Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Für den rechten Arzt ist das Krankenzimmer ein Heiligthum. An seiner Schwelle weichen alle mehr menschlichen Leidenschaften aus seinem Herzen, und die Liebe würde hier eine Entweihung sein. Selbst der Gram, der Anderen gestattet ist, muß zurücktreten. Nichts hat hier Zutritt, als – der ruhige Verstand. Wer den scharfen, ruhigen Blick der Wissenschaft sich trüben läßt, ist für seinen Beruf verdorben. Alter oder Jugend, Schönheit oder Mißgestalt, Unschuld oder Laster vermischen ihre Unterschiede in der einen gemeinschaftlichen Eigenschaft – dem menschlichen Leiden, das sich um menschliche Hülfe umsieht.

Wehe dem Haushalt, welcher sein Vertrauen einem Arzt schenkt, dem die Obliegenheiten seiner glorreichen Kunst nicht eine heilige Gewissenssache sind! Ehrfurchtsvoll wie in einem Tempel stand ich in dem Gemach der Jungfrau. Als die Mutter ihre Hand in die meinige legte und ich ihren Puls fühlte, bemerkte ich kein rascheres Klopfen meines eigenen Herzens. Festen Blicks betrachtete ich ihr Antlitz, das sich um so schöner ausnahm in der Glut, welche die zarte Farbe ihrer jugendlichen Wange vertiefte, und in dem Glanz, welcher aus den unsteten dunkelblauen Augen leuchtete. Sie achtete anfangs nicht auf mich und schien mich gar nicht zu bemerken, sondern murmelte Worte vor sich hin, die ich nicht verstehen konnte.

Als ich sie endlich in dem gedämpften, beruhigenden Ton, welchen der Arzt am Krankenbett lernt, anredete, veränderte sich plötzlich der Ausdruck ihres Gesichtes; sie fuhr mit der nicht von meinem untersuchenden Finger festgehaltenen Hand über die Stirne, wandte sich um und sah mich lang und in unverkennbarer Ueberraschung an, die indeß keine unangenehme zu sein schien; sie wußte nämlich nichts von der Scheu, mit der man einen Fremden zu empfangen pflegt, sondern nahm sich eher wie das den Sinnen nicht trauende Staunen aus, wenn man einem unerwarteten Freund begegnet. Zugleich schien sich eine gewisse Besorgniß, eine Art Furcht darein zu mischen; – ihre Hand zitterte und ihre Stimme bebte, als sie sagte:

»Ist es möglich – ist es wirklich möglich? Wache ich? Wer ist dies, Mutter?«

»Nur ein freundlicher Besuch, der Doktor Fenwick, den uns Frau Poyntz geschickt hat; denn ich bin um Deinetwillen unruhig gewesen, mein Herz. Wie ist es Dir jetzt?«

»Besser. Wunderbar besser.«

Sie nahm ihre Hand sanft aus der meinigen zurück und wandte sich mit unwillkührlicher bescheidener Scheu gegen ihre Mutter, die sie zu sich herzog, so daß mir ihre Gestalt verborgen wurde.

Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß kein Delirium, sondern höchstens die leichte vorübergehende fieberige Aufregung vorhanden war, welche bei sehr sensiblen Constitutionen oft einen plötzlichen nervösen Anfall begleitet, verließ ich leise das Zimmer, kehrte aber nicht in das zurück, in welchem Doktor Lloyd gestorben war, sondern ging nach dem unteren Besuchzimmer hinunter, um daselbst etwas aufzuschreiben. Der Bediente war bereits mit dem Recept in die Apotheke abgegangen, als Frau Ashleigh mir nachkam.

»Sie scheint sich zum Wunder schnell wieder zu erholen; ihre Stirne fühlt sich ganz kühl an, und sie ist wieder bei vollem Bewußtsein. Doch weiß sie keine Auskunft zu geben über ihren Anfall und kann sich weder die Ohnmacht, noch die Aufregung erklären, mit der sie aus ihrem Schlaf erwachte.«

»Die Erklärung von beidem dürfte nahe genug liegen. In dem Zimmer, das sie zuerst betrat und in dem sie ohnmächtig wurde, stand das Fenster offen, und die Seiten desselben sind mit Kletterpflanzen überkleidet, die in voller Blüte stehen. Fräulein Ashleigh hat dadurch, daß sie müde und aufgeregt längere Zeit sich dem starken Abendthau aussetzte, die Disposition, auf solche Ausdünstungen anzusprechen, gesteigert. Der Schlaf, in welchen sie nach der Ohnmachtanwandlung verfiel, konnte nicht der einer natürlichen Ruhe sein, weil die Natur, die bei so jungen Personen besonders thätig ist, bemüht war, den störenden Einfluß wieder auszugleichen – ein Bestreben, das ihr auch nahezu gelungen ist. Was von mir verordnet wurde, ist bestimmt, das, was die Natur noch zu thun hat, ein wenig zu unterstützen und zu beschleunigen, so daß Ihre Tochter ohne Zweifel in ein paar Tagen vollkommen wieder hergestellt sein wird. Ich empfehle nur noch, ihr ans Herz zu legen, daß sie sich sorgfältig vor der feuchten Abendluft im Freien in Acht nehme und auch das Zimmer, in welchem sie den Anfall erlitt, meide; denn man hat häufig bemerkt, daß sich bei nervösen Constitutionen ohne erkennbare Ursache nervöse Anwandlungen gerne an dem Platz wiederholen, wo die erste stattgefunden hat. Sie thäten wohl am besten, dieses Gemach, wenigstens für einige Wochen, ganz zu schließen, Wachholderholz darin zu verbrennen, es frisch tünchen und tapezieren zu lassen, und Chlorräucherungen darin vorzunehmen. Sie wissen vielleicht nicht, daß Doktor Lloyd nach längerer Krankheit darin gestorben ist. Erlauben Sie mir, zu warten, bis Ihr Diener mit der Arznei zurückkommt, und gestatten Sie mir in der Zwischenzeit einige Fragen. Sie sagen, Fräulein Ashleigh habe nie zuvor einen Ohnmachtanfall gehabt. Ich sehe wohl, sie ist nicht, was man eine kräftige Natur nennt; aber hat sie nie an einer Krankheit gelitten, welche Sie beunruhigte?«

»Nie.«

»Ist sie nicht öfterem Schnupfen oder Husten, Affektionen der Brust oder der Lungen ausgesetzt?«

»Gewiß nicht. Gleichwohl habe ich gefürchtet, sie möchte eine Anlage zur Schwindsucht haben. Sind Sie auch dieser Meinung? Ihre Fragen erschrecken mich.«

»Ich glaube nicht, daß es so weit ist; aber eh' ich ein bestimmtes Gutachten abgebe, muß ich noch eine weitere Frage stellen. Sie sagen, Sie befürchten eine Anlage zur Schwindsucht. Ist diese Krankheit in Ihrer Familie öfters vorgekommen? Sie kann natürlich kein Erbstück von Ihnen sein – aber vielleicht vom Vater her?«

»Ihr Vater starb jung,« versetzte Frau Ashleigh mit bewegter Stimme, »aber an einer Gehirnkrankheit, welche, wie die Aerzte sagen, vom zu vielen Studiren herrührte.«

»Genug, meine liebe Frau. Was Sie sagen, bekräftigt mich in dem Glauben, daß die Constitution ihrer Tochter gerade das Gegentheil von derjenigen ist, in welcher die Keime der Schwindsucht zu schlummern pflegen. Ihre Körperbeschaffenheit scheint mir von jener edleren Art zu sein, die um ihrer nervösen Empfänglichkeit willen wohl zart, aber auch schwunghaft ist und sich eben so schnell wieder erholt, als sie leicht einer Störung ausgesetzt ist.«

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen für diesen Trost, Doktor Fenwick. Sie nehmen mir eine Last vom Herzen. Denn ich weiß, Herr Vigors hält Lilian für schwindsüchtig, und auch Frau Poyntz hat mich hin und wieder durch Winke in derselben Richtung erschreckt. Was Sie von nervöser Empfänglichkeit sagen, verstehe ich freilich nicht ganz. Meine Tochter ist nicht, was man gewöhnlich nervös nennt. Sie hat ein merkwürdig ruhiges Temperament.«

»Wenn sie auch nicht leicht erregbar ist, sollte sie um deßwillen für Eindrücke unzugänglich sein? Dinge, die vielleicht ihr Temperament unbehelligt lassen, können doch möglicherweise drückend auf ihr Gemüth wirken. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich genug ausdrücke.«

»Ja, ich denke, ich verstehe den Unterschied, den Sie machen; aber ich weiß nicht, ob er hieher paßt. Für die meisten Dinge, die auf das Gemüth wirken, ist sie nicht empfänglicher, als andere Mädchen, vielleicht sogar weniger. Doch gibt es einige Dinge, die einen großen Eindruck auf sie machen.«

»Die wären?«

»Sie wird mehr als irgend eine andere mir bekannte Person bewegt von Gegenständen aus der äußeren Natur, von einer schönen Landschaft, von ländlichen Klängen, von Musik und von den Büchern, die sie liest, selbst wenn es keine dichterische Werke sind. Sie artet vielleicht in allen diesen Stücken ihrem armen Vater nach, nur in einer noch ausgeprägteren Weise – wenigstens fällt es mir an ihr mehr auf; denn er war sehr schweigsam und zurückhaltend. Wohl möglich, daß diese Eigenthümlichkeiten Nahrung gefunden haben in der Abgeschiedenheit, in der sie erzogen wurde. Hauptsächlich in der Absicht, sie mehr anderen Mädchen ihres Alters ähnlich zu machen, bewog mich meine Freundin, Frau Poyntz, hieher zu kommen. Lilian ging bereitwillig auf diesen Wechsel ein; aber vor dem Gedanken an London schrack sie zurück, obschon mir dieser Platz lieber gewesen wäre. Auch ihr armer Vater konnte London nicht ausstehen.«

»Fräulein Ashleigh ist also eine große Freundin vom Lesen?«

»Ja, aber noch mehr vom Brüten. Sie kann stundenlang ohne Buch oder Arbeit allein dasitzen und hat dann das Aussehen einer Träumenden. So war sie von früher Kindheit an. Sie pflegte mir dann zu erzählen, was sie vor sich heraufbeschworen hatte. Sie konnte sagen, sie habe allerlei gesehen – entschieden gesehen – zum Beispiel herrliche Landschaften, die weit von der Erde ablagen, Blumen und Bäume, welche nicht waren, wie die unsrigen. Als sie älter wurde, mißfiel mir dieses träumerische Gerede; ich schalt sie und erklärte ihr, wenn Andere sie so sprechen hörten, würde man sie nicht bloß für eine Närrin, sondern auch für eine Lügnerin halten. Sie hat es deßhalb in den letzten Jahren nicht mehr gewagt, mir zu erzählen, was ihr in solchen träumerischen Momenten ihre Einbildungskraft vorführt; aber das Brüten selbst macht gleichwohl fort. Theilen Sie wohl die Ansicht der Frau Poyntz, welche meint, dieses Wesen werde sich im Umgang mit heiteren jungen Leuten verlieren?«

»Gewiß,« versetzte ich ehrlich, obschon mir dabei ein Stich der Eifersucht durch die Seele ging. »Doch da kömmt die Arznei. Wollen Sie ihr dieselbe hinaufbringen und eine halbe Stunde oder so an ihrer Seite bleiben? Ich denke, daß sie binnen dieser Frist einschlafen wird, und will daher hier warten, bis Sie zurückkommen. O, ich kann mich mit den Zeitungen oder mit den Büchern auf Ihrem Tisch unterhalten. Noch eine Vorsicht! Lassen Sie keine Blumen in Fräulein Ashleighs Schlafzimmer. Ich glaube, ich habe einen heimtückischen Rosenstock am Fenster stehen sehen. Wenn dies der Fall ist, so verbannen Sie ihn.«

Als ich allein war, sah ich mich in dem Zimmer um, in welchem ich – o der Freude! – mich jetzt als einen berechtigten Gast betrachten konnte. Ich berührte die Bücher, die Lilian in der Hand gehabt haben mußte, und in den Möbeln, deren hastige Anordnung noch nicht das Aussehen einer wohnlichen Heimath trug, erblickte ich jedenfalls Gegenstände, die ihr Geist mit der Geschichte ihres jungen Lebens in Verbindung zu bringen gewöhnt war. Die Harfe – sie mußte die ihrige sein – eben so die Schärpe mit den bei den Mädchen so beliebten Farben, rein weiß und blaß blau – das Vogelkäficht und das elfenbeinerne Arbeitetui mit seinen Geräthschaften, die zu zierlich waren für den Gebrauch – Alles erzählte mir von ihr.

Es war ein seliges, berauschendes Träumen, aus dem ich durch die Rückkehr der Frau Ashleigh geweckt wurde.

Lilian schlief ruhig. Ich hatte keinen Vorwand, länger zu verweilen.

»Ich verlasse Sie hoffentlich vollkommen beruhigt,« sagte ich. »Sie werden mir erlauben, morgen Nachmittag wieder vorzusprechen?«

»O ja; ich werde Ihnen dankbar sein.«

Frau Ashleigh streckte ihre Hand aus, während ich mich der Thüre näherte.

Gibt es wohl einen Arzt, der nicht zuweilen gefühlt hätte, wie das ceremoniöse Honorar ihn hinaus wirft aus dem Garten reiner Menschenliebe auf den gemeinen Geldmarkt – ihn auszuschließen scheint aus dem Bann gleicher Freundschaft und ihm zuruft: »Ja, ich verdanke Dir Gesundheit und Leben. Gott befohlen. Da, Sie sind bezahlt.« Bei einer armen Person wäre ich nicht in Verlegenheit gekommen; aber Frau Ashleigh war wohlhabend, und ein Abweichen von dem gewöhnlichen Brauch wäre eine Ungebühr gewesen. Aber selbst wenn die Ablehnung die Verurtheilung, Lilian nie wieder zu sehen, zur Folge gehabt hätte, so hätte ich doch das Gold ihrer Mutter nicht annehmen können. Ich that daher, als bemerke ich die ausgestreckte Hand nicht, und beschleunigte meine Schritte.

»So halten Sie doch noch ein wenig, Doktor Fenwick.«

»Nein, Madame, nein. Fräulein Ashleigh würde auch ohne mich sich schnell wieder erholt haben. Wenn mein Beistand wirklich nöthig ist, dann – – aber verhüte der Himmel, daß je diese Zeit komme. Wir können morgen weiter über sie sprechen.«

Ich war fort – jetzt drunten im Garten unter den duftigen Blumen, jetzt in der Gasse zwischen den hohen Wänden, jetzt in der verlassenen Straße, über die sich das Mondlicht ausgoß wie in jener Winternacht, als ich der Kammer des Todes enteilte. Aber die Straßen nahmen sich nicht mehr unheimlich aus, und der Mond war nicht die Hekate, diese traurige Göttin der Scheu und der Gespenster, sondern die einfache holde Königin des Sternenhimmels, zu deren süßem Antlitz die Liebenden aufblickten, seit sie sich (wenn die Vermuthung der Astronomen richtig ist) von der Erde trennte, um aus der Ferne die Fluth ihrer Meere zu regeln, wie ja auch die Liebe, wenn sie ihren Gegenstand entrückt sieht, noch immer das Herz beherrscht, das, einem geheimnißvollen Gesetz folgend, sehnsüchtig sich ihr zuwendet.


 << zurück weiter >>