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Vierundsechzigstes Kapitel.

Lilian wurde selbst während der Nacht ihres Geistes nicht von der wunderbaren Sanftmuth ihres Wesens verlassen. Sie war gewöhnlich ruhig und sehr still; wenn sie sprach, so beschäftigte sie sich selten mit irdischen Dingen, mit bekannten Zügen aus der Vergangenheit oder mit Gegenständen, die man begreifen konnte. Ihre Gedanken schienen die Erde verlassen zu haben und in irgend einem eingebildeten Himmel Zuflucht zu suchen. Sie redete von Wanderungen mit ihrem Vater, als ob er noch lebe, und schien nicht fassen zu können, welchen Begriff wir mit dem Wort »Tod« verbinden. Stundenlang saß sie da und murmelte vor sich hin, und wenn man hin und wieder etwas davon verstand, so gewann es den Anschein, als verkehre sie mit unsichtbaren Geistern. Wir hielten es für grausam, sie zu solchen Zeiten zu stören; denn wenn man sie gewähren ließ, so war ihr Gesicht heiter, heiterer und schöner, als ich sie je in unseren glücklichsten Stunden gesehen; rief man sie aber in die Trümmer ihres wirklichen Lebens zurück, so wurde ihr Auge unruhig, ängstlich, und sie seufzte – oh, so schwer! Zuweilen, wenn wir uns anstellten, als achteten wir nicht auf sie, konnte sie stille ihren Zeichenstift aufnehmen oder sich ans Klavier setzen. Auch hier zeigte sie dann wieder ihre schöne künstlerische Ausbildung, aber ihre Zeichnungen waren sonderbar und phantastisch und hatten Aehnlichkeit mit denen, welche der Maler Blake, selbst ein Visionär, den Gedichten »Nachtgedanken« und »das Grab« als Illustrationen beigegeben hat. Gesichter von ungemeiner Lieblichkeit, Gestalten mit ätherischer Anmuth, die aus Blumenkelchen hervorkamen oder in den Strahlen von Fontänen schwebten, während die Umrisse mit dem Springquell selbst oder mit der Blüte verschmolzen. Ebenso verhielt sich's mit ihrer Musik; ihre Mutter konnte die Weisen nicht erkennen, die sie zeitweilig so süß und mit einem so unaussprechlichen Pathos spielte, daß man ihr kaum zuhören konnte, ohne zu weinen. Dann kam aber oft unwillkührlich und plötzlich ein so schreiender Mißklang dazwischen, daß sie erschrocken inne hielt und unruhig umherschaute.

Und noch immer erkannte sie weder in Frau Ashleigh ihre Mutter, noch in mir ihren Gatten, obschon sie allmählig gelernt hatte, uns von anderen zu unterscheiden. Ihrer Mutter gab sie keinen Namen; sie schien sich zu freuen, wenn sie sie sah, vermißte sie aber auch nicht, wenn sie weg war. Mich nannte sie ihren Bruder, und wenn ich länger als gewöhnlich ausblieb, so sah sie sich nach mir um. Kam ich nach den Anstrengungen des Tages nach Haus und zu ihr, so heiterte sich, auch wenn sie nicht sprach, ihr holdes Gesicht auf. Sang sie, so winkte sie mir in ihre Nähe und sah mich fest an, stets mit zärtlichem, oft auch mit thränenfeuchtem Auge. Wenn sie zeichnete, so konnte sie inne halten und zurückschauen, als wolle sie sich überzeugen, daß ich ihr zusehe; auch deutete sie oft mit einem Lächeln von eigenthümlicher Bedeutsamkeit auf ihre Zeichnung, als enthalte sie in irgend einer verborgenen Allegorie Botschaften an mich – so erklärte ich mir wenigstens ihr Lächeln, und ich pflegte dann darauf zu erwiedern: »Ja, Lilian, ich verstehe!«

Und mehr als einmal, wenn ich ihr so antwortete, stand sie auf und küßte mich auf die Stirne. Ich meinte, das Herz müsse mir brechen, wenn ich diesen geisterartigen, melancholischen Kuß fühlte.

Und doch, wie wunderbar weiß der menschliche Geist auch aus dem Kummer Trost zu schöpfen. Die Stunden, die ich in ihrem Zimmer damit verbrachte, daß ich eine Art Verkehr mit ihr herzustellen und Zeichen zu erfinden suchte, welche als Dolmetscher dienen sollten zwischen dem von mir so sorgfältig gepflegten, so anmaßend hochgestellten Verstand und den im Dunkeln umherirrenden Phantasieen einer der Vernunftleuchte entbehrenden Seele, waren bei weitem nicht die elendesten. Es lag sogar eine Art von Glück in dem Bewußtsein, daß ich ihr als Beschützer nothwendig war, an den irgend ein unerschütterter Instinkt ihres Herzens mit Innigkeit sich anklammerte; und wenn ich mich Nachts von ihr verabschiedete, erstahl ich mir hin und wieder den Moment, in welchem ihr sanftes Antlitz am wenigsten umschattet schien, zu der zitternd geflüsterten Frage: »Lilian, wachen die Engel über dir?« Darauf pflegte sie bisweilen in Worten, bisweilen mit einem geheimnißvollen glücklichen Lächeln bejahend zu antworten, und ich ging dann getröstet und dankbar nach meinem einsamen Zimmer.


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