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Achtundsechzigstes Kapitel.

Als ich jenen Abend damit beschäftigt war, die Bücher und Manuskripte zu sammeln, die ich mitnehmen wollte – darunter auch mein lange bei Seite gelegtes physiologisches Werk und diejenigen Schriftsteller, welche ich für die noch nicht beendigten Partieen zu Rath ziehen konnte – trat mein Diener ein, um mir in Folge der ihm aufgegebenen Anfrage die Meldung zu machen, daß Fräulein Brabazon vor einer Stunde im Frieden entschlafen sei. Vielleicht hatte meine Verzeihung ihre letzten Augenblicke beruhigt; aber leider machte ihre Sterbebett-Reue das begangene Unrecht nicht wieder gut.

Ich schlug mir diesen Gedanken aus dem Sinn und erinnerte mich, während ich das Werk durchblätterte, in welchem ich alle meine Gelehrsamkeit kunstgerecht systematisch niedergelegt hatte, des Mitleids der Frau Poyntz über das beabsichtigte Brachliegenlassen meines Geistes. Der Ton der Ueberlegenheit, welchen diese mit einer nicht gewöhnlichen Willenskraft begabte Verkörperung des gemeinen Weltverstands gegen Alles anzunehmen pflegte, was zu hoch oder zu tief für ihre Fassungskraft lag, hatte mich sonst belustigt; jetzt aber fühlte ich mich dadurch geärgert. »Im Grund nehme ich doch einen Trost mit mir,« sagte ich zu mir selbst, »wie ihn geistige Beschäftigung zu bieten vermag. Es bleibt mir Muße, diese Arbeit zu vollenden, und die Nachwelt wird wissen, daß ich gedacht und gelebt habe, nachdem die Auszeichnungen, welche ein Ashleigh Sumner seinem weltlichen Ehrgeiz verdankt, längst vergessen sind.« Während ich dies vor mich hinmurmelte und dabei mechanisch die Bücher auslas, deren ich bedurfte, fiel mir auch die Bibel, Julius Fabers Geschenk, in die Hand.

Ich öffnete sie bei dem zweiten Buch Esdrä, das unsere Kirche den Apogryphen beizählt, weil die Gelehrten der Ansicht sind, daß es aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung stamme, Dies ist die Ansicht von Jahn. Doktor Lee aber hält den Verfasser für einen Zeitgenossen, wo nicht gar für identisch mit dem Verfasser des Buches Enoch. obschon darin die Fragen, welche der Mensch schon in den entferntesten Zeiten über »die Wege des Höchsten« gestellt hat, mit einer Größe des Gedankens und einer Erhabenheit des Ausdrucks behandelt sind, wie man nichts Aehnliches in den sogenannten Profanschriftstellern findet.

Mein Auge fiel auf die Stelle, in welcher der Engel Uriel den durch seinen Wissensdrang verwirrten Propheten zurechtweist.

»Er (der Engel) antwortete mir und sagte, ich ging in einen Wald auf einer Ebene, und die Bäume hielten Rath,

Und sie sagten, kommt, wir wollen gehen und Krieg anfangen mit dem Meer, damit es vor uns zurückweiche und wir als Wald uns weiter ausdehnen können.

Die Fluthen des Meeres beriethen sich in gleicher Weise und sagten, kommt, wir wollen gehen und uns den Wald der Ebene unterwerfen, damit wir ein weiteres Gebiet erhalten.

Der Gedanke des Walds war eitel; denn das Feuer kam und verzehrte ihn.

Und auch der Gedanke der Meeresfluthen war eitel; denn der Sand erhob sich und that ihnen Einhalt.

Wenn du nun Richter wärest zwischen diesen beiden, welchem würdest du Recht geben, oder welchen würdest du verdammen?

Ich antwortete und sagte: wahrhaftig, es ist ein thörichter Gedanke, daß sie Streit anfangen wollten; denn der Boden ist dem Wald gegeben, und auch das Meer hat seinen Platz, um seine Wellen darauf zu bewegen.

Dann antwortete er mir und sagte: Du hast recht geurtheilt, aber warum richtest du nicht ebenso über dich selbst?

Denn wie der Boden gegeben ist dem Wald und der Meeresgrund den Fluthen, eben so können diejenigen, die auf Erden weilen, nur das begreifen, was auf Erden ist, und Derjenige, der über den Himmeln wohnt, achtet vielleicht nur auf die Dinge, die über die Höhe der Himmel reichen.«

Ich hielt bei diesen Worten inne, schloß das heilige Buch und vertiefte mich in unruhige Gedanken.


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