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Siebzehntes Kapitel

Kapitän Fisher war als erster zur Stelle. Die Hosen hastig über das Pyjama gezogen, stürzte er aus seiner Kabine am Oberdeck. Er stolperte über die Schnürsenkel und wäre gefallen, wenn Clark ihn nicht aufgefangen hätte. »Gibt's denn überhaupt keine Nachtruhe mehr hier«, schimpfte er. Bevor er an Deck kam, hatte er durchs Sprachrohr in den Maschinenraum schon den Befehl zum Stoppen gegeben. »Wieso ist ein Mann über Bord?«

Clark konnte nicht die volle Wahrheit sagen. Damit half er Sanderson nicht und brachte nur sich selbst in Gefahr. Er wollte überhaupt nicht lange berichten – erst sollte einmal der Rettungsversuch unternommen werden.

»Über die Reling –« stotterte er – »er – er sprang über die Reling –«

»Selbstmord, meinen Sie?«

»Ja – so sah's aus, Kapitän. Was werden Sie tun?«

»Tun? Was meinen Sie damit?«

»Ein Rettungsboot klarmachen – mit Scheinwerfern ableuchten – es ist wohl ziemlich aussichtslos, aber –«

»Ganz aussichtslos –« brummte Kapitän Fisher. »Bei Tageslicht wäre ein Rettungsboot gut und schön. Wir würden den Mann rasch haben. Auch in einer klaren Nacht könnte man's versuchen. Aber bei diesem Nebel reicht das Scheinwerferlicht ja kaum ein paar Meter weit.«

Er lehnte sich über die Reling und rief laut in die Nacht. Keine Antwort kam. »Wir sind schon außer Hörweite. Wahrscheinlich ist der Mann schon tot. Das Wasser ist eisig kalt, und wenn er nicht ein verflucht guter Schwimmer ist –«

»Sie wollen nichts unternehmen?« rief Clark.

»Ich denke nicht daran, ein Boot klarzumachen. Sie meinen's gut, aber es ist völlig zwecklos und unmöglich. Und damit basta. – Wer war's denn – einer von den Passagieren?«

»Der Rothaarige.« Clark starrte über die Reling, die Hände verkrampft, mit zusammengebissenen Zähnen. Er wußte, daß keine Hilfe möglich war, und trotzdem erregte ihn die Weigerung des Kapitäns. Fisher nickte verständnisvoll.

»Der Rothaarige? Also Mr. Prather. Glauben Sie mir, der hatte seine guten Gründe. Decker wußte Bescheid – hier haben wir den Beweis. Dieser Prather hat den Schmuck der Miss Vale gestohlen. Sie werden sich's nach dem Radiogramm wohl gedacht haben.«

»Ich nahm an, daß der Verdacht auf ihn gefallen war. – Also Sie wollen den Mann seinem Schicksal überlassen?«

Kapitän Fisher tat, als ob er die Frage nicht gehört hätte. »Man muß Decker verständigen.« Er brachte seine Schuhe in Ordnung und ging auf die Kajütentreppe zu. Clark eilte in seine Funkstation zurück. Es war höchste Zeit. Er hatte bei Sandersons Anruf die Entwürfe für die Depeschenfälschung auf dem Tisch liegenlassen. Eilig vernichtete er die Zettel, schrieb aus dem Gedächtnis den richtigen Wortlaut auf und steckte das Telegramm ein.

Es war ihm schwer zumut, und er kämpfte mit den Tränen. Jetzt erst wurde ihm bewußt, wie nah und freundschaftlich seine Beziehung zu dem seltsamen Mann in den drei Monaten ihrer Verbindung geworden war.

Gewiß – das Spiel war so gut wie verloren – aber warum gleich das Letzte – warum nicht noch einen Versuch machen – dann dachte er an Sandersons Stolz, an seine Art, die Dinge zu nehmen, und begriff langsam, daß dieser Sprung ins Nichts wohl der beste Ausweg gewesen.

Er hörte Schritte; Decker trat mit Fisher bei ihm ein.

»Ich höre von Fisher, daß Prather über Bord sprang und Sie ihn gesehen haben. Stimmt das?«

»Jawohl. So ist es.« Clark schauerte unwillkürlich zusammen. »Ich sah es und versuchte vergeblich ihn zurückzuhalten. Er riß sich los, warf den Mantel fort, und weg war er.« Sein vorwurfsvoller Blick fiel auf Fisher.

Der Kapitän brummte: »Der Mann meinte, ich hätte ein Rettungsboot ausschicken sollen. War ja ganz zwecklos.«

»Aussichtslos bei solchem Nebel«, stimmte Decker zu. »Haben Sie mit Prather gesprochen, bevor er über Bord sprang?«

Blitzschnell wußte Clark, was er zu sagen hatte.

»Das erwartete Funktelegramm war gerade eingetroffen. Hier ist es übrigens.« Er reichte es Decker, der es rasch überflog und an Fisher weitergab.

»Er hatte sich wohl gedacht, Kapitän, daß ich Verbindung mit Jerry Townsend aufnehmen würde, und ist hier um die Funkstation herumgeschlichen, um auszuspionieren, wie groß die Gefahr für ihn war. Als er begriff, daß er durchschaut war, wählte er den letzten Ausweg, wenn er nicht – wie weit von der Küste sind wir, Kapitän?«

»Zwanzig bis fünfundzwanzig Meilen, Mr. Decker. Sie glauben doch nicht etwa, daß der Mann versuchen könnte, an Land zu schwimmen? Meisterschwimmer würden bei solchem Seegang keine fünf Meilen schaffen. Wenn wir auch nicht gerade Sturm haben, ich möchte doch nicht mit einem kleinen Boot gegen diese Wellen ankämpfen müssen. Nein – sogar ein preisgekrönter Dauerschwimmer würd's nicht schaffen.«

»Sie haben recht, Fisher. Ich habe nicht gewußt, daß wir zwanzig Meilen vom Land ab sind, sonst wär' ich gar nicht auf den verrückten Gedanken gekommen. Der Kerl sah sich durchschaut und wußte, daß er in Charleston der Polizei ausgeliefert würde.« Decker sah Clark scharf an. »Haben Sie ihm den Funkspruch gezeigt?«

»Gezeigt nicht, Mr. Decker. Aber er wußte, was drin stand. Ich hatte das Telegramm grade aufgenommen –«

»Aha – und er kam dazu, als Sie's aufschrieben, und las es über Ihre Schulter weg«, fiel ihm Decker ins Wort. »Es war ein schlauer Fuchs, aber nicht schlau genug für mich. Ich habe ihn sofort im Verdacht gehabt. Jetzt hat er sich ertränkt – aber wo ist der Schmuck?«

»Nehmen Sie's mir nicht übel«, bemerkte Kapitän Fisher, »aber man hätte gleich heute früh das Boot durchsuchen müssen.«

»Wer konnte annehmen, der Kerl würde ins Wasser springen?« tobte Decker. »Jetzt wollen wir seine Kabine durchsuchen.«

Der Kapitän schüttelte skeptisch den Kopf.

»Ich fürchte, da wird nicht viel bei herauskommen. Das Vergnügen wird Ihnen Prather nicht gegönnt haben, den Schmuck wiederzufinden. Ich wette, der hat alles bei sich gehabt, wie er ins Wasser sprang. Wenn er schon selbst nichts davon hatte, wollte er sich gewiß rächen.«

Adam Decker wurde rot vor Wut – er begriff, daß Fisher wohl recht haben dürfte. Er hatte Ruth Vale voreilig versichert, daß er den Schmuck wieder beschaffen und den Dieb dingfest machen würde.

»Einerlei – die Kabine wird durchsucht. Es ist noch nicht gesagt, daß Sie recht haben.«

Barton Clark machte keinen Versuch, den beiden zu folgen. Er war so gut wie sicher, daß alle Nachforschungen vergeblich sein würden. Gewiß wäre die Beute in der Kabine, aber selbst der gerissene Decker würde sie im Geheimversteck des Koffers nicht finden.

»Natürlich hat Sanderson gewollt, daß ich den Schmuck kriegen soll; das ist ja selbstverständlich, jetzt, wo er verschwunden ist. Ich muß sehen, wie ich ihn an mich bringe. Sanderson hatte recht – es kommt zuletzt immer zum bitteren Ende. Ich gebe die Laufbahn auf. Und zwar jetzt, bevor ich vor die gleiche Entscheidung gestellt bin wie er heute nacht. Ja, ich geb's auf.«

Fast eine Stunde später – die Durchsuchung war inzwischen beendet – sah er kurz Fisher, der seine Kabine wieder aufsuchte.

»Erfolg gehabt, Kapitän?«

»Völlig erfolglos, wie ich erwartete. Wir haben alles auf den Kopf gestellt, das ganze Zeug von der Vale ruht auf dem Meeresgrund. Ich möcht' verdammt gern wissen, wieviel Millionen Dollar der alte Atlantik schon geschluckt hat – was? Ich glaub' eher Billionen.«

»Da haben Sie wohl recht, Kapitän. Decker wird sich grün ärgern.«

»So übellaunig hab' ich ihn noch nie gesehen. Mit der Fahrt wird's aus sein. Ich wette, Ruth Vale wird in Charleston an Land gehen und nach New York zurück wollen. Na, gute Nacht. Ich leg' mich wieder aufs Ohr.«

»Gute Nacht, Kapitän. Mir ist nicht nach Schlafen zumut. Scheußlich, zuzusehen, wie einer ins Wasser springt. Ertrinken ist doch ein furchtbarer Tod – und dann die Haifische –« Fisher ging davon, nur begierig, den unterbrochenen Schlaf wieder aufzunehmen.

Barton Clark wartete noch eine weitere Stunde, bevor er es wagte, die Kajütentreppe herunterzuschleichen. Die Tür zu Prathers Kabine war unverschlossen. Lautlos schlüpfte er herein, schloß hinter sich ab und machte Licht. Man konnte sehen, daß hier alles gründlich durchsucht und wüst durcheinandergebracht worden war. Der Koffer war geleert. Sein Geheimnis hatte er nicht verraten.

Es war ein Glück, daß Clark sich den Mechanismus des Verstecks von Sanderson genau hatte erklären lassen. Er fand sofort die Feder, ließ das Geheimfach aufspringen, und – ein leiser Schrei der Überraschung entfuhr ihm.

Kein Schmuck zu sehen. Das Geheimfach war leer – völlig leer. Was war geschehen? Es gab wohl nur eine Antwort: Sanderson hatte ihn mit sich genommen, die Juwelen waren fort. Hunderttausend Dollar wert, hatte Sanderson gesagt – selbst beim Verkauf an den Hehler. Und jetzt waren sie auf dem Meeresgrund, wie Kapitän Fisher schon vermutet. Clark war völlig fassungslos. Das Rätsel dieser Nacht würde sich ihm nie enthüllen.


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