennenden Land entgegen.

Fremde Sterne tauchen auf.

Endlich wieder glüht das Kreuz des Südens am dunkelvioletten Himmel.

Milder werden die Nächte. Weiche Lüfte schmeicheln. Von fernen Küsten bringt der Nachtwind Düfte und Grüße.

Lobositz wird stiller und gerechter. Der Schmerz blutet aus. Nur die Erinnerung bleibt an Tage brausenden Überschwanges, an ein letztes trügerisches Aufflackern eines heißen Lebensgefühls – es war nicht die Jugend, die wiederkam, es war die Jugend, die Abschied nahm. – Und Morgenröte war Abendröte.

Werde glücklich, Lilith! Lebe dein Leben! Du stehst am Beginn – wo ich am Ende stand. So bitter das Ende war – ich will nicht undankbar sein ... Du hast mir viel geschenkt – trotz alledem. Man muß dem Leben und der Liebe danken – auch für den Schmerz.

Auch Schmerz ist Leben.

Drei lange Wochen – drei kurze Wochen, wenn man ein anderer wird.

Langsam fährt der ›Antonio Delfino‹ das Flußtal hinauf, das zum Hafen von Santos führt.

Der Herr kehrt heim zur neuen Heimat, die er sich erkämpft, die ihn ernährt und die ihn groß gemacht.

Kein Wort mehr von Europa! Es sei vergessen, ausgestrichen und getilgt.

Arbeit und Azulena heißen die neuen Leitsterne seines Lebens.

 

Ende.

 


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