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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Ein Stockwerk höher, grade über Sandersons Zimmer, starrte Oakland Annie erschrocken auf die Tür, an die schon wieder geklopft wurde.

»Bitte?« Ihre Stimme war nervös und gespannt. Sie tastete nach dem Lichtschalter und knipste an.

»Ich bin's, Clarice – Hastings.«

»Ah – Mrs. Hastings.« Oakland Annie, alias Clarice, entfuhr ein Seufzer der Erleichterung. »Ich hab' mich ein bißchen hingelegt und abgeschlossen.« Sie fuhr eilig in ihre Schuhe und öffnete.

Rührend besorgt brachte Mrs. Hastings ein Tablett mit Tee und Toast.

»Sie sind wirklich zu lieb.«

»Aber ich konnte Sie doch nicht mit leerem Magen zu Bett gehen lassen, Kindchen. Der Tee ist gut gegen Ihr Kopfweh. Sie sehen wirklich angegriffen aus, mein Armes. Ich weiß Bescheid – ich hab' selbst früher schrecklich an Kopfweh gelitten. Kam von den Augen. Gehen Sie zu meinem Augenarzt, Kindchen. Ganz ausgezeichnet, und so bescheiden – Sie zahlen –«

»Meine Augen sind aber ganz in Ordnung«, unterbrach sie Clarice. Sie machte auf dem Tisch Platz für das Tablett. Die elektrische Taschenlampe fiel zu Boden, ohne daß die Haushälterin davon Notiz nahm.

»Dann kann's nur vom Magen kommen. Zeigen Sie mal die Zunge.«

Ungeduldig gehorchte Oakland Annie. Mrs. Hastings schielte über ihre Brille und machte sich wichtig. »Was ich gedacht – die Leber! Sie müssen Kalomel nehmen – haben Sie welches da?«

Der bloße Gedanke an Kalomel verursachte Oakland Annie Übelkeit; aber es war das beste, zu allem ja zu sagen.

»Will es morgen in der Apotheke holen.«

»Nicht nötig, Kindchen. Ich hab' immer alles bei mir und werd's Ihnen bringen. Aber wir lassen ja Ihren Tee kalt werden. Kommen Sie, ich schenk' Ihnen ein. Zwei Stückchen Zucker, nicht wahr?«

»Ja, bitte – wieviel Uhr haben wir eigentlich, Mrs. Hastings?«

»Ein viertel nach zwölf ungefähr. Machen Sie schnell, daß Sie ins Bett kommen. Ich hole Ihnen noch Kalomel.«

»Aber nein, Mrs. Hastings. Muß doch auf Madame warten. Sie hat noch nicht geschellt. Wohl noch beim Bridge. Ja, man ist nicht immer auf Rosen gebettet als Jungfer.«

»Sie werden sehen, Kindchen, man kommt sehr gut aus mit Mrs. Harrington. Nur nicht frühmorgens. Dann ist sie immer schlechter Laune. Sicher von den Cocktails. Was die reichen Leute alles so durch die Gurgel jagen –« Mrs. Hastings hatte sich zur Tür gewandt, drehte sich aber noch einmal um. »Haben Sie sich den Brillantanhänger mal angeschaut?«

»Welchen Brillantanhänger?«

»Das fragen Sie noch! Den Brillanten natürlich. Ich hab' ihn nie von der Nähe gesehen. Möcht' wissen, ob's stimmt, daß Mr. Harrington achtzigtausend dafür bezahlt hat!«

Ein Klingelzeichen unterbrach das Geschwätz. Es kam aus dem Schlafzimmer der Hausfrau. Die falsche Clarice hielt den Atem an.

»Das ist Mrs. Harrington, die mir schellt.«

»Erst die Tasse Tee«, verlangte die Haushälterin. Das Mädchen trank rasch die Tasse aus und eilte herunter nach dem zweiten Stock.

Was bedeutete dies Klingelzeichen? War Mrs. Harrington in ihrem Versteck gefunden worden? Sie hatte sich vorgenommen, selbst die Herrin zu entdecken, um so jeden Verdacht am sichersten von sich abzulenken.

Der Hausherr stand in der Schlafzimmertür mit einem irritierten Ausdruck.

»Ich habe Ihnen geschellt. Wissen Sie vielleicht, wo Mrs. Harrington sein kann?«

»Ich – ich – nein«, stotterte das Mädchen mit gutgespieltem Erstaunen. »Ich wunderte mich schon, daß Madame mir nicht früher schellte. Ist sie schon heraufgegangen, Mr. Harrington?«

»Schon vor etwa einer halben Stunde. Ich glaubte, Madame plaudere noch mit Mrs. Chadwick. Aber da ist sie nicht. Ich hab' überall nachgesehen und kann sie nicht finden.«

»Merkwürdig«, murmelte Oakland Annie.

»Sehr merkwürdig«, rief Oliver Harrington. »Unter den gegebenen Umständen äußerst beunruhigend. Sie haben sie zuletzt gesehen, als –«

»Als sie zu Tisch ging«, log Oakland Annie. »Mir war nicht gut, und ich hab' mich in meinem Zimmer aufs Bett gelegt. Sie sind ganz sicher, daß Madame nach oben gegangen ist?«

»Selbstverständlich«, antwortete Harrington mit zunehmender Nervosität. »Hab's Ihnen doch schon einmal gesagt.«

Die falsche Clarice schaute den Hausherrn verständnislos und mit den unschuldigsten Augen der Welt an. Harrington blieb einen Moment unentschlossen.

»Da stimmt was nicht. Holen Sie den zweiten Diener – er soll sofort kommen.«

»Sofort.« Sie beeilte sich, den Befehl auszuführen und fand nach einigen Minuten den Verlangten, der sich ihr atemloses Geschwätz nicht zusammenreimen konnte.

»Was ist das für ein Unsinn? Kann seine Frau nicht finden?«

»Ich weiß nicht, was los ist, Mrs. Harrington ist nicht in ihrem Zimmer. Mehr weiß ich nicht. Und Sie sollen sofort zu Mr. Harrington kommen.«

Peter Blodgett erschrak heftig. Was konnte passiert sein? Eilig folgte er der Jungfer. Blodgett wußte, daß Sanderson vor einer Viertelstunde heraufgegangen war. Er wußte ferner, daß es keinerlei Ausgang aus Sandersons Zimmer gab, außer dem, der bei seinem unbedingt zuverlässigen Mann an der Wäschekammer vorbeiführte. Seine Besorgnis schien ihm selbst lächerlich – aber er konnte sie nicht loswerden.

»Was gibt's mit Mrs. Harrington?« fragte er den Hausherrn, der sich jetzt in einem Zustand völliger Panik befand.

»Weg – verschwunden«, stöhnte er.

»Unmöglich!«

»Unmöglich oder nicht – sie ist aber verschwunden!«

»Aber wohin?« fragte völlig fassungslos der Detektiv.

»Schafskopf«, brach Harrington los. »Wär' ich vielleicht so aufgeregt, wenn ich das wüßte! Keine Ahnung hab' ich. Sie ist mit Mrs. Chadwick und einigen anderen Damen herauf und in ihr Zimmer gegangen. Bestimmt ist sie hier gewesen, denn hier liegt der Fächer, den sie bei sich hatte – aber wo ist sie jetzt?«

»Beruhigen Sie sich doch mal erst, Harrington.« Blodgett versuchte, eine vertrauensvolle Miene aufzusetzen, trotzdem ihm selbst höchst unbehaglich zumute war. »Sicher ist sie in irgendeinem anderen Zimmer und wird gleich hier sein.«

Oakland Annie war sprachlos. Der Diener nannte den Herrn ganz einfach Harrington, und der ließ sich das auch gefallen. Die Erklärung sollte nicht auf sich warten lassen.

»Ein großartiger Detektiv sind Sie mir! Haben Sie noch nicht begriffen, daß Mrs. Harrington den Bulburry trägt? Das spurlose Verschwinden hat was mit dem Schmuck zu tun – ich bin sicher!«

Wenn einer von den beiden Männern jetzt Oakland Annies Gesicht beobachtet hätte, als sie begriff, daß dieser Diener ein Detektiv war, so hätte ihm das Mädchen zu denken gegeben – aber niemand beachtete sie, und rasch hatte sie sich wieder völlig in der Hand. Also unter den Augen eines Detektivs hatte sie den Schmuck gestohlen! Trotzdem sie fast etwas wie Stolz über ihre Leistung verspürte, war sie sich darüber klar – hätte sie eine Ahnung von der Gefahr gehabt, sie hätte wahrscheinlich die Finger davon gelassen.

Peter Blodgett schaute verblüfft und hilflos drein. Harrington mochte wohl recht haben. Das Verschwinden der Hausfrau und der Brillant – das mußte schon was miteinander zu tun haben.

Warum hatte er keine Meldung von dem Mann, der Sanderson beobachtete? Da war etwas schiefgegangen. In diesem Augenblick machte Oakland Annie eine erschrockene Bewegung. Die Männer wandten sich ihr zu.

»Was gibt's?« fragte Oliver Harrington.

»Horchen Sie!« Sie deutete mit zitternder Hand auf die Schranktür, hinter der sie Mrs. Harrington wußte. »Da ist ein Geräusch – da – in der Schrankkammer – ich hab' bestimmt was gehört!«

Peter Blodgett riß die Tür auf – da lag ohnmächtig die Hausfrau mit gefesselten Händen, einen Knebel im Mund.

»Sie ist tot!« schrie Oakland Annie mit einem Ton wahren Entsetzens in der Stimme. »Um's Himmels willen, sie ist tot!« Die Herrin sah so totenblaß aus, daß das Mädchen im ersten Schreck wirklich glaubte, sie umgebracht zu haben.

Auch Oliver Harrington hielt seine Frau für tot. Aber als er sie berührte, spürte er die Körperwärme.

»Sie ist doch nicht tot, Blodgett?« schrie er heiser.

»Bestimmt nicht –« beruhigte der Detektiv. »Schnell ein Glas Wasser und Riechsalz.« Er band die Arme los und entfernte den Mundknebel.

Dann trug er Mrs. Harrington aufs Bett. Der Gatte stand erstarrt dabei, ein Dankgebet auf den Lippen. Oakland Annie holte das Riechsalz.

Der starke Ammoniakgeruch stieg Mrs. Harrington in die Nase, und sie öffnete die Augen; als ihr die Sinne wiederkehrten, stieß sie einen Schrei aus.

»Beruhige dich, Liebste«, sprach ihr Oliver Harrington mit zitternder Stimme zu. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben.«

»Der Kerl – ich dachte, er würde mich umbringen. Ist er entkommen, Oliver? Ich fühl' mich so schlecht – schrecklich schlecht!«

»Man hat sie chloroformiert«, stellte Peter Blodgett fest, der den Geruch gemerkt hatte. »Chloroform erregt oft schwere Übelkeit, besonders wenn man viel gegessen hat. Weg mit dem Wasser – Wasser macht's nur schlimmer.«

»Soll ich nicht einen Arzt rufen?« meinte Harrington.

»Wie Sie wollen. Aber es besteht keine Gefahr. Können Sie sprechen, Mrs. Harrington? Wir möchten rasch wissen, was passiert ist – wo ist der Schmuck?«

Mrs. Harrington tastete nach ihrem Hals. »Fort – der Bulburry ist fort. Der Kerl hat ihn genommen. Darum hat er mich überfallen. Oliver – warum hast du den Stein hergebracht?«

»Ich hätt's nicht tun sollen«, stöhnte der Gatte. »Also hatte Decker doch recht. Ob –«

Der Detektiv unterbrach ihn. »Einen Augenblick, bitte. Ich muß Sie etwas fragen. Bitte, Mrs. Harrington, haben Sie das Gesicht des Diebs gesehen?«

»Nein«, kam die schwache Antwort.

»Maskiert?«

»Das Gesicht war bedeckt – mit einem Taschentuch.«

»Bitte, beschreiben Sie ihn, so gut wie möglich«, drängte der Detektiv.

»Er trug einen dunklen Anzug und eine Mütze. Mehr weiß ich nicht, alles ging so schnell –«, die Stimme ging in Schluchzen über.

»Ein großer Mann, nicht wahr?« Peter Blodgett dachte natürlich an Sanderson.

Trotz ihres Zustands empörte sich Mrs. Harrington über die zudringliche Ausfragerei dieses Dieners.

»Oliver – was fällt dem Mann ein!« wehrte sie sich empört.

»Aber es ist alles in Ordnung, Liebste. Blodgett ist kein Diener. Er ist der Chef eines Detektivbüros. Wir haben dem Dieb eine Falle gestellt. Es gehörte zu unserem Plan, daß ich den Schmuck mitgebracht.«

»Ein großer Mann, nicht wahr?« wiederholte Blodgett.

»Ja, groß – sehr groß.« In Mrs. Harrington entsetzter Vorstellung nahm der maskierte Räuber riesenhafte Proportionen an. Tatsächlich war Oakland Annie nicht einmal so groß wie Mrs. Harrington selbst.

»So groß wie Maxwell Sanderson, nicht wahr?« fragte Blodgett suggestiv.

Mrs. Harringtons Augen weiteten sich in ungläubigem Schrecken. »Aber das ist ja unmöglich!«

»Es ist möglich, Liebling. Er wird schon seit einiger Zeit als Dieb verdächtigt, und hier scheint der glatte Beweis erbracht.«

»Scheint erbracht?« fragte der Detektiv. »Ist erbracht. Wir haben Sanderson, wo wir ihn haben wollten. Wir haben ihn geklappt. Rasch – es ist keine Zeit zu verlieren. Warten Sie einen Augenblick auf dem Vorplatz. Ich hole meine Waffe. Konnte sie in dieser blöden Verkleidung nicht einstecken.«

»Glauben Sie, er läßt's auf einen Kampf ankommen?« fragte nervös Oliver Harrington.

»Ob er sich zur Wehr setzen wird? Aber das tut jeder Verbrecher, der gestellt wird. Ich werd' mich jedenfalls vorsehen mit einem Fuchs wie diesem ›Geldschrankspezialisten‹.«

Die Männer verschwanden und überließen Mrs. Harrington der Obhut ihrer Jungfer. Oakland Annie blieb in einem Taumel wilden Durcheinanders zurück – Erregung, Erstaunen, Erleichterung kämpften in ihr.

»Sanderson! Der ›Geldschrankspezialist‹! Es ist also noch einer hinter dem Schmuck hergewesen! Jetzt klappen sie den Falschen – so brenzlig war's noch nie!«


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