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Achtundvierzigstes Kapitel.

Sir Dervals Ueberreste wurden erst, nachdem das Gericht mit seinen Untersuchungen in Betreff des Mordes zum Abschluß gekommen und die öffentliche Meinung befriedigt war, in dem Familien-Mausoleum beigesetzt. Man kann sich denken, daß man diesen Akt erst vornehmen wollte, nachdem die Aufregung sich gelegt hatte, die durch eine so auffallend schreckliche That hervorgerufen worden war, und daß die Bestattung in aller Stille vor sich ging. Neue Gegenstände verdrängten aus dem Geist des Publikums den alten, und in meiner Gegenwart wenigstens wurde aus zarter Rücksicht für den Mann, dessen Name so schmerzlich in die unheimliche Geschichte verflochten gewesen, ein Ereigniß, das in mir voraussichtlich nur peinliche Erinnerungen wecken konnte, nie mehr berührt. Frau Ashleigh besuchte mich häufig in meinem Haus; sie gestand mir ehrlich, Lilian habe über die Auflösung unseres Verlöbnisses noch nicht jenen Schmerz geäußert, der bei der Mutter die Bitte, ich möchte ihre Tochter wieder besuchen, rechtfertigen und mich zu Zurücknahme meines Verzichts veranlassen konnte. Sie sagte, Lilian sei ruhig und nicht gerade traurig; sie spreche weder von mir noch von Margrave, scheine aber stets gleich zerstreut und gedankenvoll zu sein und nehme keinen Antheil an Dingen, die ihr sonst Freude zu machen pflegten – weder an Musik, noch an Büchern oder an jenem Zeitvertreib, den die Frauen Arbeit nennen und der ihnen als Entschuldigung dient, müßig ihren Phantasien nachzuhängen. Sie ging selten aus, nicht einmal in den Garten, und wenn es je geschah, so schienen ihre Augen das Haus, in welchem Margrave gewohnt hatte, und ihre Schritte das Lieblingswinkelchen bei dem Mönchsbrunnen zu vermeiden. Sie konnte stundenlang stumm dasitzen; aber ihr Schweigen schien kaum melancholisch zu sein. Im Uebrigen war ihre Gesundheit besser als je. Gleichwohl ließ sich Frau Ashleigh den Glauben nicht ausreden, Lilian werde früher oder später die alte wieder werden, und bat mich, vorderhand die Welt nicht wissen zu lassen, daß unser Verhältniß abgebrochen sei. »Denn wenn es nicht als aufgelöst, sondern nur als verschoben erscheint,« lautete ihre sehr verständige Bemerkung, »so wird es, im Fall später eine Wiedererneuerung eintritt, zwei Geschichten zu erzählen geben, wo eigentlich gar keine nöthig wäre. Außerdem fürchte ich die Wirkung auf Lilian, wenn ärgerliche Klatschbasen ihr von einer Sache vorschwatzen, die so viel Neugierde zu erregen geeignet ist, wie der Bruch eines Verlöbnisses, an dem unsere Nachbarn im Allgemeinen so viel Interesse genommen haben.«

Ich hatte keinen Grund, nicht auf die Bitte der Frau Ashleigh einzugehen, konnte aber ihre Hoffnungen nicht theilen. Ich fühlte, daß die schönen Aussichten meines Lebens vernichtet waren. Eine Andere konnte ich nie wieder lieben und auch keine Andere ehlichen; deßhalb fügte ich mich in den Gedanken, daß mein Herd einsam bleiben sollte, und freute mich wenigstens darüber, daß Margrave nicht mehr zu den Ashleighs kam; denn er war seitdem nicht mehr in der Stadt erschienen. Wie mir Strahan mittheilte, hielt er sich noch immer in Derval Court auf, wo er in Formans altem Studirzimmer Quartier genommen hatte und sich bald mit Lesen der in der Bibliothek befindlichen alten Bücher und Manuskripte unterhielt (dies freilich nie auf lange), bald wie ein Schulknabe auf den Bäumen herumkletterte oder mit dem Parkwild oder dem Vieh spielte, das sich ganz zahm um ihn her versammelte und ihm aus der Hand fraß. Paßte diese Schilderung auf einen Verbrecher? Aber wenn es mit Sir Philipps Versicherung seine Richtigkeit hatte – wenn der Verbrecher ein Mensch ohne Seele war und dem seelenlosen Menschen das Gewissen abging, so daß er nie durch Reue oder durch die unbestimmte Furcht vor einer künftigen Welt beunruhigt wurde – konnte dann nicht auch der Verbrecher bei all seinen Verschuldungen heiter sein, wie ja auch der weiße Bär, nachdem er einen Menschen verzehrt hat, seine lustigen Sprünge macht? Diese Fragen wollten mir nicht aus dem Kopf trotz meines Entschlusses, die fabersche Deutung als die richtige Lösung alles des Wunderbaren in meiner Geschichte anzunehmen.

Tage vergingen, ohne daß ich etwas von Margrave sah oder hörte. Ich begann halb zu hoffen, er habe in den unsteten und raschen Wechseln seiner Laune, welche seine rastlose Natur charakterisirten, meines Daseins ganz vergessen.

Eines Morgens, als ich früh meine Krankenbesuche antrat, kam mir unerwartet Strahan in den Weg.

»Ich wollte Sie eben aufsuchen,« sagte er, »denn ich habe mir von mehr als einer Person sagen lassen, daß Sie erschöpft und übel aussähen. Ich finde, daß man mich recht berichtet hat – und die Stadt ist jetzt so heiß und ungesund. Sie müssen auf eine Woche oder so zu mir nach Derval Court kommen. Sie können ja jeden Tag in die Stadt fahren und nach Ihren Kranken sehen. Schlagen Sie mir's nicht ab. Margrave, der noch immer bei mir ist, läßt Sie freundlich grüßen und forderte mich auf, Ihnen zu sagen, er bitte Sie, nach dem Haus zu kommen, in welchem auch er ein Gast sei.«

Ich fuhr zusammen. Was hatte die Scin-Läca von mir verlangt und dafür mein Versprechen entgegen genommen? »Wenn Sie nach dem Haus eingeladen werden, in welchem auch ich ein Gast bin, so werden Sie kommen; Sie begegnen mir und unterhalten sich mit mir, wie ein Gast gegen den anderen in dem Haus eines Wirths zu thun pflegt!« War dies wieder eine von den Zufälligkeiten, die mein Verstand einfach als einen Zufall hinnehmen mußte? Bst, bst! Kam ich wieder auf meine Hallucination zurück? Angenommen, daß Faber und der gesunde Verstand Recht hatten, was war dieser Margrave? Ein Mann, gegen dessen Freundschaft, Scharfsinn und Thatkraft ich die tiefsten Verpflichtungen hatte, dessen Thätigkeit ich die Rettung meines Lebens und die Befreiung meiner Ehre von einem schrecklichen Verdacht zuschreiben mußte? »Ich danke Ihnen,« sagte ich zu Strahan; »ich werde kommen, und wenn auch nicht auf eine Woche, so doch jedenfalls auf einen oder zwei Tage.«

»Dies ist recht. Ich will um sechs Uhr mit meinem Wagen bei Ihnen vorfahren. Sie werden doch dann fertig sein?«

»Ja, ich will es so einrichten.«

Auf dem Weg nach Derval Court erzählte mir Strahan viel von Margrave, dessen er, wie es schien, gleichwohl nachgerade müde geworden war.

»Seine Lebhaftigkeit ist zu viel für eine einzige Person,« sagte er. »Keinen Augenblick kann er Ruhe finden, und ebenso wenig vermag er auf eine gelassene Unterhaltung einzugehen. Wie gescheid er auch ist, weiß er mir doch bei dem neuen Haus, das ich bauen will, nicht im Geringsten an die Hand zu gehen. Er hat gar keinen Sinn dafür, und ich glaube, er könnte nicht einmal eine Scheune zu Stande bringen.«

»Ich meinte, Sie hätten nicht Lust, das ganze Haus niederzureißen, sondern wollten sich mit dem Abbruch des älteren Theils begnügen?«

»Es schien mir allerdings anfangs Schade zu sein, ein so schönes Gebäude niederzureißen; aber da das Manuskript, auf das der arme Sir Philipp einen so hohen Werth legte, leider zu verstümmelt sein wird, um die Ausführung seines Wunsches zu ermöglichen, so bin ich der Ansicht, ich müsse wenigstens seinen anderen Grillen gewissenhaft nachkommen. Und zudem – ich weiß nicht – man hört so sonderbare Geräusche in dem alten Haus. Ich glaube nicht an Spukgeschichten; aber doch liegt etwas Beängstigendes in den unheimlichen Tönen mitten in der Nacht, wenn sie auch nur vom Wind oder von Ratten herrühren. Ich erinnere mich noch aus unserer Universitätszeit, daß Sie Geschmack für Architektur besitzen und Plane zeichnen können. Ich möchte Sir Philipps Riß zur Ausführung bringen, nur in kleinerem Maßstab und mit mehr Rücksicht auf die Bequemlichkeit.«

So machte er fort, zufrieden, daß er in mir einen stummen, aufmerksamen Zuhörer fand. Wir erreichten eine Stunde vor Sonnenuntergang das Herrenhaus. Das westliche Licht fiel voll auf die vielen Fenster mit ihren morschen Pfeilerrahmen und ließ den allgemeinen Verfall des Platzes nur um so melancholischer erscheinen.

Es fehlten nur noch einige Minuten bis zur Essenszeit. Ich begab mich unverweilt nach dem für mich bestimmten Zimmer – nicht demjenigen, das ich früher bewohnte. Strahan hatte sich bereits mit neuer Dienerschaft umgeben. Ich freute mich, in dem Bedienten, der mir aufwartete, einen alten Bekannten zu finden. Er hatte, als ich mich in L– – seßhaft machte, in meinem Dienst gestanden und denselben aufgegeben, um zu heirathen. Er und sein Weib befanden sich jetzt in Derval Court. Er sprach, während er meinen Mantelsack auspackte und mir beim Wechseln der Kleider behülflich war, mit Wärme von seinem neuen Herrn und lobte sehr seinen Platz; den Hauptgegenstand seines Gesprächs aber bildete Herr Margrave, den er nicht genug rühmen konnte.

»Solch ein prächtiger junger Herr, wie der erste schöne Tag im Mai!«

Ich traf Margrave und Strahan bereits in dem Besuchzimmer. Der erstere benahm sich bei der Begrüßung so heiter und natürlich wie sonst. Während der Mahlzeit und überhaupt während des ganzen Abends, bis wir uns nach unseren Schlafgemächern zurückzogen, führte er hauptsächlich die Unterhaltung, indem er sehr los mit einander verbundene Reiseabenteuer erzählte, in gutmüthigem Humor über Strahans plötzlich erwachte Baulust scherzte, mich bald nach diesem, bald nach jenem Bekannten fragte, ohne indeß eine Antwort abzuwarten, und von Zeit zu Zeit uns durch einen gleichsam auf Gerathewohl hingeworfenen glänzenden Satz oder eine den abstrakten Wissenschaften oder einem wenig bebauten Wissensfelde entnommene Andeutung in Staunen setzte. Der Effekt war blendend, mußte aber, wie ich wohl begriff, auf die Dauer drückend werden. Die Seele bedarf der Ruhepunkte, braucht Pausen, während welcher sie sich nicht bloß dem Fleisch, sondern auch dem Geist entziehen kann. Der Mensch, wie hoch auch sein Verstand stehen mag, hat Zeiten, in welchen rein geistige Genüsse ihn anwidern und selbst unter seinen originellsten Gedanken, seinen stolzesten Triumphen etwas Abgedroschenes und Gewöhnliches auftaucht, wenn man es vergleicht mit einer von den unbestimmten Hindeutungen auf eine geistige Bestimmung, die nicht im gewöhnlichen Bereich des Verstandes liegen; er kann dann, plötzlich ein Problem angestrengten Denkens oder ein herrliches dichterisches Bild der Phantasie fallen lassend, zerstreut vor sich hinstarren und sich in dem nebligen Träumen ergehen, welches wenig verschieden ist von dem eines stillen, unschuldigen Kindes. Die Seele hat eine lange Strecke zu durchwandeln – von der Zeit durch die Ewigkeit – und braucht daher Haltstationen, Stunden ruhiger Beschaulichkeit. Aber solche Bedürfnisse einer unsterblichen, nicht der Materie angehörigen Wesenheit schienen für Margrave nicht vorhanden zu sein, und was mich betrifft, so brauche ich kaum beizufügen, daß ich gegenwärtige Zeilen nicht zu der Zeit geschrieben haben würde, bei welcher jetzt meine Erzählung angelangt ist.


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