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Erstes Kapitel

Barton Clarks erster Gedanke war der Revolver in der Schreibtischschublade. Das war der eine Ausweg – der schnellste und vielleicht der einzig sichere, um sich den Folgen des Leichtsinns zu entziehen. Er könnte ja auch Cudworth alles gestehen und um Nachsicht bitten. Aber er wußte im voraus, daß es nutzlos sei. Cudworth, schlau wie ein Fuchs und erbarmungslos wie ein Wolf, war zwar für seine Person ohne jede Skrupel, aber unerbittlich gegen die Schwächen anderer.

Er hätte sich auch wie ein Dieb, der er war, aus dem Staub machen können, aber diese Möglichkeit kam ihm seltsamerweise gar nicht in den Sinn. Er verließ den Kurstelegraphen, dessen Papierstreifen seine verkrampfte Hand zerrissen hatte, als er durch den hoffnungslosen Kurssturz von Atlantis Oil seine gestohlenen tausend Dollar im Abgrund verschwinden sah.

Voll Angst, anderen Angestellten könne seine Verwirrung auffallen, zog er sich eilig zurück in den Verschlag, wo sich sein Schreibtisch und das Schalterfenster befanden. Clark war Kassierer bei Cudworth & Co. Er riß die Schreibtischschublade auf und tastete unter den Papieren nach dem Revolver.

Er wußte selbst nicht, ob die Waffe geladen war; sein Vorgänger hatte sie zurückgelassen, und Clark untersuchte sie jetzt zum erstenmal. Seine Hand zitterte ein wenig, als er das Magazin prüfte. Ja, der Revolver war schußbereit mit sechs Kugeln. Eine genügte. Er ließ die Waffe in seine Tasche gleiten und flüchtete in den Waschraum. Da war ein Spiegel, um seiner Hand Sicherheit zu geben. Er wollte saubere und ganze Arbeit leisten.

Bis zu diesem Tag war Barton Clark ein ganz durchschnittlicher junger Mann gewesen, der ein Durchschnittsleben führte, automatisch die eintönigen Pflichten seines Berufs erfüllte und ein kleines Gehalt bezog, mit dem er knapp auskam – wie so viele andere in der Großstadt. Das bißchen Vergnügen, das er sich gönnen konnte, erschien ihm, wie das ganze Leben, unverhältnismäßig kostspielig. Er glich tausend anderen jungen Angestellten in New York und hätte nach der gleichen Schablone gemacht sein können wie die vielen, mit denen er sich mittags im Speisehaus drängte und gegen die er seine Ellbogen im täglichen Kampf um einen Sitzplatz in der Untergrundbahn gebrauchte.

Großstädte zerstören jede Eigenart. Die ständige Reibung gegeneinander schleift Menschen ab wie das Meer die Kiesel. Barton Clark war neunundzwanzig Jahre alt und seit drei Jahren Angestellter der Firma Cudworth & Co., einer kleinen Bank und Wechselstube, deren Geschäftsräume in einer winzigen Gasse dicht bei Wall-Street lagen. Bis heute hatte er ehrlich über jeden Penny abgerechnet, der durch seine Hände gegangen war.

Die verfluchten Schulden waren an allem schuld; eine ärgerliche Anhäufung kleiner Verpflichtungen: eine unbezahlte Schneiderrechnung, ein Pump von fünf Dollar hier, fünf Dollar dort. Und Benny Rosens Börsentip »absolut sicher« war ihm als leichter Ausweg erschienen, alle Schulden loszuwerden und noch etwas übrigzubehalten.

Benny Rosen hatte immer eine glückliche Hand gehabt. Der hatte seine drei- bis vierhundert Dollar Gewinn wöchentlich und rechnete todsicher mit Atlantis Oil. Dies Papier, das um siebzig herum schwankte, mußte nach Bennys Meinung auf pari klettern. Eine der großen Gesellschaften kämpfte um die Majorität. Durch den Kauf von hundert Aktien hatte Benny sein eigenes Vertrauen in die Sache bewiesen.

Aber nicht zum erstenmal war ein todsicherer Tip verkehrt. Benny selbst verlor zweitausend Dollar, und Clark die tausend, die er der Kasse von Cudworth & Co. entnommen hatte. Tausend Dollar waren kein großer Betrag, auch wenn man sie ohne Erlaubnis borgte, aber es war eine Riesensumme, wenn ein Mann in seinen Verhältnissen sie zurückzahlen sollte. Es war einfach unmöglich. Zumindest nicht ohne endlose Monate schlimmster Entbehrungen, in denen jeder Pfennig herumgedreht werden müßte. Und die Kassenkontrolle würde das Defizit sehr rasch bemerken – vielleicht in ein paar Stunden, längstens in ein paar Tagen. Was war er für ein Idiot gewesen, überhaupt nicht in Erwägung zu ziehen, daß der Kurs von Atlantis Oil ebensogut fallen wie steigen konnte! Er hatte das als Bankangestellter doch oft genug erlebt.

Der Waschraum war leer. Clark schloß die Tür hinter sich ab, stellte sich vor den Spiegel am Waschtisch und starrte höhnisch grinsend sein Ebenbild an.

»Du bist total verrückt gewesen«, sagte er, »und so mußt du nun dafür zahlen.«

Er zog den Revolver aus der Tasche, entsicherte ihn und preßte die Mündung an seine rechte Schläfe. Er zuckte nicht. Er war überrascht, sich so ruhig zu fühlen und kein Grauen über sein Vorhaben zu empfinden. Seine Hand zitterte nicht, und der Gedanke an den Tod ließ ihn ohne Schrecken.

Natürlich wurde er nicht gern zum Selbstmörder. Hätte er die letzten kurzen Stunden ungeschehen machen können, so wäre er viel lieber am Leben geblieben, aber er wollte immer noch lieber sterben als ins Gefängnis gehen. Was war das anders als lebendiger Tod?

»Jawohl«, sagte er zu seinem Spiegelbild, »du warst verrückt, und jetzt mußt du für deinen Leichtsinn zahlen. Diese tausend Dollar, von denen du keinen Cent ausgegeben hast, kosten dich dein Leben. Du bist schlimmer als ein Narr, und du bist nach New York gekommen, um anderen Leuten zu zeigen, wie man's gescheit anfangen muß. Du wolltest schnell ein Vermögen machen wie Maxwell Sanderson, ja, ein noch größeres als seins. Wenn du schon stiehlst, warum hast du dann nicht wenigstens was davon gehabt? Dummer Kindskopf du–«

Dies bittere Selbstgespräch verstummte, während die Revolvermündung langsam von der Schläfe herabglitt. Plötzlich tauchte Sandersons Bild vor ihm auf.

»Sanderson«, flüsterte er. »Da ist ja noch Sanderson – er könnte mir helfen. Ich hatte nicht an ihn gedacht. Sanderson hat Geld wie Heu. Ihm kommt's auf tausend Dollar nicht an. Sanderson könnte mich aus der Patsche ziehn. Es lohnt den Versuch. Ich will heut abend zu ihm gehen. Wenn er mich hinauswirft, ist's hierfür immer noch früh genug.«

Er sicherte den Revolver und steckte ihn wieder in die Tasche.


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