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Drittes Kapitel

Verzweiflung führt einen Menschen über sich selbst hinaus und weckt Eigenschaften im Guten wie im Bösen, von denen er selbst nicht gewußt, daß sie in seinem Inneren schlummerten. An diesem Abend war Barton Clark sich selbst völlig fremd; seine Gesichtszüge, sonst ziemlich ausdruckslos, waren verwandelt. Scharfe Linien, die ihm bisher gefehlt hatten, ließen erkennen, daß er nicht länger ein banaler Durchschnittsmensch war, der Durchschnittliches tat – sein Gesicht hatte deutlich spürbar persönliche Eigenart bekommen.

Seine Augen verrieten verhaltene Erregung, aber äußerlich erschien er ruhig. Seine Nerven waren gespannt, ohne zu vibrieren. Seine Ruhe überraschte ihn selbst, genau so, wie es ihn vorher überrascht hatte, daß er fähig gewesen, den Revolverlauf an seine Schläfe zu halten, entschlossen, ohne zu beben, im nächsten Augenblick den Hahn abzuziehn.

Sein Hirn arbeitete so klar und bestimmt, als wenn es sich darum gehandelt hätte, eine Zahlenreihe in seinem Büro zu addieren, nicht aber sein Diebswerkzeug auf Vollständigkeit zu prüfen: ein Glasschneider, eine kleine Rolle Isolierband, wie es die Elektriker brauchen, ein kräftiger, stumpfer Meißel, eine Mütze, die etwas zu groß war, damit man sie in die Stirn ziehen und mit dem Schirm das Gesicht beschatten konnte; ein Paar dünne seidene Handschuhe, ein kräftiges Stück Schnur für unvorhergesehene Zwischenfälle, und der gleiche Revolver, mit dem er sich noch vor wenigen Stunden ein Loch durch den Kopf schießen wollte.

Jetzt war jener Barton Clark, der sich in völliger Verzweiflung lieber umgebracht als der Verhaftung und dem Gefängnis ausgesetzt hätte, so tot, als ob er sich tatsächlich eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte. Er empfand nur unklar, daß sich in ihm ein merkwürdiges psychologisches Phänomen vollzogen hatte, aber seine Gedanken waren zu sehr mit dem genauen Durchdenken aller Einzelheiten seines nächtlichen Wagnisses beschäftigt, als daß er sich über diese Verwandlung hätte Rechenschaft geben können.

Clark bewohnte in einer billigen Gegend der Stadt ein kleines Zimmer im fünften Stock eines Mietshauses, das genau so ausschaute, wie man nach Preis und Lage erwarten konnte.

Das ist nun, Gott sei Dank, vorbei, dachte er mit einem Ausdruck des Ekels.

Er betrachtete die billige Weckuhr, die ihn drei Jahre lang an sechs Tagen jeder Woche mit ihrem lauten Rasseln geweckt hatte. Es war Viertel nach zwölf. Die Vorstellung, die Sanderson besuchte, hatte gerade begonnen. Clark hatte sein Unternehmen auf ein Uhr festgesetzt, aber Ungeduld trieb ihn, früher zu beginnen. Auf ein paar Minuten früher oder später konnte es nicht ankommen.

Er ging zum Fenster, dem einzigen des Raumes, das auf einen trüben, öden Hof hinaussah, und preßte sein Gesicht gegen die Scheibe. Es regnete noch immer, nicht mehr so stark wie vorhin, aber mit beharrlicher Beständigkeit. Es schien, als sollte alles und jedes sich zu seinen Gunsten fügen. Selbst das Wetter wurde heute nacht zum Bundesgenossen, stellte er mit leisem Lächeln fest.

›Ein Mann, der stiehlt, ist ein Verbrecher, und damit basta.‹ Sandersons Worte hatten sich tief in sein Bewußtsein eingegraben. Clark versuchte einen Augenblick, sich Rechenschaft über sich selbst abzulegen. Sonderbar, daß sein Gewissen sich nicht regte und er eher Eifer empfand als ein Gefühl des Widerstrebens.

Ob ich wohl immer schon im Herzen ein Dieb war? fragte er sich nachdenklich. Seltsam, ich kann die Sache unternehmen wie ein alter Fachmann. Also los, geschehen muß es – oder –

Er wandte sich vom Fenster, ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab und war eher ungeduldig als nervös. Dann schöpfte er tief Atem, zog seinen Mantel an und verteilte in den Taschen die verschiedenen Gegenstände, die er für sein verbrecherisches Abenteuer gekauft hatte. Auch die Mütze; ein Hut sah anständiger aus, und bei Leuten in Mützen denkt man schon gleich an Einbrecher.

Bevor er das Licht ausknipste, nahm er seinen Regenschirm. Ein Regenschirm verleiht immer ein respektableres Aussehen. Wer käme auf den Gedanken, daß ein Einbrecher mit einem Regenschirm loszieht?

Der Amateureinbrecher ging mit überflüssiger Vorsicht die Treppe hinunter, mit der unbewußt witternden Behutsamkeit von Leuten, die sich außerhalb des Gesetzes gestellt haben. Das schäbige Treppenhaus war dürftig erleuchtet. Auf dem zweiten Stock schreckte ein Mädchen auf, das ihrem Freund vor der Tür zur elterlichen Wohnung gute Nacht sagte. Clark lächelte schwach und ging ohne Aufenthalt weiter. Auf der Straße angekommen, spannte er seinen Regenschirm auf und schritt auf den Broadway zu.

Er hatte sechs Häuserblocks weit zu gehen bis zum Untergrundbahnhof, dem er, durch den dünnen Regen, an den verdunkelten Geschäften vorbei zueilte. Ein Taxichauffeur bot ihm im Vorbeifahren seinen leeren Wagen an. Clark nahm keine Notiz von ihm. Selbst wenn er gewollt, hätte er sich keine Taxi leisten können. Die Einkäufe all der Sachen hatten seine Börse fast völlig erschöpft. Morgen war Sonnabend und Gehaltszahlung; er kam gewöhnlich grade knapp bis zum Wochenende aus.

Um diese Stunde war der Untergrundbahnverkehr stark eingeschränkt, und er mußte ziemlich lange auf dem Bahnsteig warten, bis der Zug heranbrauste. Die Wagen waren fast leer, und Clark nahm einen Eckplatz gegenüber einem Mann, der ihm durch fortgesetztes Anstarren lästig wurde. Clark konnte nicht begreifen, wieso er Interesse erregte. Gerade als der forschende Blick des anderen ihm auf die Nerven zu gehen begann und ihn eine leise Furcht in Gedanken an die bevorstehende Aufgabe überkam, sauste der Zug an die Oberwelt; es war, als wolle er den Passagieren für einen Augenblick frischen Luftzug gönnen, bevor er wieder unter die Erde glitt. Sein Gegenüber stieg zu Clarks Erleichterung aus.

An der nächsten Station mußte er selbst heraus. Der Regen hatte die Menschen von den Straßen vertrieben und sein feuchter Dunst das Laternenlicht gedämpft. Die Wohnung Sandersons lag nur drei Häuserblocks entfernt in der Richtung nach dem Fluß. Plötzlich ließ ihn ein lauter Anruf haltmachen.

Der Ruf, der wie ein Befehl klang, mußte ihm gelten. Kein anderer Fußgänger war zu sehen. Die Stimme kam aus einem Torbogen rechts von ihm. Clark lief es kalt über den Rücken. Er bog den Schirm zur Seite, um besser sehen zu können, und erkannte deutlich den Mantel eines Schutzmannes und die Umrisse seiner Mütze.

Wenn der Beamte ihn durchsuchen würde? Waffentragen war verboten und strafbar. Er konnte verhaftet und zur Wache geführt werden. Der Waffenbesitz allein hätte das gerechtfertigt – das übrige Werkzeug kam noch hinzu, und er wäre erledigt, bevor er noch begonnen.

Seine Vernunft kam ihm zu Hilfe und verhinderte ihn, dem ersten Impuls nachzugeben und auszureißen. Das wäre natürlich das Dümmste gewesen, was er hätte tun können. Clark stand gerade in einem hellen Lichtkegel, aber der Schirm beschattete ihn und verbarg sein Gesicht, dessen Erregung er schnell zu beruhigen suchte.

»Sprechen Sie mit mir?« fragte er in forschem Ton.

»Haben Sie Feuer?« sagte der Polizist, der mit einer kalten Zigarre im Mund auf ihn zutrat.

Clark lachte mit einem Gefühl der Erleichterung auf.

»Ich glaube schon, und würde Ihnen auch gern eine Zigarre anbieten, wenn ich welche bei mir hätte.«

»Danke, Zigarren habe ich selbst genug, nur Streichhölzer brauch' ich. Es ist zwar gegen die Vorschrift, im Dienst zu rauchen, aber heut nacht braucht man so was, und mein Vorgesetzter ist Gott sei Dank ein vernünftiger Mann.«

Clark griff in seine Tasche, holte zwei Schachteln hervor, die er dem Schutzmann gab, und meinte in gemütlichem Ton: »Da haben Sie recht, und in solcher Nacht werden Sie wohl auch – gerade keine Vagabunden zu verhaften haben.«

Der Polizist lachte gutmütig, griff an seine Mütze und wünschte höflich gute Nacht.

Und ich fürchtete schon, er hätte es auf mich abgesehen, dachte Clark, als er schnell weiter ging. Eine einzige falsche Bewegung, und ich wäre schon mitten im Kreuzverhör drin. Da sieht man, wie man kaltes Blut bewahren muß, wenn man sich auf solche Geschichten einläßt. Wie mancher Kerl mag schon so geschnappt worden sein. Hätte ich versucht, auszureißen – das wäre der Anfang vom Ende gewesen! Mit Frechheit muß man's machen.

Einen Augenblick später erreichte er das Haus, in dem sich Sandersons Wohnung befand. Er hatte vorsorglich schon vorher festgestellt, daß man den Lift von der Straße her durch die Haustür beobachten konnte. Clark wußte, daß um diese Stunde das Telephonfräulein nach Hause gegangen war und die Liftbedienung zugleich das Telephon besorgte. Er war sich auch darüber klar, daß er nur ungesehen und ungefragt die oberen Stockwerke erreichen würde, wenn er zu Fuß die Treppen heraufging. Wenn der Lift unterwegs war, konnte er unbeobachtet hereinschlüpfen.

Wieder war das Glück ihm günstig. Eine Taxi hielt vor dem Gebäude und setzte zwei Hausbewohner ab. Sie eilten an ihm vorbei und traten durch das Glasportal ein. Der Lift würde sie gleich aufnehmen.

Clark wartete, bis er den Aufzug zwischen den Stockwerken verschwinden sah, und sauste ins Treppenhaus. Als er den ersten Stock erreicht hatte, hörte er das Anhalten des Lifts und das Zuschlagen der Metalltür. Der Lift kam wieder herunter.

»Glatt gemacht.«

Schnell stieg er die Treppe weiter hinauf, ohne auf dem Stockwerk, wo Sanderson wohnte, haltzumachen. Seine Absicht war, ein Stockwerk höher zu gehen, wo sich die Tür zum Dach befand. Wie er erwartet hatte, war diese Tür verschlossen. Jetzt trat das Werkzeug, das er besorgt, in Tätigkeit.

Er klemmte den Meißel zwischen Schloß und Türrahmen, und nach kurzer Arbeit war es geschafft. Die Tür ging auf. Bis jetzt war alles lächerlich einfach. Bevor er das Dach betrat, nahm er den Filzhut ab, steckte ihn in die Tasche und setzte die Mütze auf.

Clark war sich über die Lage von Sandersons Wohnung völlig klar und brauchte keine Zeit mit langen Untersuchungen zu verlieren. Die Front ging nach dem Fluß, und seitlich war die Wohnung durch einen Hof begrenzt, der auch als Luftschacht diente. An der Mauer befand sich die Feuertreppe, die durch eine eiserne Leiter mit dem Dach verbunden war.

Trotzdem er ganz leise ging, krachte das geteerte Dach unter seinem Gewicht; vielleicht weniger laut, als es seinen Ohren erschien, aber trotzdem laut genug, um die Sorge zu rechtfertigen, daß die Mieter unter ihm es hören könnten, falls sie zufällig wach wären. Wenn man ihn hörte und den Liftmann verständigte, daß jemand auf dem Dach sei, so konnte die Polizei alarmiert und die Situation für ihn gefährlich werden. Aber dies Risiko mußte er in Kauf nehmen.

Er hatte nur wenige Meter bis zur Feuertreppe, von der man zu den zahllosen Fenstern hinabschauen konnte. Alle waren dunkel, bis auf zwei, die zu einer Wohnung der unteren Stockwerke gehörten. In Sandersons Wohnung sah man kein Licht. Trotzdem hatte er mit der Möglichkeit gerechnet, daß Sanderson seine Absicht, die »Midnight Follies« zu besuchen, aufgegeben, und für diesen Fall ein besonders großes Taschentuch mitgebracht.

Das Haus war schon älter. Die Feuertreppe schwankte, eine lockere Stufe klapperte geräuschvoll. Clark dachte, daß der Lärm auch Menschen in tiefem Schlaf unbedingt aufschrecken müsse. Kalter Schweiß perlte ihm auf Stirn und Händen. Einen kurzen Augenblick machte er halt, hielt den Atem an und wartete gespannt, ob sich keins der Fenster neugierig öffnen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Es gab kein Zurück mehr. Je schneller er im Haus verschwinden würde, um so sicherer war er. Er stieg weiter abwärts, bis er das neunte Stockwerk erreichte. Der Regen troff durch die eiserne Treppe und klatschte leise gegen die Fensterscheibe vor ihm. Von hier aus mußte er in Sandersons Wohnung eindringen.

»Natürlich geschlossen«, murmelte er, bei dem Versuch zu öffnen.

Seine Nerven spannten sich an, und er zog den Glasschneider aus der Tasche. Der Diamant ritzte das Glas tief und schnell, fast genau in einem Kreis. Dann wischte er die Scheibe trocken, nahm zwei lange Streifen des Isolierbands, die er kreuzweise über den Schnitt klebte. Damit war vorgesorgt, daß das Glas beim Herausdrücken nicht geräuschvoll herunterfiele.

Ein erfahrener Einbrecher hätte die Arbeit nicht besser machen können. Er zog die Handschuhe an, band sich das Taschentuch unterhalb der Augen übers Gesicht und zog die Mütze in die Stirn. Dann schob er den Revolver in eine Außentasche und schlug mit der Faust kräftig gegen die Fensterscheibe. Ein sauberes, rundes Loch war entstanden, groß genug, die Hand durchzustecken und den Riegel zu öffnen. Im nächsten Augenblick war's geschehen: das Fenster öffnete sich fast ohne Geräusch, und er stieg über das Fensterbrett ein.

»Gemacht«, flüsterte er, und schloß das Fenster hinter sich. Einmal in der Wohnung, war sein bester Rückzug durch die Eingangstür, und er nahm sich vor, kaltblütig die Innentreppe zu benützen.

Jetzt befand sich Clark in der Küche. Da er keine elektrische Taschenlampe hatte, zündete er ein Streichholz an, fand so den Weg durch den Anrichteraum, durchs Speisezimmer und von da in die Bibliothek. Das Streichholz verbrannte ihm die Finger, bevor er den Lichtschalter gefunden hatte, und er entzündete ein neues. Dann knipste er, und der Raum war von gedämpftem Licht erhellt.

Fünftausend Dollar lagen für ihn bereit hinter dem Gobelin in dem unverschlossenen Safe. In seiner Aufregung, gleich das Geld in den Händen zu halten, stürzte er durch den Raum. Er schob den Wandteppich zur Seite, und seine Finger faßten den vernickelten Griff. Die runde Safetür glitt spielend auf.

Als er sich auf die Zehenspitzen stellte, um sich an dem Anblick der Geldscheine in den offenen Fächern zu weiden, entfuhr ihm ein dumpfer Laut: verzweifelt tastete er mit den Händen alles ab, als wolle er sich davon überzeugen, daß seine Augen ihn genarrt hätten. Da war nicht ein einziger Dollarschein zu finden – der Geldschrank war leer – völlig leer!


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