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Zweites Kapitel

Es war recht unverfroren von Barton Clark, Hilfe von Sanderson zu erwarten, dazu noch für einen Betrag von tausend Dollar. Er kannte den Mann kaum, und die Verbindung war nur durch einen Empfehlungsbrief von Enoch Hutton, dem Präsidenten der Bank in Clarks Heimatsort, hergestellt worden.

Hutton und Sanderson waren Vettern, und Sanderson hatte als junger Mensch häufig Libertyville besucht. Jetzt war er jahrelang nicht mehr dort gewesen, aber Hutton war von einer Bankiertagung aus New York in fassungsloser Bewunderung über den Luxus der Lebenshaltung des Vetters zurückgekehrt.

Als Barton Clark Huttons Empfehlungsbrief überbrachte, traf er Sanderson in einer fabelhaften Junggesellenwohnung, in der dieser mit einem tadellosen Diener hauste. Er war durchaus liebenswürdig gewesen, wenn er Clark auch etwas von oben herab behandelt hatte. Sanderson gab seinem strebsamen Besucher einen Einführungsbrief an Mr. Cudworth, einen Geschäftsfreund.

Seither hatte Clark Sanderson nur einmal zufällig nach Theaterschluß an der Vierundvierzigsten Straße getroffen. Merkwürdigerweise erinnerte sich Sanderson seiner – ziemlich vage zwar, aber immerhin – und hatte ihn mit einem freundlichen Wort begrüßt. Gewiß keine intime Beziehung, die zu Hoffnungen auf ein Darlehen von tausend Dollar berechtigte – aber Verzweiflung kennt keine Vernunft.

Als Barton Clark im strömenden Regen auf dem Weg zu Sanderson war, mit hochgeschlagenem Mantelkragen und heruntergebogener Hutkrempe gegen Sturm und Regen ankämpfte, kam ihm seine unverschämte und voraussichtlich zwecklose Frechheit erst zum Bewußtsein. Aber ein Ertrinkender klammert sich auch an Strohhalme, selbst wenn er weiß, daß es nur Strohhalme sind.

Clark kam triefend vor Nässe an. Als er das luxuriöse Treppenhaus betrat, schaute er so jämmerlich und fragwürdig aus, daß das blonde Telephonfräulein, das die Überwachung und Abweisung unwillkommener Besucher zu besorgen hatte, ihn ziemlich mißtrauisch betrachtete.

»Mr. Sanderson läßt bitten«, sagte sie nach einer Rückfrage in gelangweiltem Ton und nahm ihre Lektüre wieder auf.

Im Lift nach dem neunten Stock unterwegs, machte Clark sich klar, daß Sanderson alles andere als Mitgefühl für einen Kerl, der so kläglich versagt hatte, empfinden und ihm kaum helfen würde.

»Ich werde nicht mit der Tür ins Haus fallen«, sagte Clark zu sich selbst. »Erst will ich ihm einmal auf den Zahn fühlen. Wenn zufällig Cudworth und er befreundet sind, könnt' er mich gleich der Polizei übergeben. Aber wenn er das versucht –« Seine Hand umklammerte den Revolver, den er in die Tasche gesteckt, bevor er das Büro verließ.

Der Lift hielt, und die Bronzetür öffnete sich. Clark trat auf den Vorplatz, und der Aufzug verschwand nach unten. Einen Augenblick später klingelte er an der Tür von Sandersons Wohnung.

Maxwell Sanderson öffnete selbst, und Clark fühlte sich verwirrt wie damals bei seinem ersten Besuch vor drei Jahren. Sanderson war eine faszinierende Persönlichkeit, ein Mann, der auch in einer Sechs-Millionen-Stadt nicht zu übersehen war und die Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Eine achtunggebietende Erscheinung in den Vierzigern mit grauem Haar an den Schläfen. Was bei Sanderson in die Augen fiel, war nicht so sehr ein schönes Gesicht, als sein distinguiertes Aussehen. Er war im Abendanzug, der durchaus zu ihm zu gehören schien. Sanderson hatte Würde und eine ausgezeichnete Haltung. Die Bewegungen seiner Hände waren ungewöhnlich eindrucksvoll.

Er schien überrascht, als hätte er nicht Clark, sondern jemand anders erwartet. Aber er lächelte höflich und streckte dem Besucher seine Hand entgegen.

»Ah – unser junger Freund aus Libertyville.«

Barton gab ihm die Hand. »Es scheint ein Mißverständnis bei der Anmeldung –«

»Macht gar nichts, Clark. Allerdings habe ich das Telephonfräulein falsch verstanden und Clarkson gehört. Ich war im Begriff, mich verleugnen zu lassen. Clarkson kann einen totreden, aber mir schien, ich könnte selbst seine Geschwätzigkeit heute abend aushalten. Ekelhaftes Wetter, was? Ich höre, wie der Regen gegen die Fenster klatscht. Die Wohnung liegt nach dem Fluß zu, und wenn's stürmt, spürt man das hier in voller Stärke.«

Clark wußte, daß Sanderson sich wundern müsse, was ihn bei solchem Wetter hierherführe und daß es sich um keinen gleichgültigen Besuch handelte. Aber jedenfalls verstand er seine Neugier zu verbergen.

»Sie sind verteufelt naß«, meinte Sanderson. »Geben Sie Ihren Mantel her. Kein Schirm, keine Gummischuhe? Sie können sich das bei Ihrer Gesundheit vielleicht leisten, aber verrückt ist's doch.«

»Ich hab' mir beim Fortgehen nicht klargemacht, daß es so gießt«, erwiderte Clark, »und als ich die Untergrundbahn verließ, war kein Taxi zu finden. So viele Tausende es auch in New York gibt, bei solchem Wetter sind's doch zu wenig.«

Er folgte Sanderson in das Wohnzimmer, das eine hohe, holzgetäfelte Decke und mit Nußbaum eingelegte Wände hatte. Am Ende des Raumes war ein offener Kamin. Die Holzscheite auf dem schweren Messingrost waren heruntergebrannt, und Sanderson legte frisches Holz auf. Der Besucher wunderte sich, daß der Hausherr es selbst tat und nicht dem Diener schellte.

»So ist's besser, nicht wahr?« meinte Sanderson, als das trockene Holz rasch Feuer fing. »Rücken Sie Ihren Sessel näher heran und werden Sie erst einmal trocken.«

Clark folgte seiner Aufforderung. Der Feuerschein spielte wärmend über sein Gesicht und ließ den gespannten Ausdruck seiner Züge erkennen – ohne daß er selbst darum wußte. Er musterte den luxuriösen Raum und überlegte, wieviel tausend Dollar diese Einrichtung gekostet haben mochte. Gewiß, einem Mann in solchen Verhältnissen brauchte es auf tausend Dollar nicht anzukommen; sie würden ihm nicht das geringste ausmachen – wenn er nur wollte.

Sanderson holte Zigarren, zündete sich selbst eine an und nahm nachlässig seinem Besucher gegenüber Platz. Wenn Sanderson wirklich bemerkte, daß Clark sich in einem Zustand außerordentlicher Erregung befand, so wußte er jedenfalls diese Wahrnehmung zu verbergen.

»Also Sie haben sich entschlossen, mich einmal wieder aufzusuchen. Es ist wohl gerade drei Jahre her, daß ich Ihnen eine Zeile für Cudworth gab. Und dann begegneten wir uns später mal abends am Broadway nach Theaterschluß.«

»Jawohl«, erwiderte Clark etwas unsicher. Er dachte darüber nach, wie er die Pause ausfüllen sollte, bis es richtig schien, vom Zweck seines Besuches zu sprechen.

»Sie sind noch bei Cudworth?«

»Ja, als Kassierer.«

»Richtig, ich erinnere mich, daß mir die Leute über Sie schrieben. Freue mich, Sie dort eingeführt zu haben. Mein Vetter Enoch empfahl Sie, und das genügte mir. Sie sind zufrieden mit Ihrem Posten?«

»So leidlich, Mr. Sanderson, nur ist Cudworth nicht sehr freigebig in bezug auf Gehalt. Es ist verkehrt, Leute, die mit großen Summen umzugehen haben, schlecht zu bezahlen.« Clark streckte einen Fühler aus.

Maxwell Sanderson runzelte leicht die Stirn und streifte die Asche seiner Zigarre ab.

»Sie meinen, daß man damit zur Unehrlichkeit verführt wird? Mag sein, entschuldigt aber doch niemals Diebstahl. Wenn einer stiehlt, ist er ein Verbrecher, und damit basta.« Die Stirn blieb gerunzelt und bekam einen noch strengeren Ausdruck. Aber wenn Sanderson etwa den jungen Mann, dem er zu seiner Stellung verholfen, beargwöhnte, so gab er jedenfalls seinem Verdacht keinen Ausdruck. Einen Augenblick später hatte das Gespräch eine andere Wendung genommen.

Es war Barton Clark bereits klar, daß er an den unrechten Mann gekommen war. ›Wenn einer stiehlt, ist er ein Verbrecher, und damit basta.‹ Dieser Satz hatte die Bestimmtheit eines Urteilsspruches. Clark machte eine nervöse Bewegung und fühlte schwer den Revolver in der Tasche. Nun, das blieb immer noch.

Sanderson sprach von Libertyville und erzählte lachend von Jugendstreichen, die er und Vetter Enoch zusammen ausgeheckt. Diese Jugenderinnerungen schienen ihm Spaß zu machen, und Clark hörte höflich, aber mit halbem Ohr zu. Hin und wieder warf er mechanisch ein Wort ein.

Wenn Sanderson lachte, zeigte sein Gesicht einen Ausdruck von Güte, der den Besucher ermutigte, mit seinem Anliegen herauszurücken. Vielleicht gab es doch noch eine Möglichkeit.

»Mr. Sanderson«, brach er plötzlich los, »Sie werden es höchst unverschämt finden, daß ich mich so einfach an Sie wende, aber wenn man ganz verzweifelt –«

Im Nebenzimmer klingelte es, Sanderson sprang auf und entschuldigte sich.

»Das Telephon«, sagte er, »entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Hier sind Zigarren. Zünden Sie sich eine frische an.«

Die Tür zwischen dem Wohnraum und dem Nebenzimmer blieb offen. Clark konnte auch bei bestem Willen das Gespräch nicht überhören. Zunächst machte es keinerlei Eindruck auf ihn, aber plötzlich zuckte er zusammen und umklammerte die Armlehnen seines Sessels.

»Aber ich bitte Sie, alter Freund«, sagte Sanderson irritiert, »ich wünsche die Verantwortung für Ihr Geld nicht zu tragen – jedenfalls nicht für derartige Summen. Es paßt mir nicht, fünftausend Dollar im Haus herumliegen zu haben, zumal mein Safe nicht in Ordnung ist; der Verschluß funktioniert nicht, und die Schranktür läßt sich nicht schließen ... Was sagen Sie? Sie wollen die Verantwortung übernehmen? Gut, wenn Sie's verlangen und sich weigern, das Geld bei mir abzuholen, kann ich nichts machen ... Also abgemacht, ich werde das Geld morgen früh für Sie bei der Bank deponieren.«

Barton Clark schoß das Blut siedend heiß zu Kopf. Fünftausend Dollar! Der Geldschrank nicht verschließbar! Welche Gelegenheit bot sich hier. Hastig musterte er den Raum. Wo war der Geldschrank? Derartige Safes waren meist in die Wand eingemauert. Über dem Kamin hing ein kostbarer Gobelin; möglich, daß dahinter, in Reichweite –

Clark sprang auf, ergriff die Franse der Tapisserie und schob sie zur Seite. Ein leiser Laut freudiger Überraschung kam ihm über die Lippen. Seine Vermutung bestätigte sich. Da war der Safe, ein runder Schrank, in die Kaminwand eingemauert. Hinter der Metalltüre waren die tausend Dollar, die er brauchte, um die Differenz in der Kasse zu decken – und noch viertausend Dollar mehr.

Es war ein guter Safe, der einem raffinierten Geldschrankknacker widerstanden hätte, und ihn würde es nur eine Handbewegung kosten, ihn zu öffnen. Wie verführerisch einfach!

›Wenn einer stiehlt, ist er ein Verbrecher, und damit basta.‹ Das waren Sandersons Worte, und Sanderson hatte wohl recht.

Das Telephongespräch im Nebenzimmer war beendet. Clark nahm wieder Platz, ganz erfüllt von den Gedanken, die ihm durch den Kopf schössen. Also er war ein Verbrecher? Schön, dann wollte er diesmal aber auch den Nutzen davon haben. Das war der sichere Ausweg aus dem Schlamassel, das er angerichtet. Er war ein Narr gewesen, als er hoffte, von Sanderson das Geld gutwillig zu bekommen. Sanderson saß fest auf seinen Dollars wie alle reichen Leute.

Welche Chance für mich, dachte Clark, daß das Telephon gerade jetzt klingelte. Ich war eben im Begriff, mit meiner Sache herauszuplatzen.

Sanderson kam ins Wohnzimmer zurück.

»Gott schütze uns vor unseren Freunden«, klagte er, »sie nehmen einen immer in Anspruch. Wenn sie nicht gerade Geld pumpen, wollen sie sonst irgend was.«

Clark schöpfte tief Atem. War das ein Kommentar zum Telephongespräch oder eine leise Warnung, nicht mit Geldforderungen zu kommen? Sanderson war ein Gentleman und wollte wohl taktvoll vorbeugen.

»Hoffentlich glauben Sie nicht, daß ich gekommen bin, um Sie anzupumpen, Mr. Sanderson?«

Der Angeredete setzte sich, zündete eine frische Zigarre an, betrachtete prüfend den jungen Besucher und lächelte.

»Wenn ich aufrichtig sein soll«, antwortete er, »so hatte ich tatsächlich einen Augenblick diesen Verdacht. Sagten Sie nicht etwas von verzweifelter Situation?«

»Verzweifelt begierig nach freundschaftlichem Verkehr – nicht nach Geld, Mr. Sanderson. Sie sind der einzige Mensch in New York, der die Heimat und meine Leute kennt«, erwiderte Clark geistesgegenwärtig. Er wollte nicht, daß Sanderson etwas von seinen Schwierigkeiten bemerkte. »Ich fürchtete, Sie würden mich für schrecklich aufdringlich halten, wenn ich hier unaufgefordert erscheine.«

»Aber ganz und gar nicht, Clark«, antwortete Sanderson in herzlichem Ton. »Ich verstehe Sie sehr gut. Sie sind mir immer willkommen. Wir sollten uns besser kennenlernen, Sie und ich. Ich bin sicher, wir könnten gute Freunde werden.«

»Solange ich Sie nicht um Geld bitte«, erwiderte Clark schlagfertig. Sanderson lachte gutmütig zu dieser Bemerkung und sah auf die Uhr.

»Sie haben Dusel, Clark. Ich habe zwei Plätze für die ›Midnight Follies‹, und der Freund, mit dem ich gehen wollte, sagt mir eben am Telephon, daß er unerwartet nach Boston fahren muß.«

Ein Platz für die ›Midnight Follies‹ war ein kostspieliger Wunsch, den Clark schon lange gehabt. Aber das war nicht der Grund für das plötzliche Aufleuchten seiner Augen. Sanderson würde die ›Midnight Follies‹ besuchen, deren Vorstellung um Mitternacht begann und bis vier Uhr früh dauerte. Wahrhaftig, er hatte Dusel, aber nicht in dem Sinn, in dem es Sanderson meinte. Während dieser vier Stunden, in denen die Großstadt in tiefstem Schlaf lag, würde außer dem Diener niemand in der Wohnung sein.

Er versuchte einen Ausdruck des Bedauerns zu zeigen.

»Ich wünschte sehr, mitkommen zu können, aber ich muß morgen früh pünktlich im Geschäft sein, und dann –«

»Sie denken an den Abendanzug«, nickte Sanderson. »Das ließe sieh machen. Wir haben ungefähr dieselbe Figur. Aber wenn Sie sich nicht aufgelegt fühlen, will ich Sie nicht drängen. Ich freue mich, daß Sie Ihren Beruf so ernst nehmen. Also geh' ich allein. Wenn ich schon die Karten habe, will ich die Vorstellung doch nicht versäumen. – Aber Sie gehen doch nicht jetzt schon? Es ist ja erst neun Uhr.«

Clark erhob sich. Er wußte wohl, daß es erst neun Uhr war, aber er hatte noch dringende Einkäufe zu erledigen, und die Metallwarenläden in der Nähe würden in einer Stunde geschlossen sein. Er hatte keine Zeit zu verlieren.

»Ich hätte Ihnen gern etwas zu trinken angeboten, aber dieser blöde Diener hat den Schlüssel zu meinem Schnapsschrank nicht an seinen Platz getan, und der Mann hat heute abend Ausgang. Mir scheint, ein Cocktail ist's nicht wert, den hübschen, eingelegten Schrank zu demolieren.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Absicht«, erwiderte Clark. Grade was er noch hatte wissen wollen, ohne Fragen stellen zu müssen. Alle Karten, die ihm heute abend in die Hand gespielt wurden, waren Trümpfe. Der Diener hatte heute Ausgang, um so besser, um so besser.

Sanderson begleitete ihn zur Tür und drückte ihm mit herzlicher Wärme die Hand.

»Ich hoffe Sie bald wiederzusehn. Wie ich Ihnen schon sagte: ich glaube, wir werden uns gut vertragen.«

»Jawohl, Mr. Sanderson. Ich werde wiederkommen – bald«, erwiderte Clark. Und als sich die Tür hinter ihm schloß, mußte er über den Scherz, den er sich erlaubt hatte, grinsen.

»Ich werde früher wiederkommen, als Mr. Maxwell Sanderson denkt«, sagte er zu sich selbst.


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