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Dreiundzwanzigstes Kapitel

An der Bahn wurde Sanderson von einem Auto der Harringtons abgeholt. Der korrekte Chauffeur, ein schmucker Junge namens Terry Cahoon, gehörte zu Blodgetts Leuten. Seine Haltung war völlig unbefangen; wie denn überhaupt alles geschah, um keinerlei Verdacht bei Sanderson aufkommen zu lassen.

Mit dem gleichen Zug waren zwei andere Gäste angekommen: Miss Elkins, eine sehr lebhafte junge Dame, deren Geschwätz ständig mit den neusten Schlagworten arbeitete, und William Wallace Norcross, an dem nur ein spärlicher Schnurrbart auffiel, mit dem er sich hingebungsvoll beschäftigte. Im übrigen liebte es Norcross, abgeschmackten Klatsch und Skandalgeschichten zu erzählen, wofür sich augenscheinlich Miss Elkins im Gegensatz zu Sanderson lebhaft interessierte.

Als der Wagen über die Landstraße glitt, fing Norcross an, auch über die Gastgeber zu klatschen.

»Wird wahrscheinlich unser letztes Weekend hier sein. Es heißt ja, daß es mit Oliver Harrington höchst faul steht und er den Besitz hier verkaufen muß. Verflucht schade, was?«

»Nicht zu glauben«, meinte Miss Elkins. »Und ich dachte, die Harringtons hätten Geld wie Heu!«

»Das war einmal«, erwiderte Norcross, »und wäre noch so, wenn Oliver sich hübsch mit dem begnügt hätte, was da war. Er hat zu dick verdienen wollen – verflucht schwierig in diesen Zeiten, und der richtige Geschäftsgeist fehlt ihm doch völlig.«

»Ganz unvorstellbar, daß es den Harringtons so schlecht gehen könnte.«

»Doch. Ich hab's von meinem alten Herrn. Und der muß Bescheid wissen.«

Norcross senior war Bankier, saß in vielen Aufsichtsräten, und wenn Sanderson von den New-Yorker Finanzverhältnissen soviel gewußt hätte, wie von Juwelen und Schmuck, so wäre er über die geschäftlichen Zusammenhänge zwischen Norcross und Decker informiert gewesen.

Der Landsitz der Harringtons war ungewöhnlich reizvoll. Sanderson, der zum erstenmal hier war, bewunderte beim Einbiegen in den Park die terrassenförmig ansteigenden Rasenflächen, die bis an das architektonisch interessant gebaute Haus heraufführten.

»Herrlich«, sagte er vor sich hin.

»Einfach phantastisch«, meinte Miss Elkins exaltiert. »Todschade, wenn's verkauft werden müßte. Und sie bekämen natürlich, wie immer, nur einen Bruchteil vom wirklichen Wert.«

Der Wagen hielt. Wie ein tadelloser Herrschaftschauffeur dienerte Terry Cahoon die Gäste aus dem Wagen. Peter Blodgetts Leute funktionierten einwandfrei. Blodgett, der mit zwei anderen die Ankömmlinge empfing, wollte Sanderson selbst in sein Zimmer begleiten.

Oliver Harrington begrüßte in der Haltung des scharmanten Wirts die Gäste, vor allem Sanderson, mit vielleicht etwas zu großer Herzlichkeit. »Riesig erfreut, Sie bei mir zu sehen, Sanderson.« Während der Begrüßung ging ihm durch den Kopf: Ausgeschlossen – Decker ist ein Esel! Sanderson ein Dieb und Verbrecher!

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte lächelnd Sanderson. »Schon der erste Eindruck, den ich von Ihrem herrlichen Park hatte, lohnte die Reise.«

Oliver Harrington strahlte, und Sanderson folgte Peter Blodgett, der die Koffer ins obere Stockwerk trug und so ganz in seiner Rolle war, daß Sanderson unmöglich etwas Verdächtiges in der Haltung des Dieners wahrnehmen konnte.

Sandersons Zimmer lag am äußersten Ostflügel des Hauses und war von Blodgett im Hinblick darauf gewählt, daß es für scharfe Bewachung besonders günstig lag. Eine Wäschekammer im Vorflur, die ausgeräumt und in die ein Stuhl für einen aufmerksamen und bewaffneten Spion gestellt worden war, bot die Möglichkeit, den beargwöhnten Gast bei etwaigen nächtlichen Streifzügen zu überwachen und sofort zu fassen. Blodgett hatte seine Netze mit größter Umsicht ausgeworfen.

»Darf ich auspacken?« fragte in korrekter Haltung der Diener.

»Gewiß.« Sanderson antwortete zerstreut, während er den Mantel ablegte. »Bitte, lassen Sie nur erst mal ein lauwarmes Bad ein – ist das Wichtigste nach der schmutzigen Eisenbahnfahrt.«

»Sofort.« Peter Blodgett war enttäuscht, daß Sanderson sich ohne weiteres mit dem Auspacken einverstanden erklärt hatte. Das Gewicht des einen Koffers hatte ihn hoffen lassen, es wäre das Handwerkszeug des »Geldschrankspezialisten« drin verpackt.

»Diner um acht Uhr?« fragte Sanderson.

»Jawohl – um acht.« Der Detektiv ließ das Bad einlaufen und beobachtete Sanderson durch die halboffene Tür. Er hatte ihn nie so nahe gesehen und wurde bei der Betrachtung der vornehmen Erscheinung wieder skeptisch in bezug auf Deckers Theorie.

»Das Bad ist fertig.«

Sanderson gähnte. »Danke. Es ist gut. Ich habe keine Lust, mich zweimal umzuziehen, werde auf dem Zimmer bleiben und bis zum Diner ruhen.«

»Soll ich jetzt auspacken?« Peter Blodgett verbarg einen erneut auftauchenden Verdacht.

»Bemühen Sie sich nicht. Besorg' es selbst. Danke.«

Dem Detektiv blieb nichts anderes übrig, als sich jetzt zurückzuziehen. Später, wenn die Gäste zu Tisch herunterkamen, würde er Sandersons Gepäck gründlich durchsuchen.

Sanderson hatte auf die Hilfe beim Auspacken lediglich deshalb verzichtet, weil er den Diener mit Rücksicht auf andere Gäste nicht länger in Anspruch nehmen wollte. Er hatte nichts von dem Werkzeug mitgebracht, das er zur raschen Öffnung von Safes zu gebrauchen pflegte.

Mit Barton Clark war für den Fall günstiger Möglichkeiten das Erforderliche verabredet.

Trotzdem er nach seiner Rückkehr nach New York Deckers Spione nicht mehr bemerkt hatte, rechnete er nach wie vor damit, beobachtet zu werden. So wollte er sich mit Clark weder telephonisch noch telegraphisch in Verbindung setzen und hatte den Freund für den nächsten Nachmittag im Auto in die Nähe des Landhauses bestellt. Dort wollte er ihn Punkt drei Uhr treffen. Clark würde anhalten, nach dem Weg zum nächsten Dorf fragen, und bei dieser Gelegenheit würde ihm Sanderson eventuelle Weisungen für die Nacht geben können.

Sanderson überlegte sich die Situation während des Bades. Es war nicht wahrscheinlich, daß Harrington den Bulburry hier auf dem Land hatte. Und ihm kam's nur auf den Bulburry an – mit weniger wollte er sich nicht abgeben. Hm – Harrington war sehr herzlich gewesen beim Empfang, auffallend herzlich.

Das Bad machte ihn so munter, daß er keine Lust verspürte, auf dem Zimmer zu bleiben. Er zog sich einen hellen Flanellanzug an und ging hinunter.

Unterdessen waren die Chadwicks in ihrem Wagen eingetroffen, und Chadwick demonstrierte einen neuen Cocktail eigenster Erfindung.

Er begrüßte Sanderson: »Grade im rechten Augenblick – hier ist noch ein Glas für Sie!«

Sanderson nahm Platz und hörte dem Geplauder der Gäste zu, das von dem Geräusch des Cocktailschüttelns begleitet wurde.

Peter Blodgett nahm die Gelegenheit wahr, schlüpfte neugierig in das Zimmer des verdächtigen Gastes und durchsuchte erfolglos das Gepäck.

Inzwischen hatte Oliver Harringtons Schäferhund mit Sanderson Freundschaft geschlossen. Harrington wollte ihn fortschicken, aber Sanderson bat: »Lassen Sie ihn – ich liebe Hunde – und Hunde mich.«

»Drollig«, rief Mrs. Harrington. »Doc ist sonst so ablehnend gegen Fremde.«

»Sogar mir, seinem Herrn, gegenüber ist er zurückhaltend. »Er war der ständige Begleiter meines früheren Kammerdieners – vom ersten Tag an. Merkwürdig, nicht wahr, wie ausgesprochen bei Tieren Zuneigung und Abneigung sein kann.«

Sanderson lachte und streichelte den Hund. »Und Tiere sind immer ehrlich – was man von den Menschen nicht grade sagen kann.« Er stand auf und trat auf die Terrasse. Doc heftete sich dicht an seine Fersen.

Als Sanderson nach einer guten Stunde ins Haus zurückkehrte, folgte ihm sein neuer Freund noch immer wie sein Schatten und ging mit ihm die Treppe hinauf.

»Wollen lieber nicht zu intim werden, Doc – werden nicht lange beisammenbleiben können.« Aber der Schäferhund wedelte zärtlich mit dem Schwanz, glücklich, die Stimme zu hören, die er vom ersten Augenblick an geliebt hatte.

Maxwell Sanderson war nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Aber auf dem Weg zu seinem Zimmer, auf dem Vorplatz des Ostflügels, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte fassungslos Clarice an, die in ihrem weißen Häubchen quer über den Flur ging. Fast wäre ihm beim Anblick der hübschen Jungfer ein Ausruf der Überraschung entfahren.

Das war ja dasselbe schlaue Frauenzimmer, das ihn im Bankgewölbe in Long Island hereingelegt und ihm die Markendale-Perlen mit vorgehaltenem Revolver entrissen hatte!

Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Sie war's!

Clarice, die sich damals Ann Ford genannt und als kleine Telegraphenbeamtin bezeichnet hatte, verschwand um die Vorplatzecke, ohne sich umzudrehen. Sie konnte ihn unmöglich erkannt haben. Bei der ersten Begegnung, die ihr eine hübsche Summe eingebracht, war er verkleidet und maskiert in einem schwach erleuchteten Raum gewesen. Aber vielleicht mochte sie sich seiner Stimme erinnern; in der Beziehung wollte Sanderson äußerst vorsichtig sein.

Erst als er sich in seinem Zimmer befand, erlaubte sich Sanderson ein breites Grinsen. Was mochte das zu bedeuten haben! Ob sie auf der Jagd nach der gleichen Beute waren? Wahrscheinlich – ihre Wege kreuzten sich also zum zweitenmal. Seine Selbstachtung würde nicht dulden, das hübsche kleine Fräulein noch einmal das Spiel gewinnen zu lassen.

Der Schäferhund, der Sanderson ins Zimmer begleitet hatte, gab erneut durch lebhaftes Wedeln seiner Sympathie Ausdruck.

Sandersons methodisch arbeitendem Gehirn pflegten auch nicht die unbedeutendsten Kleinigkeiten zu entgehen. Er bemerkte sofort, daß die Knöpfe des Kofferüberzugs, die nach seiner genauen Erinnerung unverschlossen gewesen, als er das Zimmer verließ, jetzt verschlossen waren.

»Hm«, meinte er stirnrunzelnd, »was soll jetzt das heißen?«

Er untersuchte den Koffer. Alles lag in schönster Ordnung darin. Und doch nahm er wahr, daß jemand ihn während seiner Abwesenheit untersucht haben mußte. Er schloß den Koffer und dachte nach. Wieder fiel ihm sein Erstaunen über die Einladung ein; er erinnerte sich der fast übertrieben herzlichen Begrüßung Harringtons. Und jetzt besann er sich auch auf eine unbeherrschte Mundbewegung des Dieners bei seiner Bemerkung, er werde die Koffer selbst auspacken.

Er wandte sich dem anderen Handkoffer zu. Dieselbe Geschichte – so gut geordnet der Inhalt war – auch den hatte jemand durchsucht.

»Das verspricht ein höchst interessantes Weekend zu werden!«


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