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Vierundzwanzigstes Kapitel

Man war bei Tisch, und Mrs. Harrington trug zu Sandersons größtem Erstaunen den Bulburry-Brillanten. Der Anhänger erstrahlte auf dem zarten Hals in goldenem Feuer, und es fiel Sanderson schwer, die Augen davon abzuwenden.

Er hatte sich in den letzten zwei Stunden allerhand durch den Kopf gehen lassen. Er fand es auffällig, daß die Harringtons so leichtsinnig waren, den Schmuck solchem Risiko auszusetzen. Aber war es denn so auffällig? Die Entdeckung von der Durchsuchung seines Gepäcks hatte ihn mißtrauisch gemacht und seine Beobachtungen verschärft. Seine besondere Aufmerksamkeit – die er geschickt zu verbergen verstand – galt dem zweiten Diener. Er beobachtete auch Inkorrektheiten des ersten Dieners, und wenn er Oliver Harrington anschaute, wurde dieser verlegen.

Während des Essens gingen seltsame Dinge auf dem dritten Stock vor sich, wo sich die Dienerschaftsräume befanden. Clarice – um sie bei dem Namen zu nennen, den sie Mrs. Harrington angegeben, und der sich auf ihren gefälschten Zeugnissen befand – kam aus dem Zimmer ihrer Herrin im zweiten Stock zurück, wo sie telephoniert hatte.

Sie hatte eine Telephonnummer in einem fünf Meilen entfernten Dorf verlangt und mit »Mr. Selders« gesprochen. Es waren nur zwei Worte gewechselt worden. Von ihrer Seite »Heut nacht«, von der anderen »Gut«.

Dann war Clarice unbemerkt auf den dritten Stock in ihr Zimmer zurückgeeilt. Ihr Gesicht verriet Erregung, aber die Hände, die jetzt einen Koffer öffneten, waren völlig ruhig. Dem Koffer entnahm sie zuerst einen Revolver, dieselbe Waffe, mit der sie in jener Nacht in Long Island die Markendale-Perlen an sich gebracht und die Maxwell Sanderson fast das Leben gekostet hätte.

Clarice – alias »Oakland Annie« aus San Francisco – packte nun einen dunklen Männeranzug aus, ein Paar Schuhe, die für die kleinen Füßchen viel zu groß waren, und eine Schirmmütze. Sie hatte viel Zeit und wußte, daß sie kaum gestört werden würde.

»Das ist aber ein schicker Anzug!« meinte sie. »Der gelbe Stein ist schon so gut wie mein. Hm – man tut die Kopfarbeit für diese Bande von dummen Jungen, die einen noch schlecht behandeln. Wenn's zum Teilen kommt, schmieren sie einen an. Aber diesmal soll anders geteilt werden!«

Zuerst zog sie Hosen und Schuhe an. Die letzteren mußten mit Zeitungspapier ausgestopft werden, damit sie ihr nicht abfielen. Dann schlüpfte sie in den Rock, schlug den Kragen hoch und drückte die dunkle Mütze so auf den Kopf, daß ihr Haar völlig verschwand und der Schirm das Gesicht beschattete; ein buntes Tuch diente als Gesichtsmaske, und nur die Augen blieben frei.

Das Mädchen betrachtete sich im Spiegel. Sie war mit sich zufrieden. Nun noch die Handschuhe, die ihre Hände verstecken und Fingerabdrücke unmöglich machen sollten. Dann steckte sie allerhand ein, was sie bereitgelegt: eine Taschenlampe, ein starkes Stück Schnur, ein großes Taschentuch und eine Flasche ohne Etikett.

Sie hatte reichlich Zeit und konnte noch ein paar Züge rauchen. Dann machte sie das Licht aus und spähte vorsichtig auf den Vorplatz. Die ganze Dienerschaft war unten beschäftigt; so bestand wenig Gefahr für sie, auf dem Weg zum zweiten Stock bemerkt zu werden. Rasch gelangte sie in Mrs. Harringtons Schlafzimmer, wo sie auf ihre Herrin warten wollte.

Kurz nach neun war sie heruntergekommen. Gegen zwölf Uhr hörte sie Stimmen auf dem Flur und Gute-Nacht-Wünsche von Gästen. Oakland Annie preßte sich gespannt an die Wand neben der Tür, zog die Flasche aus der Tasche, entkorkte sie eilig und feuchtete das Taschentuch an. Ein starker Chloroformgeruch entwickelte sich.

Die Tür öffnete sich, und mit abgespanntem Ausdruck betrat Mrs. Harrington ihr Schlafzimmer. Sie hatte Kopfweh von den Cocktails und war müde. In dem Augenblick, wo sie mit mechanischer Handbewegung auf die Klingel drücken wollte, die zum Zimmer der Jungfer im dritten Stock führte, sprang Oakland Annie wie eine Pantherkatze auf sie zu und umklammerte sie so, daß Mrs. Harrington keine Möglichkeit hatte, auch nur einen Schrei auszustoßen. Das chloroformgetränkte Taschentuch wurde ihr auf Mund und Nase gepreßt, und es entstand ein verzweifeltes Ringen zwischen den beiden Frauen. Mrs. Harrington starrte schreckerfüllt auf die Maske, die keinen Ton von sich gab, um sich nicht durch die Stimme zu verraten.

Nach einer halben Minute machte die Wirkung des Betäubungsmittels dem Kampf ein Ende, und Mrs. Harrington lag ohnmächtig in den Armen des Mädchens, das sie auf den Boden legte und mit solch gieriger Hast nach dem Schmuck griff, daß die Platinkette riß. Ohne das herrliche Stück, das für sie nur Geldwert hatte, zu betrachten, ließ sie's in der Tasche verschwinden. Die Ringe, die Mrs. Harrington trug, blieben unberührt. Jetzt galt es Eile, bevor Mr. Harrington, der wohl noch mit Gästen im Rauchzimmer geblieben war, zum üblichen Gutenachtgruß ins Schlafzimmer kam.

Aber erst war vorsichtshalber noch etwas zu erledigen. Sie schleppte ihre Herrin an den Schultern über den Boden und legte die Ohnmächtige in die große Kleiderschrankkammer, wo sie ihrem Opfer einen Knebel in den Mund steckte und die Arme fesselte. So konnte Mrs. Harrington innerhalb der nächsten fünfzehn bis zwanzig Minuten unmöglich Alarm schlagen; das Mädchen war sich der Dauer der Chloroformwirkung nicht ganz sicher. Und wenn Mr. Harrington zum Gutenachtgruß ins Zimmer kam, würde er einfach annehmen, daß sich seine Gattin irgendwo anders im Haus aufhalte.

Jetzt kam der heikelste Teil von Oakland Annies Aufgabe. Sie mußte unbeobachtet in ihr Zimmer im dritten Stock zurückgelangen. Gäste, Dienerschaft konnten ihr begegnen. Annies kleines Händchen faßte den Revolver und entsicherte ihn. Wenn jetzt –

Aber Oakland Annie hatte Glück, wie schon so oft. Kein Mensch im Treppenhaus. Irgendwo schlug eine Tür – sie sauste ungesehen die Treppen hinauf und kam in ihr Zimmer.

Keine Sekunde zu früh. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als sie ein Anklopfen erbleichen ließ. Sie mußte antworten.

»Was gibt's?«

»Sind Sie krank?« Es war die Stimme von Mrs. Hastings, der Haushälterin.

»Wie – wieso soll ich krank sein?«

»Aber Sie sind ja nicht zum Essen erschienen, und da dachten wir, es fehlt Ihnen was.«

»Bißchen Kopfweh. Nicht der Rede wert.«

»Kann ich Ihnen was bringen?« Mrs. Hastings mochte die neue Jungfer gut leiden.

»Vielen Dank, Mrs. Hastings – kümmern Sie sich nicht um mich. Ich hab' ein bißchen geruht und fühl' mich schon besser.« Gott sei Dank – die Haushälterin verlangte nicht, eingelassen zu werden. Schweißgebadet und mit zitternder Hand zog Annie sich um. Es war die Reaktion auf die große Nervenanspannung.

»Das war verflucht heikel«, meinte sie bei sich selbst. »Ich hab' Glück heute nacht. Keiner von den Jungens hätte den Schneid gehabt. Na, diesmal sollen sie mich nicht übers Ohr hauen.«

Nachdem sie sich umgezogen, das Haar in Ordnung gebracht, das Häubchen wieder aufgesetzt hatte, packte sie alles Zeug, auch Flasche und Revolver, sorgfältig zusammen in den Anzug, aus dem sie ein Bündel machte.

Einen Augenblick spielte sie mit dem Brillanten und überlegte, was man dafür wohl kriegen könne.

»Fünfundzwanzigtausend so etwa – gibt wenig Hehler, die so dicke Objekte schlucken, und gerade die schmieren einen gern an. Hm, Fünfundzwanzigtausend müßte er bringen; und wenn die Jungens mir nicht zehn davon abgeben, spiel' ich nicht mehr mit und mach' mich selbständig.«

Sie wickelte den gelben Brillanten in Papier ein, tat eine Schnur darum, und befestigte ihn am Knopfloch des Mantels. Dann überzeugte sie sich davon, daß das Päckchen absolut sicher festgebunden war.

»Soweit wär's. Den Rest soll der Rotkopf besorgen.«

Sie machte dunkel und öffnete ihr Fenster. Dreimal ließ sie die elektrische Taschenlampe in die Nacht aufflammen. Es war das verabredete Zeichen für Rotkopf, der draußen im Garten wartete, daß die Sache gelungen war und er in Aktion zu treten habe.

Ungeduldig und ängstlich starrte sie ins Dunkel und wartete auf ein Antwortzeichen. Schon malte sie sich schlimme Möglichkeiten aus. Sollte dem Esel was passiert sein? Wenn er die Beute nicht übernehmen würde?

Sie wiederholte das Signal und atmete erleichtert auf. Aus dem Gebüsch sah sie einen Lichtschein zweimal aufleuchten – Rotkopf war zur Stelle.

Ein Klopfen. Es war an ihrer Tür. Oakland Annie warf das Kleiderbündel mit dem Achtzigtausend-Dollar-Brillanten von der Fensterbank aus herunter und schloß schnell, aber geräuschlos, das Fenster. Es klopfte wieder.


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