Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XLVIII

Als Lobositz umgekleidet herabkam, um im Empfangssalon auf Lilith zu warten, überreichte ihm der Portier einen Brief, der etwas Schweres enthielt.

»Soeben abgegeben worden.«

Was kann das sein? Wer schickt mir das? Eine Damenschrift – und ganz unbekannt.

Er öffnete – ein Schlüssel fiel in seine Hand,

Nur ein paar Zeilen mit fliegender Feder hingesetzt.

»Wenn Sie einmal nicht wissen, wo Ihre Frau ist, dann suchen Sie sie Rue Taitbout 41, dritter Stock. Der Schlüssel öffnet.«

Lobositz war leichenblaß geworden.

Was soll das? Wer wohnt Rue Taitbout 41?

Was steckt dahinter?

Und es ist nur mehr ein Tag Zeit, das Rätsel zu lösen. Morgen geht der Dampfer.

Wen kennt Lilith? Wen besucht sie?

Tarnowski ...

Der Name schießt ihm plötzlich empor.

Aber kann denn das sein, eine solche Verstellung? Sie war doch so unendlich gleichgültig. Freilich, eine Frau! Wer kennt sich aus? Wer ergründet?

Sein Auge trifft auf den Spiegel vis-à-vis und starrt auf sein eigenes verzerrtes und verwüstetes Gesicht. Er sieht sich selbst mit feindlichen Augen.

»Allerdings – ich bin nicht mehr der jüngste – man könnte sogar sagen alt – und der andere – freilich – dreißig und fast fünfzig – und die Tropen, die verwüsten und die Arbeit auch – und der andere ...«

Er wird unter irgendeinem Vorwand die Abreise verschieben. Er muß Zeit gewinnen, um sich Klarheit zu verschaffen. Es ist ihm noch nicht aufgefallen, daß Lilith viel allein war ... Jetzt vormittag – eine Stunde ... und während er in London war ... Warum ist sie eigentlich nicht mit? War es wirklich die Angst vor dem Flug und dem Wetter und der Seekrankheit? Sie ist doch sonst nicht so ... Das ist doch eigentlich gegen ihre Art ... Natürlich ist sie absichtlich dageblieben, um allein zu sein – unbeobachtet und ungeniert ...

Oh, er wird betrogen – ganz gewiß betrogen ...

Eine Falte gräbt sich in seine Stirn – eine harte, böse Falte.

Irgend etwas in ihm schrumpft zusammen. Ein Panzer bildet sich, der undurchdringlich ist – irgend etwas fällt von ihm ab. Er ist ein anderer – ein Fremder, ein harter, ein kalter Mann. Oh, er braucht nicht nur arglos vertrauend und liebend sein! Schlau, tückisch und brutal – das sind Eigenschaften, die in seinem Geschlecht erblich waren. Heute geküßt und morgen – erdolcht, hat man in alten Zeiten von den Lobositzen gesagt.

Man kann auch mit Worten erdolchen. Man braucht kein lächerliches, historisches Requisit, einen Revolver oder Dolch.

Aber noch weiß er nichts. Noch hat er nur Verdacht.

Er darf nichts verraten! Er muß bis zum letzten Moment den liebenswürdigen, ahnungslosen, gutgläubigen Gatten spielen ... Aber dann wird er die Schlinge zuziehen und das Opfer lächelnd erwürgen. So wie er es drüben mit der Konkurrenz gemacht hat – bis er ganz groß und ganz einsam dastand. Gefürchtet, gemieden – aber mächtig.

Er berauscht sich an seiner harten Größe und schwelgt in Gedanken an eine Rache.

Dann riß er sich zusammen – Lilith trat soeben in ihrem kardinalvioletten Kostüm strahlend vor Schönheit und Unbefangenheit in den Lesesalon.

Die bittere Flut, die in Lobositz emporgestiegen war, begann zurückzuebben. Sein Zweifel an Lilith wurde durch sie selbst und ihre freie, sichere und liebenswürdige Art, mit der sie auf ihn zutrat, erschüttert.

»Habe ich lange gebraucht? Ich habe mich sehr beeilt.«

»Du bist sogar noch vor der bestimmten Zeit hier.«

»Aber du auch! Also ziehen wir los! Wo speisen wir?«

»Hier im Haus soll uns Ollivier zwei Plätze zum Lunch belegen. Oder fallen wir irgendwo hinein, wo es uns gerade Spaß macht.«

»Hast du nachmittags auch noch Kommissionen?«

Lilith schien eifrig nachzudenken.

»Bei Poiret ist heute eine kleine Modenschau. Ich möchte nur noch gerne die letzten Pariser Kreationen ansehen, damit ich für die nächsten Monate alles Nötige weiß.«

»Gut, ich werde dich begleiten. Gehen wir hin – ich habe so etwas noch nicht gesehen.«

Lilith schlug die Hände mit komischem Entsetzen zusammen.

»Um Himmels willen! Was tust du mir an? Was tust du dir an? Du wirst nervös und machst mich nervös. Ich schau dann nur auf dich, statt auf die Kleider, und laufe aus Rücksicht für dich, mitten in der Modenschau, davon. Nein, nein, wir geben uns um fünf Uhr, wenn alles vorüber ist, im Claridge oder in der Eremitage zum Tee Rendezvous – aber zu Poiret lasse mich allein gehen.«

›Also, sie will doch allein sein‹, konstatierte Lobositz. ›Allein bei Poiret – oder anderswo. Also trifft sie jemanden bei Poiret – oder sie geht überhaupt nicht hin. Das wäre eine Gelegenheit, klar zu werden. Gut – es sei!‹

Und mit dem freundlichsten Lächeln gesteht Lobositz zu:

»Du hast ja so recht! Es ist unglaublich, wie gut du mich kennst. Also gehe allein zu Poiret – und im Claridge treffen wir uns dann ... Oder noch besser: nachdem es der letzte Tag für uns in Paris ist, lieber zu Hause bei uns im Lesezimmer wie gewöhnlich.«

»Ganz wie es dir beliebt. Wir müssen dann ohnehin packen. Es ist besser, wenn wir gleich zu Hause sind.«

Es war Mittagszeit.

Aus den prächtigen Geschäften der Rue de la Paix schossen die Midinettes und Manequins in hellen Haufen.

Es war ein Hasten und Treiben, ein Gelächter, Geschrei und Gedränge, das sich in der Avenue de l'Opéra noch steigerte und auf der Place d'Opéra seinen Höhepunkt erreichte.

Vor dem Café de la Paix saßen die Leute in der spärlichen Mittagssonne des letzten Septembertages in acht- und zehnfachen Reihen.

Die Camelots schrien ihre Zeitungen aus: »Matin, Intransigeant, Quotidien!«

An den Haltestellen der Metro ballten sich die Menschen wie Bienenschwärme, die an einem Ast hängen. Die kolossalen Autobusse rasselten dröhnend wie eine eiserne Kette von überdimensionierten Formen, einer fast am anderen hängend. Von Zeit zu Zeit ein Ruck in den rollenden Massen – und alles steht. Die Fußgänger können die Straße kreuzen.

Ein greller Pfiff – und der Strom rast weiter.

»Eine ungeheure Bewegung, ein unermüdlicher Fleiß, eine rührende Emsigkeit«, stellt Lobositz gefesselt fest.

Er war vom Anblick des mittaglichen Paris überwältigt, sich und seine heimlichen Sorgen vergessend.

Sie lunchen im Café de Paris.

Lobositz ist schweigsam und lauernd. Lilith so unbefangen, daß Lobositz fast irr wird. Wenn er nicht den Brief und die Schlüssel in der Tasche hätte, er wäre nie auf die Idee gekommen.

Vielleicht verleumdet man sie.

Er verspürt eine große Lust, Brief und Schlüssel einfach vor sie auf den Tisch zu legen und zu sagen: Rede!

Er möchte die Wirkung sehen.

Andrerseits gibt er damit jede Waffe aus der Hand und liefert sich ihrer Schlauheit und Überredungskunst aus. Man muß sehen, wer Rue Taitbout 41 wohnt und ob der Schlüssel paßt.

Nein, er wird nicht von Paris weggehen, ohne Klarheit gewonnen zu haben. Wenn er Lilith um fünf beim Tee wiedertrifft, wird er mitteilen, daß er aus geschäftlichen Gründen noch in Paris bleiben muß. Vielleicht, daß er auf ihr Geheimnis kommt. Vielleicht genügen die drei Stunden, die noch vor ihm liegen, um hinter dieses unschuldige Lächeln zu kommen, das scheinbar nichts zu verbergen hat.

»Du weißt nicht, wie ich mich auf die große Seereise freue. Ich habe ja noch nie einen solchen Riesendampfer betreten. Hoffentlich wird mir nicht die ganze Zeit schlecht sein – das wäre jammerschade. Und die neue Welt drüben! Das wird ja alles so furchtbar interessant für mich ... ein bißchen unheimlich auch, das muß ich schon sagen ... Und wir kommen wirklich in den Frühling hinein? Eigentlich komisch, wie das alles verdreht ist. Weißt du, die drei Wochen auf dem Schiff werden für uns beide sehr gut sein! Da werden wir uns gründlich ausruhen. Dieses Paris hat uns eigentlich sehr müde gemacht. Man hat immer das Gefühl, man versäume etwas, wenn man zu Hause bleibt.«

»Findest du, daß ich sehr müde und sehr alt und sehr verbraucht aussehe?« fragt Lobositz mit äußerst sachlicher Ruhe.

Lilith starrt ihn an.

»Was ist das für eine komische Frage? Du siehst wie immer aus – sehr gut. In der Schweiz freilich, wo mehr Sonne und mehr Luft war, schienst du natürlich frischer. Aber die Meerluft wird schon das ihrige tun, um dich wieder herzustellen.«

Sie trinken ihren Flitre und Cognac fin – dann brechen sie auf.

»Also, du fährst zu Poiret drüben in die Champs-Elysées?«

»Ja, ich hab' es dir doch gesagt.«

»Und so gegen fünf treffen wir uns wieder zu Hause.«

»Ja, wir haben es doch so vereinbart.«

»Gut, gut – ich wollte es nur noch einmal klarstellen.«

»Und du willst absolut nicht, daß ich dich zu Poiret begleite?«

»Du hast doch selbst gesagt, wie lästig dir solche Sachen sind. Ich werde doch kein Opfer von dir fordern. Das wäre ja abscheulich von mir – oder nicht?«

»Deine zarte Rücksicht ist einfach reizend.«

»Was hast du? Du hast einen so merkwürdigen Ton – war das jetzt Spaß oder Ernst?«

»Natürlich Spaß.«

»Also, dann adieu, lieber Freund – ich will nicht zu spät kommen. Man ist sehr pünktlich bei Poiret.«

»Gute Unterhaltung.«

»Danke.«

»Bitte.«

»Auf Wiedersehen!«

Und Lilith fährt in der Richtung der Champs Elysées davon.

Bei der Rue Honoré läßt sie den Chauffeur halten.

»Fahren Sie mich in den Park Buttes-Chaumont – aber vermeiden Sie die großen Boulevards.«


 << zurück weiter >>