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Sechzehntes Kapitel

Es lief nicht alles ab, wie sich's Clark gedacht. Keine Aufregung an Bord der Jacht, keine Verhöre, keine Durchsuchungen oder Beschuldigungen der Passagiere oder Mannschaft. Adam Decker verblieb den Vormittag über in bedrohlichem Schweigen. Soweit Clark es beobachten konnte, geschah vorläufig überhaupt nichts.

Ruth Vale blieb niedergeschlagen und unsichtbar in ihrer Kabine. Die übrigen Gäste waren sehr still und betrachteten sich gegenseitig verlegen. Ein Dieb war an Bord. Wer konnte es sein? Irgendeiner!

Clark war sicher, daß Sanderson mit der allgemeinen Durchsuchung des Boots rechnete, ja sie sogar wünschte; man würde das Geheimversteck nicht entdecken und so keinen Verdacht auf ihn haben. Daß die Durchsuchung unterblieb, war sicher eine Enttäuschung für Sanderson.

Decker will wohl warten, bis wir Charleston angelaufen haben, überlegte Clark. Er wird's der Polizei dort überlassen wollen.

Aber Decker wartete nicht, bis »Glückliche Tage« in Charleston anlegte. Es zeigte sich, daß Decker sich den Fall überlegt hatte und der Wahrheit erschreckend nah gekommen war. Um elf Uhr betrat er die Funkstation.

»Sofort absenden«, befahl er und übergab Clark eine eilig geschriebene Depesche. Clark hatte Mühe, seine Erregung zu beherrschen, als er den Text überflog. Die Depesche war an Jerry Townsend gerichtet und lautete:

Ausführliche Auskunft über Ihren Ersatzmann Prather erbeten, falls tatsächlich von Ihnen geschickt. Erwarte Rückfunk umgehend. Adam Decker.

»Die Antwort ist mir sofort bei Eintreffen zuzustellen«, verlangte Decker. Er blieb in der Kabine und beobachtete Clark, der mit seiner Apparatur Verbindung mit der nächsten Küstenstation suchte, von der die Depesche auf dem Landweg weitergegeben werden mußte.

Wäre er nicht von Decker kontrolliert worden, so hätte Clark selbstverständlich das Telegramm einfach unterschlagen, aber dazu bot sich so keine Möglichkeit; ebenso war's ausgeschlossen, den Text zu ändern, da Decker sich auf den Code verstand.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis eine Küstenstation antwortete. Warum wollte sich Decker selbst davon überzeugen, daß die Depesche abging? War es Mißtrauen? Clark hoffte, daß nichts weiter dahinterstecke.

Decker hatte also nicht nur Verdacht auf Prather als Dieb, sondern schien auch zu bezweifeln, daß Jerry Townsend ihn überhaupt an Bord geschickt. Vielleicht hatte ihn das plötzliche Verschwinden des Einführungsbriefes mißtrauisch gemacht. Decker war schlau und tatkräftig. Aber schließlich war es ja auch naheliegend, daß Verdacht auf Prather fiel, den niemand von der ganzen Gesellschaft kannte.

Das war eine Wendung, die Sanderson bei aller Voraussicht nicht in Betracht gezogen hatte. Durchsuchungen hätte er lächelnd über sich ergehen lassen, aber mit der Nachprüfung seiner Beziehung zu Townsend hatte er nicht gerechnet, und das konnte verflucht schlecht enden. Aber es blieb Clark nichts anderes übrig, als die Depesche abzuschicken.

»Es dauert ein bißchen lange, Mr. Decker. Wenn Sie keine Lust haben, zu warten –«

»Ich habe Lust, zu warten. Ich möchte mich davon überzeugen, daß Sie damit durchkommen. Es ist eine besonders wichtige Depesche.«

Clark tickte unaufhörlich und sandte die Rufzeichen durch den Äther, bis sich endlich eine Küstenstation meldete zur Aufnahme und Weitergabe nach New York. Clark kam sich bei der Sendung wie ein Verräter vor. Mit jeder Silbe glaubte er Maxwell Sandersons Freiheit, vielleicht sein Leben, aufs Spiel zu setzen. Aber Decker stand hinter ihm und kontrollierte jedes Wort.

Es war geschehen. Das Radiogramm unterwegs nach New York. Decker entfernte sich befriedigt, kam aber nochmals zurück.

»Junger Mann – Clark war doch Ihr Name –, es ist besser, Sie halten hierüber den Mund.« Er zerriß den Telegrammtext in kleine Fetzen. »Braucht nicht herumzuliegen hier. Und daß Sie mich sofort verständigen, wenn Antwort kommt.«

»Selbstverständlich.« Wie Decker fort war, dachte Clark bei sich: Antwort soll er kriegen, aber nicht die Antwort, die wirklich kommt. Das ist das einzige, was ich für Sanderson noch tun kann; die Antwort abändern; sagen, daß mit Prather alles stimmt, daß er über jeden Verdacht erhaben ist. Das kann ein bißchen helfen. Aber jetzt muß ich versuchen, Sanderson zu verständigen.

Er überlegte kurz und schrieb dann in winziger Schrift den Text der an Townsend abgegangenen Depesche auf ein Stückchen Zigarettenpapier. Er brauchte das Original nicht, jede Silbe wußte er auswendig. Es schien ihm sicherer, Sanderson schriftlich zu warnen und nicht mündlich – aber der Zettel mußte Sanderson in einem unbeobachteten Augenblick zugesteckt werden.

Bevor Jerry Townsends Antwort an Bord eintraf, konnten zwei Stunden mindestens vergehen, wahrscheinlich mehr. Clark machte einen Rundgang an Deck, in der Hoffnung, Sanderson zu treffen. Er fand ihn in einem Liegestuhl ausgestreckt, zwischen einer Gruppe von Gästen. Sanderson hatte die scheußliche Pfeife zwischen den Zähnen, und man sprach über das einzig aktuelle Thema, den Juwelendiebstahl.

Decker trat an die Gruppe heran. »Ich sagte gerade, Mr. Decker«, berichtete Sanderson in vollkommener Ruhe, »es müßte doch so rasch wie möglich etwas geschehen. Die gegenwärtige Situation ist doch verteufelt ungemütlich. Jeder von uns kann der Juwelendieb sein. Wir sind sozusagen eine G. m. b. H. mit Verdacht auf Gegenseitigkeit. Ich bin der Meinung, daß alle ausnahmslos gründlich durchsucht werden sollten. Jedenfalls opfere ich meinerseits gern unter den gegebenen Umständen meinen Stolz.«

Mrs. Tomkinson stimmte leidenschaftlich zu. »Ich bin ganz der Meinung von Mr. Prather.«

Adam Decker nahm Platz und zündete sich eine Zigarre an. Sein Gesicht verriet nichts, während er Prather fixierte.

»Nein – ich möchte die Sache auf meine Weise erledigen. Aber das kann ich versichern: keiner von uns verläßt dies Boot, bevor nicht Miss Vale ihren Schmuck wiederhat.«

»Ich verstehe«, sagte Mrs. Tomkinson. »Sie wollen dem Dieb Gelegenheit geben, den Schmuck zurückzustellen, bevor Sie mit anderen Mitteln vorgehen.«

»Im Gegenteil. Es wird mir ein Vergnügen sein, den Verbrecher den Gerichten zu übergeben. Ich glaube bestimmt, daß der Raub schon vor der Ausfahrt von New York vorbereitet wurde. Jede Durchsuchung, die wir vornehmen könnten, wäre zwecklos. Der Dieb wird seine Vorsichtsmaßregeln getroffen haben.« Seine Augen ruhten noch auf Prather, der seine Pfeife wieder in Brand setzte, ohne die geringste Bewegung zu zeigen.

»Ja, denken Sie denn an einen Berufseinbrecher, Mr. Decker?«

»Ich bin davon überzeugt«, erklärte Decker, und die Blicke der beiden Männer kreuzten sich einen Augenblick. Jetzt mußte Sanderson wissen, in welcher Gefahr er war. Aber er beherrschte seine Erregung so vollkommen, daß er nur ein harmlos lächelndes, skeptisch vergnügtes Gesicht zeigte. »Das klingt ja riesig interessant«, meinte er zu Decker.

»Ja, die Sache verspricht außerordentlich interessant zu werden«, erwiderte dieser mit einem ironischen Unterton.

Barton Clark kehrte in seine Kabine zurück. Die Hoffnungslosigkeit der Situation überwältigte ihn; auch durch eine Fälschung von Townsends Antwort war Decker nicht mehr auf eine andere Spur zu bringen. Das Zigarettenpapier, zu einer kleinen Kugel geballt, trug Clark noch bei sich. Diese Warnung schien ihm jetzt nicht mehr sehr wichtig. Sanderson würde ohnedies wissen, was die Uhr geschlagen hatte.

Ich hatte ja geahnt, daß Decker ein verflucht gefährlicher Gegner ist. Ich hatte das bestimmte Gefühl – aber Sanderson wollte nichts davon wissen. Jetzt kommt's dick! In Charleston wird die Polizei an Bord sein, wenn er's drauf ankommen läßt. Er mußte an Sandersons Worte vom Abend vorher denken. »Lebendig sollen sie mich nicht kriegen. Im Verschluß meiner Füllfeder ist Gift versteckt. Höchstens daß ich in einer solchen Nacht vorziehen könnte –« und diese Worte waren von der entsprechenden Geste begleitet.

Clark saß über seinem Arbeitstisch im Funkraum gebeugt, den Kopf in die Hände gestützt.

Er hatte recht – Sanderson hatte ganz recht. Das war immer das Ende, das bittere Ende. Und jetzt war's soweit. Trübsinnig dachte er über einen Ausweg nach. Ob nicht für ihn irgendeine Möglichkeit bestehe, helfend einzugreifen. Adam Deckers Argwohn wurzelte zu tief, als daß man ihn ohne weiteres hätte zerstreuen können. Selbst die Wiederherbeischaffung der Juwelen würde ihn nicht von seinem Entschluß abbringen, den Dieb den Gerichten zu übergeben. Und auch ein Telegramm, das Prathers Persönlichkeit als einwandfrei bezeichnete, konnte kaum helfen. Decker würde Jerry Townsends Auskunft für unmaßgeblich halten und sich darüber klar sein, wie leicht Townsend in der Betrunkenheit zu düpieren war. Clark sah nicht den geringsten Ausweg, um Sanderson vor der Polizei in Charleston zu retten, wenn dieser es soweit kommen ließe.

Die Zeit verging, und Clark mußte damit rechnen, daß Decker in der Funkstation erschiene. So ging er an seine Apparate, und gleich darauf trat Decker bei ihm ein.

»Noch nichts?«

»Noch nicht. Aber wir werden wohl bald Antwort haben. Sie werden sofort verständigt.«

Der ganze Nachmittag verging, ohne daß Clark eine Radionachricht erhielt. Die Witterung war für guten Empfang denkbar ungünstig. Der Nebel, der sich tagsüber gelichtet, nahm gegen Abend wieder zu. Noch mehrmals fragte Decker selbst im Funkraum nach, zuletzt gegen Mitternacht.

»Ich gehe jetzt schlafen. Wenn der Funkspruch kommt, wünsche ich, geweckt zu werden, gleichviel um wieviel Uhr. Halten Sie dicht – und Sie werden ein anständiges Trinkgeld kriegen.«

»Sie können auf meine Diskretion rechnen«, versicherte Clark. Aber er dachte sich's anders. Die Nachricht, die Decker erhalten sollte, würde nicht mit dem Radiogrammtext identisch sein.

Gegen ein Uhr endlich kam das Rufzeichen für »Glückliche Tage«. Er gab Antwort und nahm die Depesche auf:

Prather völlig unbekannt. Ist unverschämter Hochstapler. Wurde gewaltsam an Mitreise verhindert. Sofort verhaften lassen. Anklage wegen Freiheitsberaubung erheben.

Townsend.

Clark schrieb kein Wort davon auf. Statt dessen begann er ein fingiertes Telegramm zu verfassen, dessen Text jeden Argwohn von Prather ablenken oder doch zumindest ihm Zeit lassen sollte, von der Jacht zu entweichen. Er hatte schon zwei verschiedene Texte entworfen und einen dritten begonnen, als er leise seinen Namen vom Deck aus rufen hörte.

Es war Sanderson, dessen Gestalt in der Dunkelheit und den Nebelschwaden grotesk und überlebensgroß erschien. Clark konnte weder sein Gesicht noch sonst etwas unterscheiden – aber er wußte, daß es Sanderson war.

»Gott sei Dank – Sie sind's. Ich muß Sie sprechen, wagte aber nicht, mich Ihnen zu nähern. Decker ist im Bild! Hätten Sie doch auf mich gehört!«

Sanderson unterbrach ihn leise und dringlich. »Zu spät, keine Leichenreden. Man kann nichts mehr ungeschehen machen. Ich weiß, daß Decker im Bild ist. Jedes Wort, jeder Blick von ihm waren mir Beweis genug. Ich hab' sein Ein und Aus in der Radiostation beobachtet. Hat er meinetwegen gefunkt?«

»Ja, er depeschierte an Townsend.«

»Wie ich erwartete.«

»Antwort traf eben ein.« Er wiederholte den Text aus dem Gedächtnis wörtlich. »Aber den Text bekommt Decker nicht, war eben dabei, einen anderen zu fabrizieren.«

»Natürlich – damit habe ich gerechnet. Ich komme, um Sie daran zu hindern.«

»Zu hindern? Aber es ist doch das einzige Mittel, Sie in Charleston vor der Verhaftung zu schützen.«

»Nein, Barton, lassen Sie das. Händigen Sie Decker das richtige Telegramm aus. Decker würde doch bald die Wahrheit erfahren, und wenn Sie das Telegramm fälschen, wären Sie als Komplice entlarvt. Decker würde Sie aufspüren, und es hat gar keinen Wert, dies Risiko zu laufen – mir nützt es nichts.«

»Aber wenn Townsends Antwort –«

»Nein, Decker würde immer glauben, daß Townsend selbst hereingefallen ist. Nichts wird den Mann abhalten, mich verhaften zu lassen. Sie wissen, was das bedeutet. Bei einer Leibesvisitation wird meine Maske entdeckt. Ich sagte Ihnen gestern abend, was ich in dieser Situation tun würde – und ich pflege mein Wort zu halten.«

»Nein«, rief Clark in verzweifelter Erregung, »es muß einen Ausweg geben.«

»Wenn Sie einen wissen, wird er mir willkommen sein.«

»Ich weiß keinen. Aber Sie selbst wissen doch immer –«

»Es gibt nur einen Weg, Barton, und ich bin entschlossen, ihn zu gehen.«

Clark versuchte Sanderson am Arm zu halten, aber der entschlüpfte ihm rasch und eilte am Deck entlang. Ein leise geflüstertes »Adieu, mein Lieber« drang gespenstisch durch den Nebel – er sprang über die Reling. Eine Sekunde schien es, als ob sein Körper in der Luft schwebe – Clark entfuhr ein Schreckensschrei – und der andere verschwand in der dunklen Flut.

Wie erstarrt versuchte Clark mit seinen Blicken das Dunkel zu durchdringen, aber es war umsonst. In so dichtem Nebel konnte man selbst bei Tag kaum die Hand vor Augen sehen. Der Seegang war so stark, daß man nicht einmal das Aufklatschen des Körpers im Wasser hatte hören können. Die Jacht dampfte mit halber Geschwindigkeit weiter und ließ hinter sich einen Mann im verzweifelten Kampf mit den Wogen zurück – schwimmen konnte er nicht, aber aus Selbsterhaltungstrieb würde er sich über Wasser zu halten suchen.

Es war Barton Clark, als ob er selbst ertrinken sollte. Er tappte sich im Dunkel zurück und blieb mit dem Fuß in einem Mantel hängen, den er als Sandersons Eigentum erkannte.

Sandersons Schicksal hatte sich erfüllt. Er hatte lieber sterben wollen, als entdeckt, entlarvt, entehrt zu werden.

Man kann ihn doch nicht einfach ertrinken lassen, man muß doch versuchen, ihn zu retten, dachte Clark. Und wenn's auch sein Wille so war, ich muß was unternehmen. Er rief so laut er konnte den Alarmruf übers Schiff: »Mann über Bord.« Aber im Grund wußte er, daß Nacht und Nebel keine Hoffnung auf Rettung ließen.


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