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II

Der Luxuszug, der Sao Paolo mit der achthundert Meter tiefer liegenden Hafenstadt Santos verbindet, donnert abwärts von den kühlen, reinen Höhen, auf denen die schimmernden Villen der Kaffeemillionäre stehen, den Blick weit über das blaue Meer gerichtet und von den würzigen Winden des Gebirges umspielt. Abwärts geht es in rasendem Tempo über kühne Viadukte und zitternde Hängebrücken. Aus der Welt des Luxus und der Erholung rollen die Wagen hinunter in die Stadt der atemlosen Arbeit.

Riesenspeicher ragen empor. Eine Horde von Clerks, gelb bis in die Augenäpfel, abgezehrt und fiebernd, hockt in den dampfenden Kontors. Schweißtriefend wandert das schwarze Caboctosgesindel, mit zentnerschweren Säcken grünen Kaffees beladen, über schwankende Schiffsbrücken und läßt Sack auf Sack in die weitaufgerissenen Riesenbäuche der Frachtdampfer verschwinden. Hier unten werden die Millionen verdient, die oben in den Villen der Kaffeekönige verjubelt werden.

Lobositz liegt in dem Korbsessel des Aussichtswagens, stürzt ein Eiswasser nach dem andern hinunter und liest immer wieder in dem Brief, den er von seinem Rechtsanwalt in Wien erhalten hat: »Fürst Ferdinand ist auf seinem böhmischen Stammschloß erschossen worden. Die Agrarkommission war gekommen, um dem neuen Gesetz entsprechend dreißig Prozent seines Besitzes für Zwecke der Bodenreform zu beschlagnahmen. Fürst Ferdinand Lobositz, eisenschädelig und sich immer noch gegen die neue Zeit und die neue Regierung stellend, hat sich nicht nur geweigert, die Kommission einzulassen, sondern hat sie sogar mit Gewehrschüssen empfangen. Nicht eine Handbreit seines Bodens wollte er gutwillig abtreten. Die Kommission sah sich genötigt, Militär und Gendarmerie zu requirieren; das Schloß mußte förmlich, wie eine Festung, gestürmt werden. In diesem Kampfe ist Fürst Ferdinand gefallen und hat eine Witwe und zwei Töchter zurückgelassen. Graf Alfred – vielmehr jetzt Fürst Alfred – wird gebeten, schleunigst nach Europa zu kommen. Er ist jetzt unbestrittener Herr und Oberhaupt der Familie. Die Angelegenheiten des Majorats und der übrigen Güter sind in Ordnung zu bringen.«

Wie wunderlich das Schicksal spielt!

Wie sich alles auf einmal gewendet hat! Als er – vor mehr als zwanzig Jahren herübergekommen war – zerfallen mit dem Vater und seinem älteren Bruder, förmlich verjagt von seiner Familie, verlassen und gedemütigt von der Geliebten seiner Jugend, die es nicht wagte, ihm ihr Leben anzuvertrauen, und ihn kleinmütig im Stich ließ, damals hatte es nur einen Weg für ihn gegeben: nicht zurückdenken und arbeiten, um hochzukommen und denen drüben zeigen, daß in ihm Kraft und Rasse war, trotz alledem!

Und er war hochgekommen!

Er hatte nicht zurückgedacht, sondern gearbeitet, gewuchert, spekuliert und gerafft – wie alle anderen hier in Amerika –, schonungslos seine Mitmenschen mißbraucht, nur auf seinen Vorteil bedacht. Er hatte es rasch gelernt! Heute war er einer der Ersten, Mächtigsten und Reichsten unter diesen braungelben, glatten und tückischen Raubtiermenschen! Er, der ehemalige Aristokrat und Offizier!

Aber ist er dabei auch glücklich geworden?

Zum ersten Male seit zwanzig Jahren stellt er sich diese geheimnisvolle und ängstliche Frage. Was nützt alles Ableugnen und Nichtswissenwollen?! Wenn er ehrlich sein soll: er ist ja doch hier fremd geblieben. Drüben in Europa ist er zu Hause, dort drüben in Europa liegt seine Welt und wird immer dort liegen, solange er lebt.

Blöder Tand erscheint ihm alles, was ihn hier umgibt, sinnlos sein ganzes Leben! Was hat man schon von Millionen – in Sao Paolo! Was soll er noch länger hier! Er ist fest entschlossen, alles zu verkaufen und im alten Europa zu bleiben, um endlich sein richtiges Leben zu leben, das er in diesen zwanzig Jahren atemloser Arbeit versäumt hat.

Oh, diese zwanzig Jahre voller Schufterei und rücksichtsloser Erwerbsjagd – und wozu? Für wen? Für welches Ziel? Wo ist das Weib? Wo sind die Kinder? Für wen hat er eigentlich gearbeitet? Wo liegt der Sinn seines Lebens und seiner Arbeit? Mit einem mächtigen Ruck wirft er diese zwanzig Jahre von sich – streicht sie aus.

Mit feuchten Augen denkt er zurück an das Land seiner Kindheit, an die schwarz-grünen Wälder, die silbernen Teiche des Böhmerwaldes – denkt an das schimmernde Paris –, an das fiebernde Berlin, an das lachende Wien. Denkt an alles, was lieblich und reizvoll und interessant war, was er mit brutaler Hand aus seinem Herzen gerissen, ja, bis zur letzten Wurzel verdorrt geglaubt hatte – und das nun plötzlich vor ihm aufersteht.

Eine Sehnsucht ist in ihm erwacht: noch einmal jung zu sein! Noch einmal das Leben von vorne anfangen zu dürfen – besser, klüger! Jetzt versteht er erst alles! Schließlich ist er ja doch erst sechsundvierzig!

Noch ist es Zeit!

Er fühlt sich noch so stark und unverbraucht, als ginge sein Leben überhaupt erst an.

Ein Rausch ist über ihn gekommen, der ihn emporhebt und beflügelt.

Wenn er in Europa ankommt, wird es gerade Frühling sein. Die Welt wird in weißen Blüten stehen. Er atmet im Geiste bereits die herbe Kühle des deutschen Frühlings, den feuchten Duft der jungen Ackererde, den harzigen Geruch der sprossenden Tannen, wenn die Morgensonne sie trifft.

Wie widert ihn doch dieser süßliche, feuchte Duft der Tropen an. In schimmerndem Glanz liegt das Land seiner Jugend vor ihm.

Nach zwanzig Jahren kehrt er zum erstenmal zu der Scholle zurück, auf der er geboren wurde, von der er verstoßen wurde – und die ihn zurückruft, ihn – den verlorenen Sohn ...!

Die wenigen Stunden bis zur Abfahrt der ›Cap Polonio‹ vergehen rasch. Eine atemlose Tätigkeit setzt ein. Sein Auto jagt durch die Avenida. Überall nur ein paar Minuten Aufenthalt, dann geht es weiter.

Er läßt sich Kreditbriefe für London, Paris und Berlin ausstellen und trifft geschäftliche Dispositionen, damit die Riesenbetriebe durch seine Abwesenheit nicht leiden. Er kennt seine Leute – er weiß, wem er vertrauen kann und wem nicht. Er hat im jahrelangen Dienst unter seinen unerbittlichen Augen seine Leute erprobt. Sie werden sich bewähren.

Endlich gegen Sonnenuntergang ist die Stunde der Abreise gekommen; das schwimmende Riesenhotel ›Cap Polonio‹ lichtet seine Anker. Ein Zittern geht durch seinen gigantischen Leib – die Pistons und Turbinen setzen ein.

Lobositz atmet auf. Es ist entschieden.

Langsam erst, dann immer schneller gleitet der Dampfer mit der abrollenden Flut zwischen den gewaltigen Bergen das Flußtal entlang, das Santos vom offenen Meer trennt.

Endlich ist der Atlantische Ozean erreicht.

Unheimlich rasch ist auf die kurze, brennende Abendröte die veilchenblaue Nacht hereingebrochen. Eine schwüle Tropennacht ...

Das Thermometer zeigt 35 Grad. Die Ventilatoren surren, ohne Erfrischung zu bringen.

Nichtsdestoweniger erscheint abends um sieben Uhr alles beim Diner im Smoking.

Länger als eine Stunde dauert das überreichliche Mahl.

Die Musik auf der kleinen Galerie ist unermüdlich. Jeder Schlager aus allen Erfolgsoperetten der letzten Jahre wird erbarmungslos heruntergeschmettert.

Lobositz ist nervös und unaufmerksam. Er verträgt die Leute nicht, er verträgt die Musik nicht. Er will allein sein.

Er ist der erste, der von der Tafel aufsteht.

Auf das höchste Verdeck – oben, wo es zur Radiostation hinaufgeht, hat er sich einen Liegestuhl bringen lassen und Mineralwasser in Eis gekühlt.

Dort oben liegt er und starrt in den violetten Samthimmel, auf dem das südliche Kreuz brennt, folgt den ziehenden Wolken, die vom Winde gejagt und vom Mond beschienen, phantastische Formen annehmen und einmal wie die Reiter der Apokalypse und dann wieder plötzlich wie Burgen und Schlösser aussehen. Weiße Wellenkämme brechen sich über dem leuchtenden Meer, auf dem die phosphoreszierenden Funken auf- und niedertanzen.

Das rote Toplicht eines Dampfers gleitet vorbei – der kommt von drüben, vom Lande der Jugend ... Zwanzig Jahre sind wie weggewischt. Mit solch einem Dampfer fuhr auch er einmal der Neuen Welt entgegen, die er heute flieht mit dem heimlichen Gedanken, nicht wiederzukehren.

Eintönig rinnen die Tage. Unaufhaltsam arbeitet sich der Dampfer nordwärts.

Die zweite Woche der Reise geht zu Ende. Endlich gleitet das Schiff vom Tropenherbst mit seiner feuchten Schwüle dem nordischen Frühling entgegen. An den üppigen Kanarischen Inseln vorbei geht es in den Kanal hinein. Dort wird es zum erstenmal frisch, dort gibt es endlich einen grauen Himmel und leise rieselnde Regenschauer. O wie wundervoll diese schweren kühlen Tropfen seine heiße Stirne treffen!

Noch ein letzter Aufenthalt im lärmenden Boulogne – und nach weiteren vierundzwanzig Stunden wird die ›Cap Polonio‹ in Cuxhaven oder Hamburg vor Anker gehen, und er wird wieder deutsche Erde betreten ... nach zwanzig Jahren zum ersten Male. Das vorletzte Mal war er noch als Oberleutnant hier gewesen, hatte sich einen Pokal erritten und durch seine schneidige Reitkunst Aufsehen erregt. – Dann allerdings galt es von Europa Abschied zu nehmen ... einsam, zusammengebrochen, müde, hoffnungslos – im Bewußtsein eines verfehlten Lebens – – –

Er mußte unwillkürlich lachen.

Wie kurzsichtig ist doch so ein Mensch! Was ihm damals Untergang schien, war der Weg zu seinem Aufstieg.

Sein fachkundiger Blick staunt, als er den Hamburger Hafen und sein Leben sieht. Er glaubte in eine verzweifelnde, niedergebrochene Welt zu kommen und sieht Arbeit und Leben, sieht neue Schiffe kommen und gehen.

Das besiegte Deutschland richtet sich empor – mit unheimlicher Schnelligkeit und unwiderstehlicher Gewalt.

Es wird ihm warm ums Herz – fast zärtlich zumute.

Aber er hat keine Geduld, in Hamburg zu bleiben.

Mit dem letzten Abendzug erreicht er noch Berlin und steigt im Hotel Adlon ab, wo er sich telegraphisch ein Zimmer bestellt hat.

Er will ein paar Tage in Berlin bleiben und sein neues Antlitz nach dem Kriege sehen.

Durch die gegen Ende der Reise sehr bewegte See ist er müde und schläft lange.

Er erwacht am späten Vormittag.

Die zwei Stunden bis zum Lunch vergehen rasch. Er will ihn noch im Hause nehmen und dann ausgehen.

Lobositz sitzt an einem kleinen Tisch in der Galerie, die von der Hall zu den Speisesälen führt, und trinkt seinen Mokka.

Ein Boy tritt auf ihn zu und meldet, eine Dame wäre draußen und möchte den Herrn Grafen sprechen. Ob er sie hereinführen oder abweisen solle. Sie sei eine gute Bekannte des Herrn Grafen, habe sie gesagt.

»Eine Bekannte von mir?«

Lobositz hat sich erhoben. Er kann es sich nicht vorstellen, wer ihn kennen soll, wer kommen kann, wer überhaupt weiß, daß ... Vielleicht die Witwe seines Bruders? Jedenfalls findet er es passend, der Dame entgegenzugehen.

Er eilt mit dem Boy hinaus – und fährt wie von einem elektrischen Schlag berührt zurück.

Vor ihm steht strahlend, jung und schön – unberührt vom Wandel der Tage – die Geliebte seiner Jugend – Anna – und streckt ihm die Hände entgegen.

Lobositz ist erschüttert, verwirrt und verlegen wie ein Knabe. Kaum, daß er die Worte stammelnd herausstößt:

»Anna? Ist das möglich? Bist du es wirklich? Kann denn das sein? So ein Wunder ...«

Er hält sie bei den Händen, er starrt in diese lebensprühenden, lustigen, blaugrauen Augen, er streichelt das üppige, rostrote Haar, das in dicken, natürlichen Locken unter dem lichtgrauen Strohhütchen hervorquillt.

Und immer wieder dieses knabenhafte, selige, fast jauchzende:

»Anna ...«

Um ihre Lippen, die so jung, so rot sind, zuckt es verräterisch und verhalten; die Zähne klemmen noch für ein paar Sekunden die Lippen fest. Dann erklingt auf einmal ein Lachen, hell, übermütig und ein bißchen verlegen – ein Lachen, das Anna nie gelacht hat ... ein fremdes Lachen ...

Lobositz stutzt unwillkürlich – und weicht einen halben Schritt zurück.

»Anna, so heißt meine Mutter ... Es scheint, daß ich ihr wirklich sehr ähnlich sehe.«

»Also, nicht Anna? Ihre Tochter – dieselbe – und doch nicht dieselbe!«

Wie konnte er nur glauben? Ein Nebel zerreißt – ein Lebensalter liegt zwischen ihnen – jetzt weiß er es wieder, was er – überwältigt von Erinnerungen und Gefühlen, die plötzlich Fleisch und Blut geworden waren – vergessen hatte und daß die Zeit nicht stillsteht.

Er gibt sich einen Ruck.

Die Augen, die lustig und erwartungsvoll auf ihn gerichtet sind, verwirren ihn. Er ist unsicher geworden im Verkehr mit Frauen dort drüben – das merkt er erst jetzt. Er weiß nicht, wie er den Übergang in die Geleise eines normalen Gespräches finden soll.

Aber sie kommt ihm zuvor.

»Meine Mutter läßt Sie grüßen – und mein Vater auch ... Wir leben hier in Berlin ... seit vielen Jahren ... Meine Mutter hat hierher geheiratet ... Und heute früh haben wir in der Zeitung gelesen, daß Sie gekommen und im Adlon abgestiegen sind ... Und da wollte ich wissen, ob Sie es wirklich sind. Die Mutter hat von Ihnen immer so viel gesprochen. Ich habe gar nicht das Gefühl, daß Sie ein Fremder sind; eher etwas wie ein heimlicher zweiter Papa.«

Lobositz merkt, daß er noch rot werden kann – aber das junge Mädchen merkt es auch. Sie schlägt in die Hände und lacht und jubelt:

»Nein – wie reizend! Das habe ich noch nie bei einem Manne gesehen.«

Lobositz beißt sich auf die Lippen. Er muß Haltung erzwingen – und es gelingt ihm auch. Etwas war die Schule drüben doch wert!

»Darf ich fragen, liebes Fräulein, wie Sie eigentlich heißen?« fragt er, durchaus weltmännisch – und sogar etwas herablassend.

»Lilith – so wie Adams erste Frau, ... aber warum sagen Sie Fräulein zu mir?«

»Wie soll ich denn sagen?«

»Wie Sie wollen – aber nicht Fräulein. Ich bin doch die Tochter Ihrer ... Ihrer ... nun sagen wir: Ihrer gewesenen Braut – oder so etwas Ähnliches wenigstens.«

»Ganz richtig: gewesene Braut – aber nichts ›Ähnliches‹,« verbesserte Lobositz ernst und etwas herb.

»Gott, wie feierlich! Ja, ja, ich kenn' ja die Mama und ihre Art ... Ich weiß ja! Immer hochanständig und tadellos und unnahbar – unrettbar legitim in allen Lebenslagen! Bürgerlich bis in die Fingerspitzen. Lieber sterben, als einen Schritt vom vorgezeichneten Wege! Na, ich wäre damals sicher nicht so dumm gewesen wie meine Mutter – ich wäre in Gefahr und Wildnis mit hinüber ... statt in die Konfektionsbranche zu heiraten.«

»Sie scheinen sehr genau über die Vorgänge von damals unterrichtet zu sein. Aber wir stehen noch immer ... Möchten Sie nicht vielleicht mit mir hineinkommen und einen Kaffee nehmen oder sonst etwas.«

»Natürlich möchte ich!« fährt es ihr heraus. »Ich war ja noch nie im Adlon. So vornehm sind wir nicht. Wir kennen die Noblesse nur bei anderen Leuten. Für uns ist die Armut reserviert – aber ich hab' es leider eilig, ich muß in mein Geschäft und dann: ich bin auch nicht danach gekleidet.«

Unwillkürlich fällt sein Blick auf die Kleidung des jungen Mädchens, was sie natürlich fühlt. Sie weiß nur zu gut, daß sie für »Adlon« nicht angezogen ist und wie billig ihr Trotteurkostüm war.

Hastig erklärte sie:

»Das ist nämlich nur mein Arbeitskittel, in dem ich geschwind hergelaufen bin. Und für das Kontor ist dieses Kleid noch immer gut genug ... meinen Sonntagsstaat muß ich schonen.«

»Aber Sie sehen reizend aus«, beruhigte sie Lobositz. Und um sie abzulenken, fügte er rasch hinzu: »Wann darf ich Ihrer Frau Mama und natürlich auch dem Herrn Papa einen Besuch abstatten?«

Jetzt ist es an Lilith, zu erröten.

Ihr Atem geht plötzlich kurz – in ihre Augen kommt ein erwartungsvolles Leuchten. Sie hat das Gefühl, als ob eine dunkle Mauer in sich zusammensinke und die Aussicht in eine strahlende Welt freigäbe. Von jetzt ab ist nichts mehr unmöglich: Der Kaffeekönig – kommt zu ihnen.

»Sie wollen ... wirklich ... zu uns kommen?«

Lilith fragt es ein wenig zaghaft. »Wir wohnen aber so furchtbar bescheiden; Sie werden sich am Ende nicht wohl fühlen in einer so kleinen, armseligen, bürgerlichen Behausung ... Sie, der Sie gewohnt sind ...«

»Ich komme ja nicht zu Ihrer Wohnung, liebe Lilith, sondern zu Ihrer Mutter – einer Frau, die ich einmal sehr lieb gehabt – und nicht vergessen habe und« – fügte er nach einer sekundenlangen Verzögerung hinzu – »und auch zu ihrer Tochter, die ihr so ähnlich ist.«

»Ich werde mich vielleicht morgen eine Stunde früher von meiner Beschäftigung losmachen, und dann treffen Sie uns – Mama und mich – um fünf Uhr zu Hause, Papa kommt allerdings erst um sieben. Sein Chef nützt ihn fürchterlich aus. Der arme Papa ist schon ganz verbraucht und fertig – die Kriegsjahre haben ihm den Rest gegeben. Aber das ist kein heiteres Thema. Also, wir wohnen: Wilmersdorf, Uhlandstraße 42. Natürlich nicht nach vorne, sondern Gartenhaus, dritte Etage – ohne Lift.«

»Ich werde kommen, liebes Fräu ... liebe Lilith – aber sagen Sie, warum erst morgen? Warum nicht gleich heute?« Er stößt es förmlich heraus. »Das Leben ist kurz, und es ist schade um jede versäumte Gelegenheit. Wir von drüben haben nicht so viel Zeit – und ich erst recht nicht! Ich habe ohnedies so viel versäumt ...«

Lilith hat die Augen aufgerissen. Dieses Lebenstempo ist auch noch für das fixe Berlin eine Überraschung – ein derartiges Draufgängertum hat sie nicht erwartet.

»Ja, natürlich geht es auch noch heute. Ich werde meiner Mutter telephonieren, damit sie nicht allzu überrascht ist oder vielleicht ausgeht.«

»Also gut, dann werde ich um fünf Uhr bei Ihnen sein. Ich freue mich darauf ... und wenn Sie abends frei sind, dann werden wir auch den Abend zusammen verbringen. Wir gehen irgendwohin Abendbrot essen – nicht wahr – so sagt man doch hier drüben? Und dann zeigen Sie mir Berlin bei Nacht. Vielleicht lockt Sie irgendeine Veranstaltung oder ein mondänes Lokal – ich bin zu allem bereit, was Ihnen Spaß macht, und für mich ist alles so gut wie neu. Ich komme aus einer schlecht gefirnißten Wildnis, wo man mit Pariser Parfüms den ewigen Fäulnisgestank zu betäuben versucht ...«

Lobositz merkt, daß Lilith nach der Uhr schielt.

»Darf ich Sie vielleicht im Auto irgendwohin bringen – in Ihr Amt, oder sonstwohin – wo Sie gerade wollen?«

Lilith wehrt heftig ab:

»Nein, nein. Es geht mit der Untergrundbahn viel schneller – und es wird auch nicht gerne gesehen, wenn unsereins so ankommt. Da gibt es gleich ein widerwärtiges Getuschel, und jeder fragt: Woher und wieso? Und wenn es der Abteilungschef erfährt, benützt er die Gelegenheit, mir eine Rüge zu geben, weil ihm das Spaß macht. Ich danke Ihnen! Also heute um fünf Uhr!«

Geschmeidig wie eine Gazelle huscht sie dem Ausgang zu.

Auch dieser rhythmische Schritt, diese weiblich reizvolle Art, die Hüften zu wiegen – wie die Mutter! Lobositz sieht ihr gebannt und verzaubert nach.

Und jetzt, knapp vor der Drehtüre, wendet sie noch einmal das Köpfchen und lacht grüßend zurück.

Das hätte die Mutter nie getan! Das wäre viel zu vertraulich und herausfordernd gewesen nach ihrem Begriff.

Wie ähnlich und wie unähnlich sind doch diese beiden Frauen!

Verwirrt und erregt kehrt Lobositz zu seinem Mokka zurück.

Ein Stein fiel ins Wasser und zieht seine Kreise.


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